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Zeit und Geschichte

Die Sowjetunion ist nicht zerfallen, sie zerfällt

Achim Engelberg
schreibt, kuratiert, gibt heraus
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Achim EngelbergDonnerstag, 27.01.2022

Bevor man eine neue Strategie für die Bedrohungen in und aus dem (post)sowjetischen Raum entwickelt, sollte man diesen analysieren.

Die Überschrift dieses piqs verschärft die Grundthese eines augenöffnenden Essay des großen russischen Romancier Sergei Lebedev.

Oft wird die Geschichte der letzten Jahrzehnte so erzählt: die Sowjetunion sei weitgehend friedlich zerfallen - im Gegensatz zu den Kriegen in Jugoslawiens.

Wer aber die Auseinandersetzungen mit zahlreichen Toten betrachtet, Lebedev setzt Schlaglichter, kommt zum Ergebnis: Die sowjetischen Zerfalls- und Aufteilungskriege sind noch nicht zu Ende. In den letzten Jahren gab es neben dem ständigen Sterben in der Ostukraine einen Krieg im Kaukasus und gerade blutige Auseinandersetzungen in Kasachstan.

Die Bilanz der Kriege von 1991 bis heute:

Sie kosteten Hunderttausenden Menschen das Leben, machten Millionen zu Flüchtlingen; zerstörten Städte, zerstörten zwischenstaatliche Beziehungen für Jahrzehnte im Voraus, Gewalt breitete sich aus und führte zu allseitiger Verweigerung von Verantwortung und einer Erschwerung des Übergangs zur Demokratie.

Heute sehnen sich nicht wenige nach der Sowjetunion, die aber nicht wiederhergestellt werden kann. Gut gefällt mir wie Lebedev die großen Bruchlinien beschreibt, etwa das paradoxale Verhältnis von Zeit, Geschichte und Politik im Wandel der Epoche.

Das sowjetische Projekt stieß (in jeder seiner Epochen auf eigene Weise) die Vergangenheit ab und legitimierte sich über die Zukunft, über ein futuristisches, prophetisches Ziel: den Aufbau des Kommunismus.

Die Vergangenheit diente als Erklärung für alles Schlechte und Problematische der sowjetischen Gegenwart, in jedem Abschnitt dieser Gegenwart; in der Zukunft jedoch hatte sich alles Gute, als sei es bereits erreicht, schon vollzogen.

Tatsächlich blieb die Legitimation über die Zukunft (das Wichtigste ereignet sich dort) bis zum Ende der UdSSR erhalten.

Putins Russland hingegen ist zeitlich ganz anders aufgestellt. Es ist ein konservatives Projekt. Die Zukunft wird im Grunde nicht klar angesprochen, sie ist nicht definiert und nicht erwünscht. Die Zukunft ist die Gesamtheit dessen, was nicht eintreten sollte; sie trägt in sich die Zersetzung, die Krankheit des Liberalismus, das Virus der Menschenrechte. Die Zukunft zeigt eigentlich keinerlei positiven Züge, dort will man gar nicht hin, man will nicht in der Zeit leben.

Im Gegenteil, je weiter die Sowjetperiode zurückliegt, umso mehr wird sie als Goldenes Zeitalter betrachtet, als Epoche der großen Siege, als Abschnitt, in dem die Sowjetunion im geopolitischen Spiel sozusagen immer gute Karten hatte; und nicht zufällig bezeichnete Wladimir Putin den Zusammenbruch der UdSSR einmal als „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“.

Bei den Zerfallskriegen Jugoslawiens griff der Westen ein, beendete die Kriege und schuf einen Kalten Frieden: vom erzwungenen Dayton-Frieden 1995 (benannt nach einem Luftwaffenstützpunkt in Ohio) über den Kosovokrieg 1999 bis zu einem teilweise bis heute bestehenden Protektorat.

Bis heute emigrieren viele aus dem Westbalkan.

Aber selbst diese ungenügenden Mittel stehen dem mittlerweile geschwächten Westen in den Weiten des sowjetischen Raums nicht zur Verfügung.

Deshalb bleibt es eine offene Frage, wie man auf weitere Auseinandersetzungen reagiert. Selbst wenn eine Ausweitung der Kampfzone in der Ukraine verhindert wird, der nächste blutige Konflikt kommt bestimmt.

Jede realistische Politik muss bei diesen Tatsachen ansetzen.

Die Sowjetunion ist nicht zerfallen, sie zerfällt

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