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Kurator'in für: Flucht und Einwanderung Literatur Fundstücke Zeit und Geschichte
Dissertation über John Berger (Dr. phil.). Seine Essays und Interviews, seine Reportagen und Rezensionen erscheinen u. a. in Neue Zürcher Zeitung, Blätter für deutsche und internationale Politik, Sinn und Form, Jacobin und Lettre International. Als Historiker wertet er den in der Berliner Staatsbibliothek vorliegenden Nachlass seines Vaters aus. So erschienen »Die Bismarcks. Eine preußische Familiensaga vom Mittelalter bis heute« (2010, zusammen mit Ernst Engelberg) oder die von ihm herausgegebene Neuedition von Ernst Engelbergs »Bismarck. Sturm über Europa« (2014). Als Buchautor publizierte er zuletzt das literarische Sachbuch »An den Rändern Europas« (2021).
In der gerade neu herausgegebenen ZEIT-Bibliothek der Weltliteratur wird diese in hundert Büchern vorgestellt. Neben den üblichen Verdächtigen von Homer über Dante bis Thomas Mann stellt Gregor Dotzauer "Das große Heft" von Ágota Kristóf vor.
Der Debütroman dieser ungarisch-schweizerischen Schriftstellerin erschien 1986 und ist heute nicht mehr allgegenwärtig, wie auch die 2011 gestorbene Ágota Kristóf kein Name ist, den jeder kennt.
Dabei ist die Geschichte, die in "Das große Heft" erzählt wird, brennend aktuell, und wie sie erzählt wird, immer noch vorbildlich.
Eine Mutter flieht mit ihren beiden unehelichen Kindern, weil die Städte ihres namenlosen Landes bombardiert werden, zur Großmutter aufs Land. Der Vater ist an der Front, aber seit sechs Monaten gibt es keine Nachricht mehr von ihm.
Wie geht es weiter?
Zum Glück kann man gerade ein literarisches Hörspiel in der SRF-Mediathek hören, das erzählt, wie sich die beiden unzertrennlichen Brüder bei der unwirschen Großmutter, die nicht zur Hochzeit der Eltern eingeladen war, verhalten.
Weder die Buben wussten bis anhin von der Existenz der Grossmutter, noch wusste diese, dass sie Enkel hat. Sie nennt sie «Hundesöhne» und hält sie wie Sklaven – oder ihr Vieh. Doch die Jungs haben einander und halten sich aneinander fest. Auf eigene Faust erkunden sie die Umgebung und treffen auf seltsame Leute. Die Schulen sind geschlossen, die Zwillinge bringen sich gegenseitig das Leben bei.Auf dem Dachboden haben sie ihr «grosses Heft» versteckt. Da hinein schreiben sie ihre Beobachtungen und Erkenntnisse in einfachen Sätzen und schützen sich mit der Kraft einer sachlichen Sprache vor dem Zynismus des Elends.
Es ist ein karges, aber fesselndes Hörspiel in der Regie von Erik Altorfer, mit Libgart Schwarz und Kristof Van Boven.
Es besitzt eigenständige Kraft, bringt das Buch näher, freilich, es ersetzt es nicht.
Die beiden Zwillingsbrüder sind Binnenflüchtlinge. Die Großmutter spricht zuweilen in einer Sprache, die die Enkel nicht kennen, was auf andere Flucht- und Exilgeschichten hindeutet.
In der Leseempfehlung von Gregor Dotzauer steht geschrieben:
Das Verheerendste am Krieg ist vielleicht die Tonlosigkeit, in der er jedes lebendige Gefühl erstickt. Von der äußeren Zerstörung kann man Zeugnis ablegen, der Weg zur inneren ist oft blockiert. Ágota Kristóf aber verhilft diesem Schweigen in ihrem 1986 in Paris erschienenen Debütroman Das große Heft zu einer Sprache von erschütternder Schlichtheit.
...
Nur ein hauchdünner zivilisatorischer Firnis liegt über den elementaren Triebkräften des Lebens. In aller Ausführlichkeit wird etwa protokolliert, wie sich Hasenscharte, eine von allen gedemütigte Spielkameradin der Zwillinge, von deren Hund begatten lässt. Später wird es heißen, sie habe in einer von ihr selbst initiierten soldatischen Massenvergewaltigung einen glücklichen Tod gefunden.
...
Von der Selbstjustiz bis zur Sterbehilfe nutzen die Zwillinge alle Mittel, die aus den Fugen geratene Welt wieder ins Lot zu bringen.
Formal ist der Roman als doppelte Überblendung geschrieben; kein Erzähler berichtet von der Realität, sondern eine Fassung der Geschichte, die beide Brüder korrigieren, kommt ins titelgebende Heft.
Das ist gut im Hörspiel übersetzt worden. Hinzufügen ist, dass die Autorin selbst Exilerfahrungen hatte und das Buch auch die Erfahrung des doppelten Exils ist.
Die 1935 geborene Ágota Kristóf floh als junge Frau 1956 im Zuge der sowjetischen Invasion aus Ungarn in die Schweiz. Ihr Debütroman mit 51 Jahren ist nicht in ihrer Muttersprache verfasst, sondern in Französisch.
Der Schlusssatz der Empfehlung in der ZEIT-Bibliothek der Weltliteratur lautet:
Der einzige Trost liegt wohl darin, dass auch dieses von Kriegen bis heute immer wieder neu beförderte Exil die Idee von Heimat nicht auslöschen kann.
Natürlich kann man Das große Heft in der Übersetzung von Eva Moldenhauer wie andere Bücher von Ágota Kristóf bei yourbook kaufen.
In gewisser Weise ist dieser Piq eine Fortsetzung meines letzten, wo anderer, guter Hörstoff empfohlen wird.
Quelle: Ágota Kristóf, Hörspielbearbeitung und Regie: Erik Altorfer, Gregor Dotzauer u. a. Bild: Keystone www.srf.ch
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Ich habe einmal zufällig auf Deutschlandfunk dieses Hörspiel gehört und war sofort in seinen Bann geschlagen. Selten ergreifend und erschütternd.
Ich möchte darauf hinweisen, dass dieser Roman 2013 verfilmt wurde. Diese Information fehlt in diesem Beitrag.