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Jochen Schmidt zählte 1999 zu den Mitbegründern der Berliner Lesebühne "Chaussee der Enthusiasten", bei der er bis 2017 wöchentlich auftrat und neue Texte las. Er veröffentlichte Erzählungen ("Triumphgemüse", "Seine großen Erfolge", "Meine wichtigsten Körperfunktionen", "Weltall. Erde. Mensch", "Der Wächter von Pankow"), Romane ("Müller haut uns raus", "Schneckenmühle", "Zuckersand"), Reiseliteratur ("Gebrauchsanweisung für die Bretagne", "Gebrauchsanweisung für Rumänien", "Gebrauchsanweisung für Ostdeutschland"), eine "Gebrauchsanweisung fürs Laufen" und "Schmidt liest Proust", das Tagebuch eines Lektürejahrs. Mit der Künstlerin Line Hoven arbeitete er für "Dudenbrooks", "Schmythologie" und "Paargespräche" zusammen. Gemeinsam mit David Wagner schrieb er die deutsch-deutsche Kindheitserkundung "Drüben und drüben". Zuletzt erschien der Roman "Ein Auftrag für Otto Kwant".
Reisen nach Frankreich sind für mich deshalb so toll (und teuer), weil ich immer die Comicläden nach Neuerscheinungen absuche. Da das nur alle paar Jahre passiert, haben meine Lieblingsautoren in der Zwischenzeit meistens jeder mehrere neue Alben veröffentlicht (Lewis Trondheim sogar mindestens fünf), und es sind neue Autoren dazugekommen. Comics haben den Vorteil, daß man sofort sieht, ob einem der Zeichenstil zusagt, man muß nicht lange probelesen. Was bei "L'Association" erscheint, kann man aber auch fast schon auf Verdacht kaufen. Mich begeistert an Comics die direkte, verspielte, gegenwärtige, selbstreferentielle, schnelle, witzige Erzählweise, die mir in vielen Fällen näher an der Gegenwart scheint, als es Romanen möglich ist. Ich mag vor allem autobiogaphische Comics, weil sie meine Neugier auf fremde Existenzen in anderen Ländern befriedigt. Aleksandar Zografs Comic-Kolumnensammlung "Vestiges du monde" habe ich gekauft, weil ich vor Jahren sein Buch "Bulletins from Serbia" gelesen habe, das E-Mails enthält, die er während der NATO-Bombardements 1999 an Freunde in aller Welt geschrieben hat. Er lebt in einer kleinen Stadt bei Belgrad, die durch eine Öl-Raffinerie als Ziel besonders gefährdet war. Der NATO sind ja irgendwann die Ziele ausgegangen, so daß schon Müllkippen bombardiert wurden. Es ist seltsam, die Berichte eines Comickünstlers über so ein Ereignis zu lesen, weil das die Sache noch surrealer macht. Junge Nonkonformisten, die kulturell zu einer weltweit vernetzten Szene gehören, stellt die Propaganda als Kriegsziele eher nicht vor. Man erfährt bei Zograf, daß die Hühner in Serbien kleinere Eier legten, weil sie von den Bombenangriffen irritiert waren. So unjournalismoide Details will ich lesen. In "Vestiges du monde" entdeckt man dann einen wahren grafischen Künstler. Die Serie heißt so, weil Zograf ein passionierter Flohmarktgänger ist und dort nach Schriftstücken aus der Vergangenheit sucht, die belegen, wie wenig die Geschichtsschreibung von dem, was gewesen ist, eigentlich festhält. Denn er stößt immer wieder auf die kuriosesten Publikationen, Broschüren, Bücher, die geheimnisvolle historische Randerscheinungen erzählen, von denen man noch nie gehört hat. Diese Geschichten illustriert Zograf dann auf jeweils zwei Seiten. Z.B. entdeckt er eine Broschüre "100 Spiele für jeden", die in Konzentrationslagern verteilt wurde, als Anregung für die Häftlinge. Eine Postkarte, die Alexis, den Akrobaten zeigt, der vor dem Krieg mit den Zähnen an einem Seil hängend von einem Flugzeug durch die Luft getragen wurde. Eine Zeitschrift von 1963 mit einem Bericht über damals populäre Puppen, mit denen die ersten Fernseher dekoriert wurden. Zograf interessiert sich besonders für weniger bekannte, exzentrische Künstler. Er sammelt auf Reisen abseitige Details, die in fremden Städten oft die eigentlichen Sehenswürdigkeiten sind, wenn man nicht so auf Sightseeing steht. Z.B. liest er im Westen immer sehr genau die Postwurfsendungen, die für kuriose Produkte werben - da man bei uns ja schon alles habe -, was den Irrsinn unserer Konsumwelt illustriert: eine Schildkröte zum Füße abtreten, eine Taschenlampe, die auf Knopfdruck ein Hundebellen ertönen läßt (und zur Steigerung eine Polizeisirene). Er freut sich an Sammlerstücken, wie einer Reisebürste für den Schnurrbart oder einer Kloschüssel "Niagara". In Bukarest besucht er eine Ausstellung mit Ceauşescu gewidmeten Kunstwerken, besonders beeindruckt ihn ein Bild, auf dem Fürst Stefan cel Mare den Cauşescus von einem Bild im Bild aus zuprostet. Rätselhaft ist auch ein Ölgemälde, auf dem Ceauşescu und seine Frau Elena schweigend vor einem Haufen erlegter Tiere stehen, Nicolae richtet den Strahl seiner Taschenlampe auf das Wild. Besonders beneide ich Aleksandar Zograf übrigens darum, daß er, wie er schreibt, in Belgrad Jonathan Richman begegnet ist. Er hat ihm erzählt, daß der lethargische Papagei seiner Freundin nur zum Leben erwache, wenn er Jonathan Richmans Song "Kwatifeng" höre. Mit Jonathan Richman, einem der größten Songschreiber unserer Zeit, durch Belgrad zu spazieren! Als deutscher Autor, aus dessen Sprache wenig übersetzt wird, kann man sich manchmal isolierter fühlen als ein Underground-Comickünstler aus einer serbischen Kleinstadt. Aber das ist ja eigentlich auch eine schöne Erkenntnis.
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