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Krieg in der Ukraine – Folgen für die Geschichtswissenschaft

Lutz Müller
Diplomökonom

Geboren 1956. Längste Schulzeit in Döbeln/Sachsen. Statistikstudium in Odessa. Tätigkeiten für verschiedene statistische Institutionen im In- und Ausland, Schwerpunkt Wirtschaftsstatistik und Beratung im Transformationsprozess. Un-Ruhestand in Berlin.
Kontakt: [email protected]

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Lutz MüllerSamstag, 11.03.2023

Klaus Gestwa leitet das Institut für Osteuropäische Geschichte an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Über viele Jahre forschte er gemeinsam sowohl mit russischen als auch ukrainischen Kolleg*innen. Noch bis 2019 bereiste er die Länder und pflegte auch während der Pandemie seine Netzwerke, die nach Kriegsbeginn zusammenbrachen.

Er gehört zu denjenigen, die im Angesicht der russischen Kriegsvorbereitungen eine Invasion in der Ukraine erwartet hatten, welche aber dennoch wie ein Schock wirkte. Das Institut führte bereits am nächsten Abend gemeinsam mit dem Slawischen Seminar an der Universität und mit Heidelberger Kolleg*innen eine Zoom-Veranstaltung durch, die enormen Zulauf aus ganz Deutschland erfuhr. In der hochemotionalen Diskussion beeindruckte vor allem die von den Ukrainern angesprochene große Wehrbereitschaft ihrer Heimat. 

Bereits am zweiten Kriegstag erschien von Klaus Gestwa „Krieg in Europa! Was treibt Putin? Historisch-politische Hintergründe des russischen Überfalls auf die Ukraine“.


Das Portal Militärgeschichte veröffentlichte ein Interview mit dem Historiker. Es geht um einen ganz anderen Aspekt des Krieges in der Ukraine, der in der öffentlichen und politischen Berichterstattung kaum im Fokus steht: die unmittelbaren und längerfristigen Auswirkungen des Krieges auf die Osteuropäische Geschichte als akademische Subdisziplin.

Gestwa spricht über anregende Diskussionen, über unkomplizierte Förderprogramme für geflüchtete Kolleg*innen sowohl aus der Ukraine als auch aus Russland und Belarus, über die Kriegsauswirkungen auf Lehre und Forschung.

Zu denjenigen, die sich vom russischen Hyperpatriotismus haben anstecken lassen, sind wir schon 2014 nach der Krim-Annexion auf Distanz gegangen. Das hat zur Folge, dass wir jetzt keine abstrusen Diskussionen mit Putins nicht gerade kleinen propagandistisch narkotisierten Hilfstruppen mehr führen müssen.

Dass wohlbegründete Befürchtungen keinen ausreichenden Einfluss auf Öffentlichkeit und Politik nahmen, könne nicht allein den Medien und der Politik zugeschoben werden:

Wir haben Gabriele Krone-Schmalz, Matthias Platzeck und anderen Putin-Naivlingen nicht energisch genug öffentlich widersprochen und es uns vielleicht hinter den medial präsenten historischen Warnern wie Karl Schlögel und Timothy Snyder in unserem Elfenbeinturm und unserer akademischen Blase bequem gemacht.

Zu beiden Historikern wurde wiederholt gepiqt, zuletzt von Dirk Liesemer, wo es in der Diskussion auch einen Hinweis auf ein aktuelles SPIEGEL-Interview mit Timothy Snyder gibt.

Kurze Medienformate findet Gestwa ...

mitunter befremdlich, weil komplexe Sachverhalte auf knappe Statements heruntergedampft werden müssen.

Aber dabei belässt er es nicht, sondern behebt dieses Defizit mit einem Vortrag:  Thesencheck: Diese 8 Behauptungen über den Krieg in der Ukraine sind falsch“, sehr hörenswert (46 min).

Mit aller Nüchternheit greift er historische und aktuelle Tatsachen auf, die weit verbreitete Behauptungen widerlegen.
- Hinweis: Im Video ist ein Versprecher als Text hinterlegt – nicht 150 Krimtataren wurden unter Stalin deportiert, sondern mehr als 150.000 (falls jemand nur auf die Audiowiedergabe des Vortrags zugreift).

Zu den Fakten kann ich von meiner Warte aus noch einige wenige statistische Daten hinzufügen. Die Autonome Republik Krim, Sewastopol sowie die Regionen Donezk und Luhansk hatten 2013 laut Statistikamt Ukrstat einen Anteil von knapp 20 Prozent an der Bevölkerung der Ukraine insgesamt. Das regionale Bruttoinlandsprodukt betrug mehr als 18 Prozent des nationalen Wertes; dieser Anteil war im Vergleich zu 2004 bereits um
3 Prozentpunkte gesunken. 2013 wurde allein im Donbass
14,5 Prozent der ukrainischen Wirtschaftsleistung erzeugt.

Gestwa erwähnt die Schwerindustrie des Donbass. In Donezk lernte ich in den 1970ern das Stahlwerk Donezkstal und ein Steinkohlebergwerk kennen. Es war schon eine Riesen-Dimension, an die ich mich nach vier Jahrzehnten bei einem Betriebsausflug zum Essener Zollverein erinnerte. Die trockenen Zahlen zeigen nur zu einem Teil die ökonomische Bedeutung. Die Produkte des Donbass sind für den entwickelten Maschinenbau und andere Wirtschaftszweige essentiell. Ein geschlossener, funktionsfähiger Wirtschaftsraum ist für den ukrainischen Nationalstaat unabdingbar. Umso mehr verwundert, wie immer wieder manche Friedenstauben Ideen ins Spiel bringen, die Ukraine solle doch Krim und Donbass opfern – für einen Frieden, der jedweder Nachhaltigkeit entbehrt.

Krieg in der Ukraine – Folgen für die Geschichtswissenschaft

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Kommentare 1
  1. Achim Engelberg
    Achim Engelberg · vor fast 2 Jahre

    Aufschlussreich.

    Es war, zumindest nach meiner Beobachtung, dass Einschränkungen in den Archiven zunehmend eine Rolle spielten. Nun sind sie zu und erst nach dem Krieg besteht Hoffnung.

    Allerdings gibt es auch eine akademische Emigration aus Russland. Hier sind Fellowships dringend gesucht, da man selbst nach einem anerkannten Asyl, nicht einfach an Konferenzen im Ausland teilnehmen kann.

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