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Zeit und Geschichte

"Die Zeit der Epidemie ist eine Zeit der Gerüchte" – Altes neu gelesen

Achim Engelberg
schreibt, kuratiert, gibt heraus
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Achim EngelbergDienstag, 07.04.2020
Eigentlich wollte ich so wenig wie möglich Beiträge zu Pest und Cholera, nein: Pest und Corona empfehlen. Die täglichen Sondersendungen verdecken schon viele andere Konflikte, die nun vernachlässigt werden und wahrscheinlich bald kräftig zurückschlagen werden – wie zum Beispiel der Flüchtlingsstau.


Aber dieser Essay von Daniel Graf fasst zusammen, was große Erzählungen der Weltliteratur über Epidemien darstellen und fragen, ob sie uns noch viel zu sagen haben. 

Mehr, als uns lieb ist, antwortet der Autor nach der Lektüre von:

Giovanni Boccaccio: «Das Dekameron»

Albert Camus: «Die Pest»

Daniel Defoe: «Die Pest von London»

Katherine Anne Porter: «Pale Horse, Pale Rider» (Das dunkle Lied in einer alten deutschen Übersetzung)

Susan Sontag: «Krankheit als Metapher & Aids und seine Metaphern»

Die Zeit der Epidemie ist auch eine Zeit der Gerüchte. Und die erste aller Fragen lautet: Woher kommt das? Wo hat die Seuche ihren Ursprung? Oder ungleich problematischer: Wer hat «uns» das gebracht?

Deshalb enthalten viele Texte zum Thema Mutmaßungen, Wahrheitssuchen. Defoes großes Pest-Buch ist ein "Medienroman" aus dem frühen 18. Jahrhundert.

Auch die Situation, dass die Reichen sich auf ihre Güter zurückziehen, ist nicht neu. Pest und Corona zeigen Ungleichheiten drastisch auf:

Die «sieben jungen Damen» und «drei jungen Männer», die sich bei Boccaccio versammeln, wählen die Lösung, die nur den Privilegierten offensteht: Sie weichen aus in die comfort zone, fernab der pestverseuchten Stadt. Das war damals nicht anders als heute: Das Virus, der angebliche Gleichmacher, macht vor allem auch soziale Ungleichheiten sichtbar.

Am Ende des großen Erzählkranzes kommen bei Boccaccio die Reichen nicht nur zur Einsicht, sondern zu einer Umkehr:

Weil sie (die Pest, A. E.) nicht nur die Körper, sondern auch das eigene Wertesystem, die eigene solidarische Mitmenschlichkeit zu infizieren droht. Und sie beschließen, nach langer Diskussion, die Rückkehr in die Stadt.

Mit anderen Worten: Sie machen die Grenzziehung rückgängig. Und korrigieren die eigene Entsolidarisierung.

Wird das wieder so sein? Oder war der Schluss von Boccaccios Erzählungen, die nach dem Schock der Pest im Florenz des Jahres 1348 aufgeschrieben sind, schon damals zu schön, um wahr zu sein?

Besonders wirbt Daniel Graf für «Pale Horse, Pale Rider», ein Kurzroman der neu übersetzt und entdeckt werden sollte. Er gibt Einblicke, beschreibt das szenische Material, zitiert, aber das Ende will er nicht verraten, da Anne Katherine Porter

die höchste Kunst der Dramaturgie beherrscht.

Albert Camus großer Roman «Die Pest» ist wieder in vieler Munde und wird bestens verkauft. Geschrieben ist er angesichts der braunen Pest (!) im besetzten Paris der 1940er Jahre, also in einer Zeit, als die reale Pest fern wie das Mittelalter schien.

Was ist das Besondere dieses Werks?

Aufgebaut wie ein klassisches Drama, ist die Geschichte um Bernard Rieux zugleich eine glänzende Analyse des Ausnahme­zustands. Sie ist von brennender Aktualität.

...

Hellsichtig benennt Camus die allergrößte Gefahr des Ausnahme­zustands: das Absolutwerden der Gegenwart.

Kein solidarisches Miteinander ohne eine Vorstellung von Zukunft. Der Ausnahme­zustand hebt die demokratische Freiheit des Einzelnen und der Gesellschaft vorübergehend auf – und er bedroht sie fundamental durch seine Ausdehnung. Wird der Ausnahme­zustand nicht unmissverständlich temporär begrenzt und geht die klare Perspektivierung auf eine Zukunft nach dem Ausnahme­zustand verloren, wäre dies das Ende des demokratischen Wertesystems.

Bei allem Nachdenken über unsere Lage lehnt der Autor den Irrationalismus ab, der in den Virus eine immanente Botschaft hineindeutet.

Dazu ist der Essay illustriert mit Bildern von Goya bis Ensor.

"Die Zeit der Epidemie ist eine Zeit der Gerüchte" – Altes neu gelesen

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