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Tino Hanekamp war Journalist und Musikjournalist, hat in Hamburg zwei Musikclubs gegründet (Weltbühne, Uebel & Gefährlich), einen Roman geschrieben (‚So was von da‘) und unlängst ein Buch über Nick Cave ('... über Nick Cave'). Er lebt im Süden Mexikos.
Wir wissen es schon lange: Wo das Fleisch herkommt, das wir essen, wie es entsteht, wie es den Tieren dabei ergeht und den Menschen, und was das für Folgen für das Klima hat. Zumindest hätten wir es wissen können … Covid-19 sei Dank ist Wegsehen jetzt nicht mehr möglich, das Tönnies-Desaster reißt auch diesen Vorhang weg, das Thema ist endlich überall, auch wenn es dabei vor allem um die Arbeiter geht, beim Leid der Tiere, dem massiven Anteil der industriellen Tierhaltung an der Klimakrise und alten und kommenden Pandemien ist die Debatte immer noch nicht wirklich angekommen. Aber werden wir unser Handeln (also unsere Essgewohnheiten) jetzt ändern? Für die meisten gilt: Natürlich nicht. Warum das so ist, erklärt der Psychoanalytiker Hans-Jürgen Wirth in diesem Text. Kernaussage: Wir verdrängen das Thema nicht, wir verleugnen es. Und das gilt nicht nur für die industrielle Tierhaltung. Auch deswegen ist dieser Text sehr hilfreich, vor allem bei der Selbstbefragung. Auszüge:
Im psychoanalytischen Sinne handelt es sich dabei nicht um eine Verdrängung, sondern um eine Verleugnung. Bei der Verdrängung wird ein konflikthaftes inneres Geschehen ins Unbewusste verlagert. Bei der Verleugnung hingegen wird ein Aspekt in der äußeren Realität zwar wahrgenommen, dann aber in seiner Bedeutung an sich oder auch in seiner Relevanz für einen selbst nicht akzeptiert – eben verleugnet. … Bei der Verleugnung handelt es sich also um eine psychische Reaktion, mit der sich das Individuum davor schützt, mit Tatsachen konfrontiert zu werden, die unangenehm sind, Angst auslösen oder auch zu moralischen Selbstvorwürfen führen würden.
Es ist unmittelbar einleuchtend, dass man um so eher an einer Verleugnungsstrategie festhält, je mehr Nutzen man aus der an sich schlechten und bedrohlichen Realität zieht. Die desaströsen Zustände in der Fleischindustrie zu verleugnen, schützt nicht nur vor einem Konflikt, den man mit seinem ökologischen Gewissen hat oder haben müsste, sondern verhilft auch dazu, weiterhin von Dumpingpreisen zu profitieren. Die Psychoanalyse spricht hier von einem "sekundären Krankheitsgewinn“.
Mit dem Verweis auf den Mangel an gesellschaftlicher Moral rationalisiert man die Flucht vor den eigenen Ansprüchen an sich selbst. Man versteckt sich hinter der Mehrheitsmeinung oder dem, was man dafür hält. Und man macht das eigene Ich-Ideal und damit sich selbst kleiner, als es ist - oder doch sein könnte. Im Grunde ist das: eine Selbstentwertung.
Quelle: Hans-Jürgen Wirth, DER SPIEGEL Bild: Patrick Pleul/ pi... spiegel.de
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Die Unterscheidung zwischen "Verdrängung" und "Verleugnung" ist interessant. Auch sehr richtig, aber auch sehr frustrierend finde ich dieser Aussage "Psychisch reifere Formen der Bewältigung von Problemen bestehen darin, dass man den realen Gefahren ins Auge schaut, sie so wahrnimmt , wie sie sind, sie kognitiv und emotional verarbeitet und dann realitätsangemessene Wege findet, mit ihnen umzugehen."
Was IST denn ein realitätsangemessene Weise, mit diesem Konflikt umzugehen? Findet Verleugnung nicht auch deswegen statt, weil man meint, dass man an manchen Probleme weder durch Wahlen noch durch persönliches Handeln etwas ändern kann?
Bleibt die Frage: Was kann gegen die "Selbstentwertung" der Leute unternommen werden? Oder: Was muss noch passieren, damit sich die Leute nicht mehr selbst belügen?