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Volk und Wirtschaft

Wie man eine Krise errechnet – die schrumpfende Mittelschicht

Thomas Wahl
Dr. Phil, Dipl. Ing.
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Thomas WahlFreitag, 03.12.2021
"Und ewig schrumpft die Mittelschicht" – so das eine Narrativ. Nein, sie schrumpft nicht, sie schwankt und ist dynamisch. So die andere Erzählung, die letztendlich die gleichen Daten bemüht. Man nehme die jüngste Analyse unter dem Banner der OECD, die durch die Medien rauschte:
Tatsächlich versieht die gerade von der Bertelsmann-Stiftung und der OECD publizierte Untersuchung, die diese dramatische Beschreibung enthalten soll, ihre Zerfallsdiagnose zunächst mit einem Fragezeichen: „Bröckelt die Mittelschicht?“ Vielleicht, weil ihre Befunde ein jüngeres Schrumpfen gar nicht hergeben. 1995, heißt es, gehörten der Mittelschicht 70 Prozent der deutschen Haushalte an. Unter Mittelschichtshaushalten werden dabei solche verstanden, die zwischen drei Vierteln und dem Doppelten des mittleren Nettoeinkommens (für Alleinstehende: 2.000 Euro, für Paare mit zwei Kindern: 4.000 Euro) in Deutschland beziehen. 2018 waren das nur noch 64 Prozent.
Ob das tatsächlich ein besorgniserregender Rückgang ist oder die 70 % ein "Ausreißer" nach oben, das bleibt offen. Die 70 % waren jedenfalls in den Jahren vor 1995 auch nicht das Normal. Zumal die Bertelsmann-Stiftung vor acht Jahren eine Studie – „Mittelschichtsgesellschaft unter Druck?“ – erstellt hatte,
die den höchsten Umfang der Mittelschicht seit der Wiedervereinigung für das Jahr 1997 gegeben sah: mit 65 Prozent und nicht mit 70 wie jetzt. Vertrauenserweckend sind solche Messunterschiede nicht, vor allem wenn an wenigen Prozent so viel hängen soll.
In dieser Vorgängerstudie hatte die deutsche Mittelschicht 2010 einen Anteil von nur 58,5 Prozent an der gesamten Bevölkerung. Was seitdem eine Zunahme von fast sechs Prozentpunkten zu heute bedeuten würde. Man könnte auch sagen: "Lass mich den Vergleichszeitpunkt wählen, und ich errechne dir eine Krise", indem ich zwei Extremjahre vergleiche und die Jahre davor und dazwischen außer Acht lasse. Oder eine andere Definition benutze, ein weiteres Problem.

Man kann auch Analysen anderer Institute zurate ziehen. So etwa das Roman Herzog Institut:
Medienberichten und wissenschaftlichen Studien zufolge nimmt die Mittelschicht relativ ab. Auswertungen der Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) belegen jedoch das Gegenteil: Seit dem Jahr 1993 bleibt der Anteil der Mittelschicht in Deutschland relativ konstant 
Oder man nehme den Verteilungsbericht 2021 der Boekler Stiftung. Dort heißt es z. B.:
Die Mittelschicht in Deutschland ist trotz zunehmender Globalisierung in den Jahren vor der Corona-Krise wirtschaftlich nicht weiter unter Druck geraten. Im Gegenteil: Von 2014 bis 2018 sind Mittelschichts-Einkommen spürbar gewachsen. 
Man könnte also wie J. Kaube ironisch vermuten, 
die Mittelschicht schrumpfe und wachse zugleich, je nachdem, wer wie misst, und je nachdem, welche Jahre um dramatischer Effekte willen zu Eckpunkten des Vergleichs herangezogen werden. 
Nimmt man die o. g. Studie von 2013, in der zum Einkommen als Kriterium der Schichtzugehörigkeit auch der Bildungsanschluss und die Art der beruflichen Arbeit gezählt wurde (was seit den Klassenanalysen des Oxforder Soziologen John H. Goldthorpe, also seit 30 Jahren nicht unüblich ist – so Kolbe):
ergeben sich die folgenden Zahlen für die Mittelschicht. 1985: 61,7 Prozent, 1990: 63,3 Prozent, 1995: 62,5 Prozent, 2000: 64,7 Prozent, 2005: 62,8 Prozent, 2010: 62,3 Prozent.
Also scheint die Mittelschicht zwar zu schwanken, aber nicht nachhaltig zu sinken oder gar zu bröckeln. Wahrscheinlich zeigt sich dann in der Wahrnehmung auch ein psychologischer Effekt, geboren aus den weltanschaulichen Präferenzen. Man sieht und interpretiert die Fakten je nach Weltbild und folgt dann den Schlagworten seiner Peer Group. So wird die "Wunschvorstellung" schnell zum Vater des Gedankens bzw. zum Vater der statistischen Auswertung. Man vertraue daher nie einer Statistik, die man nicht selbst (kritisch) erstellt bzw. genau verglichen hat.

Natürlich gibt es vielfältige und widerstreitende Faktoren, die auf die Zusammensetzung und die Einkommenslagen der Mittelschicht einwirken. Ein irgendwie glatter oder gar idealer Verlauf der Statistiken ist also gar nicht zu erwarten. Jede Krise, jeder Aufschwung verschiebt die Zahlen um einige Prozente. Und trotzdem konstatiert die Bertelsmann Stiftung (Kapitel 5) in ihrer Studie:
Das Gesamtbild, das sich aus den diesem Bericht zugrunde liegenden statistischen Analysen ergibt, ist das einer recht stabilen Mittelschicht in Deutschland. 
Nur findet sich das weder in den Hauptergebnissen wieder und schon gar nicht in den Medien. Ein kritisches Hinterfragen gegenüber solchen "kapitalismuskritischen" Aussagen ist in den meisten Medien eher selten. Muss man da nicht der Meinung von J. Kaube zustimmen, die Auslegung der Studien sei
der Ausdruck einer gewissen Verlogenheit, die mediale Wirksamkeit mehr anzielt als Sachaussagen …?
Leider ist dieser Artikel hinter der Bezahlschranke, kann aber über Blendle relativ preiswert erworben werden.
Wie man eine Krise errechnet – die schrumpfende Mittelschicht
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