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Jochen Schmidt zählte 1999 zu den Mitbegründern der Berliner Lesebühne "Chaussee der Enthusiasten", bei der er bis 2017 wöchentlich auftrat und neue Texte las. Er veröffentlichte Erzählungen ("Triumphgemüse", "Seine großen Erfolge", "Meine wichtigsten Körperfunktionen", "Weltall. Erde. Mensch", "Der Wächter von Pankow"), Romane ("Müller haut uns raus", "Schneckenmühle", "Zuckersand"), Reiseliteratur ("Gebrauchsanweisung für die Bretagne", "Gebrauchsanweisung für Rumänien", "Gebrauchsanweisung für Ostdeutschland"), eine "Gebrauchsanweisung fürs Laufen" und "Schmidt liest Proust", das Tagebuch eines Lektürejahrs. Mit der Künstlerin Line Hoven arbeitete er für "Dudenbrooks", "Schmythologie" und "Paargespräche" zusammen. Gemeinsam mit David Wagner schrieb er die deutsch-deutsche Kindheitserkundung "Drüben und drüben". Zuletzt erschien der Roman "Ein Auftrag für Otto Kwant".
Seltsam, wenn man so alt wird, dass Dinge, die man direkt miterlebt hat, schon Thema der Geschichtsschreibung sind. Für einen selbst ist das ja noch längst nicht Geschichte, sondern durchaus noch Gegenwart, so wie die eigene Kindheit immer Gegenwart bleibt. Man kann dann nachlesen, wie die Ereignisse sich damals entwickelt haben, was die Hintergründe waren, und dabei gleicht man ab, ob das zu den eigenen Erinnerungen passt. Am Ende weiß man nicht mehr, ob man seinen Kindern von seinen Erfahrungen erzählt oder von dem, was man später dazugelernt hat (und was davon besser ist). Erschwerend kommt hinzu, dass ich im Herbst '89 18 Jahre alt war und meine politische Bildung doch sehr wenig entwickelt. Ich möchte die Erinnerung an diesen seligen Zustand aber nicht missen. Das lebendige Gefühl von jugendlicher Ignoranz will sich behaupten gegen die bedeutendere Erzählung vom historischen Moment. Ich weiß also nicht, was für mich mehr Wahrheit enthält, Literatur oder Geschichtsschreibung. Ich weiß nur, dass ich es falsch finde, wenn man von der Literatur fordert, dass sie die Aufgaben der Geschichtsschreibung nebenbei miterledigt. Es schadet aber nicht, wenn Historiker schreiben können und Humor haben. Ein Buch, bei dem ich über '89 viel dazugelernt, mich aber auch an vieles wiedererinnert habe, ist „Der Vorhang geht auf – Das Ende der Diktaturen in Osteuropa" von György Dalos. Der Autor hat, wie viele kritische Intellektuelle aus dem Ostblock, sein Leben anscheinend der Erforschung von etwas gewidmet, das er so eigentlich nie gewollt hatte, der Realität des Ostblocks. Das ist für mich immer eine bittere Ironie, wenn man so viel Kraft einem Thema widmet, das einem eigentlich durch das erfahrene Unrecht nur aufgezwungen wurde. Es scheint mir ein Glücksfall, wenn ein Autor diese Zeit „hautnah" miterlebt hat, aber über die analytischen Mittel verfügt, mehr als Erfahrungsberichte abzuliefern. Auch wenn man meinen könnte, das Ende der Ostblockregime habe sowieso nur von der Erosion der Staatsmacht in der Sowjetunion abgehangen, in deren Machtbereich man durch den Kalten Krieg geraten war, hat es überall mutige Menschen gebraucht und der Prozess hat diejenigen, die dabei waren, für ihr Leben geprägt. Bei Dalos habe ich gestaunt, wie wenig ich eigentlich von den Ereignissen mitbekommen habe, obwohl ich doch irgendwie dabeigewesen bin und damals ja auch so viel wie möglich mitverfolgt habe. Man konnte aber naturgemäß nicht überall sein. Eine Leistung des Buchs ist, dass es den Zusammenbruch der Regime in Osteuropa im Zusammenhang erzählt, vieles ist in den verschiedenen Ländern ganz ähnlich verlaufen, geradezu parallel, und doch waren es für jedes Land unvergleichliche Vorgänge. Jedes Land hat den Prozess der Demokratisierung anders erlebt, andere Akteure, andere Witze, andere Ereignisse und historische Momente, die ins nationale Gedächtnis eingegangen sind. Aber diese Geschichten gehören in einen Zusammenhang, man versteht ja auch die Witze der anderen im Prinzip, wenn man in einem dieser Länder gelebt hat. („Die zerstreute rumänische Frau steht mit einer leeren Einkaufstasche vor der Tür ihrer Wohnung und fragt sich: 'Wollte ich gerade einkaufen gehen, oder bin ich schon zurück?'") Irgendwie war ich damals der Meinung, dass alle diese Länder parallel aufgebaut waren, ein Parteichef, ein Sicherheitsdienst, eine Pionierorganisation, eine Art „Intershop", ein PKW (außer in Bulgarien), eine seltsame Popmusik. So sollte man es ja auch sehen, aber es gab große Unterschiede, in der DDR konnten 70% Westen sehen, Polen hatte die Solidarnosc und die katholische Kirche, Rumänien war ein Sonderfall mit seiner feudal anmutenden Mangeldiktatur und dem seltsamen Herrscherpaar, in Bulgarien sprach man viel besser Russisch und hatte eine türkische Minderheit. Die Erforschung der Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Alltag der Ostblockstaaten, insbesondere wie die sozialistische Ästhetik sich jeweils darstellte, scheint mir ein Thema, das noch nirgends umfassend betrachtet wurde. Dalos schafft es zumindest für die politische Sphäre. Er schreibt im übrigen sehr pointiert und mit bitterem Humor, wenn er z.B. über die Kirche in Polen sagt: „Die Kirche spendete Trost, bot sich als Konflikttherapeutin an und hatte den Vorteil, dass ihre Paradiesversprechen naturgemäß schwieriger überprüfbar waren als die Verheißungen des Sozialismus." Ungarn hatte János bácsi (Onkel János) an der Spitze und kam uns damals als DDR-Touristen recht entspannt vor (ein Urteil, das auf oberflächlichen Eindrücken beruhte, wie dass man dort an Kiosken Sexhefte kaufen konnte). Aus einer Broschüre vom Frühjahr 1988 zitiert Dalos (schade, dass man als Tourist kein Wort Ungarisch verstand): „'Was müssen wir über die Arbeitslosigkeit wissen?' schreibt ein Minister: 'Unser Ziel ist die Verlängerung der Beschleunigung der Verschlechterung.'"
Dalos kennt sich in allen Ländern des Ostblocks gut aus, soweit ich das beurteilen kann. Den wenigen Raum, den er im Buch für jedes Land hat, nutzt er für ein sehr plastisches Bild, was auch an den vielen sprechenden Details liegt, von denen er weiß. Z.B. dass der erste runde Tisch 1988 in Polen in Auftrag gegeben worden ist, nach dem Vorbild der Artusrunde, denn so konnte sich niemand durch die Tischordnung herabgesetzt oder bevorzugt fühlen. (Im übrigen stammte er von derselben polnischen Firma wie der Papstthron.) Dalos ist aber auch recht harsch und illusionslos im Urteil, wenn es um die politischen Hoffnungen der Bürgerrechtsbewegung geht, die sich durch Erreichung ihrer grundsätzlichen Ziele überflüssig gemacht habe: „Das kollektive Ethos der Menschenrechtler kann höchstens als private zivile Moral weiterleben, unabhängig davon, in welcher Gliederung der neuen politischen Strukturen sich der Einzelne betätigt. Alles andere ist Nostalgie."
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