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Zeit und Geschichte

Gestern & Heute: Karl Heinz Bohrer regte auf, aber auch an!

Achim Engelberg
schreibt, kuratiert, gibt heraus
Zum Kurator'innen-Profil
Achim EngelbergFreitag, 06.08.2021

Karl Heinz Bohrer, einer der Großintellektuellen der alten Bundesrepublik, ist tot. Überall gibt es Nachrufe, die changieren zwischen Würdigung und Zwiespalt. Jürgen Kaube, Herausgeber der FAZ, dessen Feuilleton Bohrer einige Jahre leitete, schreibt:

Er war ein Intellektueller, der leicht in Gegensatz zu seiner Umwelt kam. Fast in jeder Lage kultivierte er Unwohlsein. Als Student der Literaturgeschichte war ihm bei der Heidelberger Professorenseligkeit mit Goethe unwohl. Zu allem hatten sie ein Zitat parat, und wenn es keines von Goethe war, dann ein anderes gemütliches, von Gadamer beispielsweise. Nichts Überraschendes, alles schon gesagt. Das war um 1960 herum. Karl Heinz Bohrer pflegte laut seinen Erinnerungen damals schon das Dasein eines Bohemiens, folgte den existenzialistischen Philosophen und betrieb das Studium der frühromantischen Ästhetik, die für ihn maßgeblich blieb. Journalist zu werden schien bei diesem Hunger nach Unerwartetem folgerichtig.

Der Deutschlandfunk bringt gleich mehrere Stimmen unter dem Titel Den Rechten ein Ärgernis, den Linken ein Junkpulver.

Christof Meueler, Feuilletonchef der dezidiert linken Tageszeitung Neues Deutschland, bringt prompt einen Beitrag mit dem sprechenden Titel Gegen das Plumpe und Biedere. Das erinnert wohl nicht zufällig an die Aussage des Kommunisten Stephan Hermlin über Ernst Jünger:

Ein Mann, der einen sehr bedeutenden Stil schreibt, kann nicht mein Feind sein.

Übrigens über Ernst Jünger schrieb Karl Heinz Bohrer eines seiner wohl noch länger wirkenden Bücher.

Das Bild des mit 88 Jahren in London Gestorbenen schwankt noch, also ist es aufschlussreich, einige Seiten im Original zu lesen.

Lange wirkte Karl Heinz Bohrer als Herausgeber des Merkurs. Auf dessen Seite findet man einen zugespitzten dreiteiligen Beitrag Unschuld an die Macht! Eine politische Typologie aus den Jahren 1984/85 über das geistige Klima der Bundesrepublik der 80er Jahre. Im Gespräch mit den gegenwärtigen Herausgebern Christian Demand und Ekkehard Knörer erläutert der Literaturkritiker und Historiker Gustav Seibt, wie dieser Beitrag damals unter Studenten wirkte und warum er heute noch lesenswert ist.

Besonders regte damals seine Kritik der im Besitz der Wahrheit sich wähnenden Linken im dritten Teil an und auf:

Weil der Westen – um bei unseren ästhetischen Kriterien zu bleiben, solange es einen Westen geben wird – orientiert ist an freiheitlichurbanen Traditionen, wie sie von Stadtsymbolen wie London, Paris, Madrid, Rom, Warschau, Amsterdam, Venedig, Florenz, Wien allemal entworfen wurden. Aber Bahro spricht inzwischen mit moralischer Inversion vom »weißen Mann«, ohne daß ihn die Lächerlichkeit dieses Pathos, geschichtsphilosophisch gedacht, überhaupt streifte. Im radikalen Utopismus zwischen Wald und Dorf wird das antizivilisatorische Ressentiment der deutschen guten Hirten wie niemals seit fünfzig Jahren wiederentdeckt. Es ist natürlich ein Widerspruch zwischen Klassen, zugegebenermaßen.

Um mit dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu zu sprechen: Es ist das neue akademische Kleinbürgertum, das mit Wertvorstellungen bricht, die, von einer westeuropäischen politischen Tradition entwickelt, noch immer im Westen herrschen.

Es ist immer gut, Gegenpositionen wahrzunehmen, vor allem, wenn sie sehr gut und scharfsinnig geschrieben sind. Das zersticht jede Blase.

Da bleibt mir nur noch ein "Adieu" von der anderen Seite ihm nachzurufen.

Gestern & Heute: Karl Heinz Bohrer regte auf, aber auch an!

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Kommentare 2
  1. Renate Baumgart
    Renate Baumgart · vor mehr als 3 Jahre

    Danke für das piqd!

    1. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor mehr als 3 Jahre

      Gern geschehen.

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