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Zeit und Geschichte

Gestern & Heute: In der Sprache erkannte er die großen Konflikte

Achim Engelberg
schreibt, kuratiert, gibt heraus
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Achim EngelbergDienstag, 30.04.2024
Es ist nicht Sitte, eine Frau zu heiraten, die vorher ein Verhältnis gehabt hat. Aber es ist Sitte, mit einer Frau ein Verhältnis zu haben, die vorher geheiratet hat.
   Es gibt Schriftsteller, die schon in zwanzig Seiten ausdrücken können, wozu ich manchmal sogar zwei Zeilen brauche.

Diese beiden Aphorismen von Karl Kraus findet man im gerade erschienenen Büchlein Ich mische mich nicht gerne in meine Privatangelegenheiten. Es erschien zum 150. Geburtstag des Klassikers bei Suhrkamp, wo es auch eine Werkausgabe gibt.

Im zum Jubiläum entstandenen Film „Karl Kraus - Die Macht des Wortes“ von Franz Gruber und Susanne Pleisnitzer nähern sich die beiden Filmemacher diesem schwierigen Menschen mit jähen Wendungen und diesem immer noch anregenden Autoren an, der heute wieder und immer noch anecken würde.

Zu Wort kommen Katharina Prager, ausgewiesene Kraus-Expertin und Kraus-Nachlassverwalterin, Isabel Langkabel, begeisterte Kraus-Forscherin, der Zitateforscher und Blogger Gerald Krieghofer, der Kabarettist Hosea Ratschiller, Burgschauspieler Cornelius Obonya um nur einige zu nennen.

Sein Hauptwerk bleibt wohl "Die letzten Tage der Menschheit". Es ist eine „Tragödie in 5 Akten mit Vorspiel und Epilog“. Die 220 dokumentarisch grundierten Szenen entstanden zwischen 1915–1922 als Reaktion auf den Ersten Weltkrieg. Er gestaltete sie – wie er schrieb – mit "apokalyptischer Genauigkeit".

Es ist ein Werk der Weltliteratur, das die Urkatastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts gestaltet, die nicht mehr allein in klassischen Formen dargestellt werden kann.

Im Vorwort pointiert Karl Kraus, warum die Stunde der Dokumentarkunst geschlagen habe:

Die unwahrscheinlichsten Taten, die hier gemeldet werden, sind wirklich geschehen; ich habe gemalt, was sie nur taten.

Die unwahrscheinlichsten Gespräche, die hier geführt werden, sind wörtlich gesprochen worden; die grellsten Erfindungen sind Zitate.

In "Die letzen Tage der Menschheit" setzte sich Karl Kraus über alle dramaturgischen Regeln hinweg. Um zu zeigen, wie sich der Erste Weltkrieg zu einem modernen Inferno entwickelt, läßt er auf den 700 Seiten der Buchausgabe in unzähligen Szenen ein halbes Hundert Personen auftreten. Er brauchte die Episoden seinen Pandämoniums nicht zu erfinden. Die Funkbearbeitung des Hessischen Rundfunks ist gleichzeitig ein Dokument der Hörspielgeschichte. Sie wurde 1947 bei einer Live-Sendung aufgenommen. Regie führte Theodor Steiner, kein Geringerer als Stephan Hermlin erarbeitete die Fassung, Wolfgang Rudolf komponierte.

Wohl noch gewichtiger: Der legendäre viel zu früh verstorbene Helmut Qualtinger gestaltete eine Auswahl des Werks, das 1965 aufgezeichnet worden ist.

Das Besondere: Er stellte alle Rolle selbst dar.

Eigentlich braucht dieses Meisterwerk der Dichtung und der Vortragskunst keine weitere Begründung.

Aber ich empfehle als Ergänzung und Erweiterung einen Essay des Philosophen Jacques Bouveresse. Er schrieb einen in der Le Monde Diplomatique übersetzten Artikel (man kann sich ihn auch vorlesen lassen) über die Verbindungen zwischen Rosa Luxemburg und Karl Kraus.

Dabei kommt er auch auf verblüffend aktuelle Verbindungen, Wechselwirkungen zwischen Mensch und anderen Tieren.

Sein Fazit:

Bei der Beantwortung der Frage, was die Katastrophe des Ersten Weltkriegs möglich machte, müssen die bestimmenden Charakteristika und wesentlichen Faktoren der Gesellschaften, die sie hervorgebracht haben, einbezogen werden: wahl- und maßlose Ausbeutung natürlicher Ressourcen, Gleichgültigkeit gegenüber der Umwelt und den Schäden, die ihr der Mensch mit seiner Gier zufügt, und die fehlende Achtung vor den Tieren; dazu eine bewusste, hartnäckige Risikoblindheit. Das alles geschah und geschieht unter dem Vorwand, die Lebensbedingungen unserer Spezies immer mehr zu optimieren – bis es unmöglich wird, das Leben anderer Spezies und das Leben überhaupt zu erhalten.

Natürlich kann man Kraus auch lesen; ich empfehle als Einstieg die Kurzfassung von "Die letzten Tage der Menschheit".

Und wer nicht aufschreckt bei den Versen im Epilog »Laßt Hosianna erschallen, laßt Hosianna erschallen: / Bomben sind auf den Ölberg gefallen!«, dem ist vielleicht durch die menschliche Sprache nicht mehr zu helfen.

Gestern & Heute: In der Sprache erkannte er die großen Konflikte

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