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Kurator'in für: Technologie und Gesellschaft Medien und Gesellschaft Klima und Wandel
Irgendwas mit Medien seit 1996, Typograph, Grafiker, Blogger. Ask me anything.
Joseph Bernstein in einem sehr schönen Artikel im Harpers Magazine über oberflächliche Plattform-Kritik, die Selbstbeschreibungen der Internet-Konzerne um ihre angeblichen Manipulationskräfte reproduziert und damit letztlich ihr Geschäftsmodell stärkt.
Behold, the platforms and their most prominent critics both proclaim: hundreds of millions of Americans in an endless grid, ready for manipulation, ready for activation. Want to change an output — say, an insurrection, or a culture of vaccine skepticism? Change your input. Want to solve the “crisis of faith in key institutions” and the “loss of faith in evidence-based reality”? Adopt a better content-moderation policy. The fix, you see, has something to do with the algorithm.
Seit einigen Jahren verfolge ich intensiv die Berichterstattung über die gesellschaftlichen Auswirkungen von sozialen Medien und ich glaube nicht an eine maßgebliche Relevanz der Geschäftsmodelle für die Effekte, die wir sehen. Wenn Facebook heute vom Kartellamt aufgeteilt würde oder wie durch Zauberei verschwände, wenn man alle Algorithmen löschen und auf manuelle Sharing-Mechanismen umstellen würde, wenn man ausschließlich auf offene Plattformen mit den sichersten Privacy-Einstellungen setzen würde – es gäbe immer noch das Phänomen Qanon und die Querdenker, es gäbe immer noch viralen Hass im Netz und Teenager wären auf den Plattformen immer noch einem immensen sozialen Druck ausgesetzt, den vorherige Generationen nicht kannten, alles aus dem einfachen Grund, weil Netzwerk-Effekte skalieren mögen, unsere Psychologie aber nicht.
Bernsteins Text verfolgt unsere moderne Tech-Kritik bis hin zu Werbestrategien aus Wahlkämpfen der 50er-Jahre zurück, als dem damals neuen Medium Fernsehen mythische Manipulationskräfte zugerechnet wurden. Die neue Tech-Kritik transportiert erneut den PR-Voodoo der Plattformen und den Glauben an solche Superkräfte, die sich die Werbeindustrie vor allem selbst zuschreibt, für die es bis heute aber keine Belege gibt. Sicher haben die Russen in der US-Wahl 2016 eine Menge hyperpartisaner Facebook-Anzeigen gekauft und sicher hat Cambridge Analytica auf Mikro-Zielgruppen zugeschnittene Brexit-Ads geschaltet, wir haben aber keinerlei Belege über die tatsächliche Wirksamkeit dieser Strategie. Und, als persönliche Anmerkung am Rande, Parteiwerbung in sozialen Medien ist nicht meine Top-Priorität, sondern die Dinge, die wir uns gegenseitig antun können mit demokratisierten digitalen Technologien.
Deepfakes sind eine nette Technologie, bis jemand den Open-Source-Code dazu benutzt, um mithilfe von Bildern von Social-Media-Profilen von Frauen Pornos zu produzieren. Und Social Media ist eine nette Technologie, bis wir sie dazu benutzen, um uns zu stalken und Menschenjagden zu koordinieren. Instagram ist eine nette Technologie, bis sie Körperdysmorphie durch exzessive soziale Vergleiche erzeugt.
Empörungs-Medien basieren oft auf Übertreibung und boulevardesken Clickbait-Strategien und die schlimmsten davon beuten unsere sensationalistische Lust am Thrill aus und das tun sie, weil sie um Aufmerksamkeit konkurrieren. Wir alle sind Teil dieser Aufmerksamkeitsökonomie und sie wurde nicht von Mark Zuckerberg erfunden oder durch soziale Medien installiert, sie ist das Ergebnis der Demokratisierung der Publishing-Produktionsmittel.
Diese Dinge haben gar nichts mit Algorithmen und Plattformen oder dem Kapitalismus zu tun, aber alles mit Access und Openness, die immer mehr Leute sichtbar machen. Der Zugang zu den demokratisierten Medien-Tools und die dadurch erhöhte Sichtbarkeit versetzt uns alle zurück auf den Schulhof mit seinen Wettbewerben um Popularität und den oftmals unausgesprochenen sozialen Regeln, nur in einem globalen Maßstab, on a massive scale, ausgestattet mit lichtschnellen Gossip-Tools. Kein Algorithmus-Fix wird das ändern.
Ich denke über diese Dinge nicht in Kategorien wie "gut" oder "schlecht", und ich weiß keine Lösung für diese Probleme. Aber wir sind Menschen und wir werden uns anpassen. Das immerhin weiß ich.
Quelle: Joseph Bernstein Bild: Dan Bejar EN harpers.org
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Danke die umfassende Kommentierung. Gern möchte ich auf eine Studie aufmerksam machen, die im März 2020 veröffentlicht wurde.
https://pubs.aeaweb.or...
Darin wird ein Experiment beschrieben, bei dem Probanden Facebook einen Monat lang nicht mehr nutzten und dann zu ihren Ansichten befragt wurden. Die Forscher fanden heraus, dass die Abwesenheit von der Plattform die Polarisierung der Ansichten zu politischen Themen signifikant reduzierte. Die Spaltung aufgrund der Parteizugehörigkeit verringerte sich hingegen nicht. Das stimmt mit der vermuteten Ansicht überein, dass die Menschen politische Inhalte in den sozialen Medien sehen, die sie eher verärgert und wütend auf die andere Seite machen. Folge könnte sein, dass sie dann extremere Ansichten zu bestimmten Themen haben.