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Medien und Gesellschaft

Melisa Erkurt: "Da sieht man, wie verkommen unsere Branche ist"

Simon Hurtz
Journalist, Dozent, SZ, Social Media Watchblog

Mag es, gute Geschichten zu erzählen.
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Mag es gar nicht, in der dritten Person über sich zu schreiben.

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Simon HurtzFreitag, 30.07.2021

Viele Redaktionen sind ein Zerrbild der Gesellschaft. Die meisten Journalistïnnen stammen aus bildungsbürgerlichen Familien, Menschen mit Migrationshintergrund oder aus Arbeiterfamilien sind massiv unterrepräsentiert. Das ist auch ein gesellschaftliches Problem: Diesen Gruppen fehlt dadurch eine mediale Stimme, ihre Perspektive kommt oft zu kurz.

Melisa Erkurt will das ändern. Die Österreicherin gab ihren Job beim ORF auf, um Anfang des Jahres Die Chefredaktion zu gründen. Im Interview mit Catalina Schröder erklärt sie, was es damit auf sich hat: 

Wir sind ein Medium auf Instagram für junge Menschen zwischen 14 und 24 Jahren, das von jungen Menschen gemacht wird. Meine Kollegen sind im Durchschnitt 19 Jahre alt, und wir sind ein sehr diverses Team. Genauso divers wie unsere Gesellschaft.

Beim ORF habe sie gemerkt, dass ihr Publikum mindestens 30 Jahre oder älter sei. Jüngere oder Menschen mit wenig Geld und eingeschränktem Zugang zu Bildung sprächen die Inhalte nicht an. Erkurt glaubt, dass die meisten etablierten Medien kein Interesse haben, das zu ändern:

Die bemühen sich einfach nicht. Kürzlich erschien eine neue Studie vom Wiener Medienhaus, in der es um Diversität in der österreichischen Medienlandschaft geht. Darin steht ganz klar, dass es zu wenige Redakteur*innen mit Migrationsgeschichte gibt. Und dass es kaum Bemühungen gibt, das zu ändern. Das ist ja das eigentlich Frustrierende! Viele Kollegen erkennen nicht, dass sie ihrem Job als Journalist*innen nicht gerecht werden, wenn sie die Gesellschaft nicht abbilden.

Ein wichtiger Grund, warum viele Kinder, deren Eltern wenig Geld oder Wurzeln im Ausland haben, den Weg in den Journalismus scheuen, sei das System der unbezahlten Praktika:

Wenn sie den Aufstieg schaffen, dann nehmen sie keinen Job an, der schlecht bezahlt ist. Wenn sie eine gute Schulbildung haben, vielleicht sogar an der Uni waren, dann nehmen sie im Anschluss kein unbezahltes Praktikum an. Das kann sich aus diesen Schichten kaum jemand leisten.

Ich kann das aus eigener Erfahrung bestätigen: Während meiner Zeit auf der Journalistenschule in München und den anschließenden Praktika haben mich meine Eltern finanziell unterstützt. Vermutlich wäre es auch ohne diese Hilfe gegangen, aber ich weiß nicht, ob ich mich getraut hätte. Ich hätte mich wohl für ein Studium entschieden, dass ein ordentliches Einstiegsgehalt und eine Festanstellung verspricht.

Die Chefredaktion zahlt ihren Praktikantïnnen 700 Euro. Das klingt überschaubar, ist im Vergleich zum Rest der Branche aber mehr als fair:

Ich fand es aber schockierend, dass bei ganz vielen Bewerbungsgesprächen, die ich hatte, viele überrascht waren, dass sie überhaupt bezahlt werden und gesagt haben: Ich hätte das auch gratis gemacht. Da sieht man, wie verkommen unsere Branche ist.

Erkurt spricht in dem Interview nicht nur über mangelnde Diversität und prekäre Bezahlung, sondern auch über ihren eigenen Weg in den Journalismus, Mentoring-Programme für Kinder aus Migrantenfamilien und die schwierige Frage der Finanzierung. Außerdem sagt sie Dinge, die sich etliche etablierte Medien genau anhören sollten:

Man muss unbedingt die Zielgruppe selber im Team haben. Es reicht nicht, wenn 40-jährige Redakteur*innen an etwas rumwerkeln, es ein halbes Jahr später rausbringen, und dann ist es schon wieder überholt. Die digitalen Formate wandeln sich einfach so schnell. Instagram kann in einem halben Jahr schon wieder irrelevant sein. Ganz wichtig finde ich auch, Dinge anders zu machen: Man kann nichts Neues kreieren, wenn man alles immer wie bisher macht.
Melisa Erkurt: "Da sieht man, wie verkommen unsere Branche ist"

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Kommentare 4
  1. Stefan Amrein
    Stefan Amrein · vor mehr als 3 Jahre

    Werden Millionäre auch abgebildet? Und wie siehts mit Randständigen aus? Muss heute jeder und jede irgendwo abgebildet sein? Falls ja, wie zwingt man Migrantinnen und Migranten dazu, den Journalistenberuf zu erlernen? Wie zwingt man Frauen dazu, auf dem Bau eine Arbeit zu finden (stark Männerdominiert). Ist es der Natur nicht schlicht egal, wer was wo macht? Der Natur ist es ja auch egal, ob ein Mensch homosexuell ist oder nicht. Es sind nur die Ideologien der Menschen, die gegen die Natur kämpfen. Und bevor man jetzt alle Menschengruppen zwingt einen Job anzunehmen nur damit jemand repräsentiert ist, wäre es nicht einfacher, wenn Journalistinnen und Journalisten nicht für sich und ihre Ideologie, sondern für die verschiedenen Menschengruppen schreiben würden. Vielleicht wäre das ein Anfang.

    1. Maximilian Rosch
      Maximilian Rosch · vor mehr als 3 Jahre

      Das was du am Ende schreibst, spricht Melisa Erkurt doch ganz konkret an: "Viele Kollegen erkennen nicht, dass sie ihrem Job als Journalist*innen nicht gerecht werden, wenn sie die Gesellschaft nicht abbilden." Das Zitat findet sich auch im piq wieder.
      Woraus liest du einen Zwang? Ich verstehe da eher Chancengleichheit. Jemand mit sozialem Netz kann es sich leisten, in einer Branche zu arbeiten, deren Berufseinstieg oft mehrere unbezahlte Praktika erfordert. Für Menschen ohne dieses Netz, etwa die finanzielle Unterstützung durch die Eltern ist das oft bzw. ohne Förderung gar keine Option.

  2. Der Barde Ralph
    Der Barde Ralph · vor mehr als 3 Jahre

    Ein sehr erstaunlicher, sehr guter Text, der Zusammenhänge aufzeigt, die ich so noch nicht wahrgenommen habe

  3. Cornelia Gliem
    Cornelia Gliem · vor mehr als 3 Jahre

    es ist oft gar nicht möglich "alles" abzubilden (zb wollen manche Gruppen auch nicht) - aber mehr als jetzt sicher. Das sehe ich auch so.
    Migration und 'Klasse' und Alter ok.
    Allerdings ist es etwas verkürzt zu sagen: Zielgruppe auch "Zielende". ein Hauptmerkmal von Literatur und von Texten besteht ja gerade darin sich in andere hineinzuversetzen. im Grunde sogar ist das basis von Gesellschaft. Insofern ist es uns durchaus möglich über und für jemanden zu schreiben mit dem wir nicht gleich sind.

    diesem Idealbild kommt man aber näher durch Feedback - und da hilft Diversität im Produktionsprozess sehr.

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