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Jochen Schmidt zählte 1999 zu den Mitbegründern der Berliner Lesebühne "Chaussee der Enthusiasten", bei der er bis 2017 wöchentlich auftrat und neue Texte las. Er veröffentlichte Erzählungen ("Triumphgemüse", "Seine großen Erfolge", "Meine wichtigsten Körperfunktionen", "Weltall. Erde. Mensch", "Der Wächter von Pankow"), Romane ("Müller haut uns raus", "Schneckenmühle", "Zuckersand"), Reiseliteratur ("Gebrauchsanweisung für die Bretagne", "Gebrauchsanweisung für Rumänien", "Gebrauchsanweisung für Ostdeutschland"), eine "Gebrauchsanweisung fürs Laufen" und "Schmidt liest Proust", das Tagebuch eines Lektürejahrs. Mit der Künstlerin Line Hoven arbeitete er für "Dudenbrooks", "Schmythologie" und "Paargespräche" zusammen. Gemeinsam mit David Wagner schrieb er die deutsch-deutsche Kindheitserkundung "Drüben und drüben". Zuletzt erschien der Roman "Ein Auftrag für Otto Kwant".
In diesem Jahr wird Werner Heiduczek 90 Jahre alt und ich lese endlich „Tod am Meer" - seinen berühmten Geheimtipp-Roman - der 1977 beim Mitteldeutschen Verlag Halle erschienen ist. Damals in der Parteipresse fertiggemacht wurde und auf Intervention des sowjetischen Botschafters nach der zweiten Auflage nicht weiter vertrieben werden durfte — in der DDR die beste Werbung für ein Buch. Der Autor hat zwar 1999 das Bundesverdienstkreuz bekommen, seine vielen Bücher für Kinder und Erwachsene findet man heute aber eher in Antiquariaten. Der Literaturbetrieb geht sehr unterschiedlich mit unseren alternden Autoren um: Neue Bücher von den einen werden regelmäßig und umfassend besprochen, die anderen sind schlicht vergessen. Lebt dieser Roman noch? Heute, wo die Andeutung von Vergewaltigungen durch russische Soldaten kein Grund mehr sein dürfte, ein Buch zu verbieten oder zu lesen? Seite für Seite staunt man, dass so ein Buch damals überhaupt erscheinen durfte! Denn der Held kommt nicht aus dem luftleeren Raum oder aus dem kommunistischen Widerstand, er ist auch kein vom Krieg geläuterter Gefreiter wie Werner Holt, dessen Lebensgeschichte für Generationen Schullektüre war. Sondern ein um Antworten ringender, in vieler Weise gescheiterter Künstler, dessen Biographie eine Ruine ist, und gerade deshalb ein so faszinierender Stoff. Wir erfahren sie aus seinem eigenen Mund, denn der Filmszenarist Jablonski liegt in Burgas am Schwarzen Meer im Krankenhaus und liefert seinem bulgarischen Zimmernachbarn eine lange Lebensbeichte, bevor er sterben wird. Was er in seinen ersten 23 Lebensjahren erlebt hat, also einem Alter, in dem man heute studiert oder Praktika macht, ist haarsträubend: Luftwaffenhelfergeneration (an Hitlers Geburtstag gab es Schokolade und Rotwein), derbe Frauengeschichten, Verrohung durch den Dienst (sie wollen zu den „schwarzen Uniformen"). Er landet in der Armee Wenk, die Berlin noch kurz vor dem Kriegsende von Südwesten freikämpfen sollte. Amerikanische Kriegsgefangenschaft, Gewalt, Vergewaltigungen durch Russen („Mit dem, was in jener Nacht und am folgenden Morgen auf diesem Bauernhof geschah, bin ich all die Jahre nicht fertig geworden.") Er demontiert in einer Brigade für die Russen Bahngleise. Neulehrerlehrgang. „Der Mathematiklehrer hieß Kreis. Er war stolz auf seinen Namen, denn er sah darin eine Bestätigung für die richtige Wahl seines Berufes." Typen, mit denen in der DDR jeder zu tun hatte, die aber in der Kunst selten thematisiert wurden, treten auf, z.B. eine hundertfünfzigprozentige Dozentin: „Sagte jemand, er sei als Soldat in Russland gewesen, korrigierte sie sofort, er hätte als Angehöriger der faschistischen Wehrmacht die Sowjetunion überfallen." Huren und Suff im Uranbergbau. Die ideologischen Kämpfe im Land. Es war keineswegs so „wie es heute manchmal Schülern und Studenten gelehrt wird, dass eine überwältigende Mehrheit der SPD-Mitglieder der Vereinigung begeistert zustimmt". Jablonski trägt immer noch sein Wehrmachtshemd und wagt nicht, es zu waschen, aus Angst, es könnte dabei auseinanderfallen. Pädagogik-Studium in Halle. Zeitweise ist er verführt vom Denken des „Georgiers", das ihm klarer vorkommt, als das von Kant. Ein Genosse nimmt ihn unter seine Fittiche, bis er ihm das Parteibuch vor die Füße wirft. Ein schlimmer Frevel: „Viele Genossinnen trugen damals das Dokument zwischen den Brüsten, denn wer es verlor, wurde behandelt wie jener Mann im Märchen, der seinen Schatten dem Teufel vermacht." Ein Ritt durch die Geschichte des 20.Jahrhunderts, in einem Alter, in dem man eigentlich schon genug mit einem quälenden Verlangen nach Leben zu tun hat: „Ich würde fixen, lebte ich drüben, und ich würde in der Gosse enden. Ich bin so einer." Die großen - in der offiziellen DDR-Geschichtsschreibung ausgesparten Ereignisse - kommen alle vor. Der 17.Juni, aber auch die „Auseinandersetzung um die Junge Gemeinde", also der gewaltsame Versuch der Partei, die Jugendarbeit zu monopolisieren. Hier der Genosse: „Lenin nannte er nie, ohne zugleich Stalin zu erwähnen, dessen sprachtheoretisches Heftchen damals zum Standardwerk unserer Philosophen, Philologen, Pädagogen, ja selbst der Hebammen und Zahnärzte erklärt wurde." Dort ein Pfarrer, der erfolgreich um einen Raum in der Schule für seinen Religionsunterricht kämpft. Als Mitglied des Elternbeirats der Schule hängt er Breughels „Zug der Blinden" neben Marx, der den Zug damit anführt, was man damals sofort zu deuten wusste. Jablonski schreibt Szenarien. Er will über die wirklichen Menschen ganz unten schreiben und mit ihnen leben (die Konsequenz aus dem „Bitterfelder Weg", der nicht selten nach hinten losging, weil er die Künstler mit der Realität in der Produktion vertraut machte). Z.B. „Schippenschiß", der „war Anlagenfahrer, davor Kulturpalastdirektor, davor Aluminiumwerker, davor Heizer auf einer Lok und in dem Wirrwarr seiner Entwicklung auch noch Nationalpreisträger. Ein Gefeierter und ein Geprügelter. Genau der Mann, den ich für mein Filmszenarium suchte." Schippenschiß, der seinen verhassten Spitznamen loswerden will, aber das wäre ihm selbst als Minister nicht gelungen. „Während seiner Zeit auf einer Lok fragte ihn jemand: 'Was machst du denn, wenn's dich ankommt? Du kannst doch nicht den Hintern in den Wind hängen?' Hutkessel antwortete treuherzig: 'Ich scheiß auf die Schuppe, und rein ins Feuerloch.' Seit dem Tag hieß Willi Hutkessel 'Schippenschiß'." Schippenschiß war Brigadier einer Brigade aus ehemaligen Sträflingen, „Arbeitsbummelanten", Säufern, die er zur Planübererfüllung bringen sollte — was auch gelingt, Nationalpreis. Später wird der Brigadier und dreifache Aktivist wegen Betrugs eingesperrt. „Es war eine wilde Zeit, Bai Dimiter. Noch heute wird erzählt, im Schuppen hätten alle einen schwarzen Binder getragen, als der Brigadier verhaftet worden war. Jutta soll einen Salome-Tanz aufgeführt haben, und als der siebte Schleier fiel, hätten die Kumpel geweint und die Internationale gesungen." Solche Geschichten hörte man damals eigentlich nicht aus den Gründerjahren der DDR. Die im Nachhinein heroisierte Aufbauzeit der Republik - mit dem vorbildlichen Personal aus Arbeitern, Bauern und Ingenieuren, wie man es von zahlreichen Wandbildern und Skulpturen aus dieser Zeit kannte - sah anders aus.
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