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Kurator'in für: Europa Fundstücke Volk und Wirtschaft
Jahrgang 1953, geboren in Bünde/Westfalen. Nach dem Studium der evangelischen Theologie in Bielefeld und Marburg/Lahn ab 1989 Leiter des Industrie- und Sozialpfarramtes des Kirchenkreises Herne. Von 2007 bis 2009 Referent für Sozialethik an der Evangelischen Stadtakademie Bochum. Von 2009 bis 2014 Mitglied des Europäischen Parlaments (DIE LINKE). Mein persönliches Highlight im EP: Ich war Berichterstatter für die Zahlungskontenrichtlinie, die jedem legal in der EU lebenden Menschen das Recht auf ein Bankkonto garantiert. Seit 2014 freiberuflich tätig. Publizist. Diverse Buch-, Zeitungs- und Zeitschriften-Publikationen, seit Dezember 2016 Herausgeber des Europa.blog und seit Juni 2020 auch Herausgeber des "Ruhrpott Podcast".
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Auf Bluesky: @jklute.bsky.social
Am 9. Juni 2024 fanden in Belgien nicht allein die Wahlen zum Europäischen Parlament statt, sondern auch die Wahlen zum föderalen Parlament, zu den drei Regionalparlamenten und zu den Parlamenten der Sprachgemeinschaften. Bart Eeckhout hat sich die Ergebnisse etwas genauer angeschaut und kommt zu dem Schluss, dass im Gegensatz zu den vielfältig geäußerten Erwartungen vor dem Wahlsonntag die eigentlichen und nach seiner Einschätzung sehr weitreichenden Veränderungen sich nicht im flämischen Landesteil ereignet haben, sondern im südlichen Landesteil, in der Wallonie. Der Artikel von Eeckhout erschien am 15. Juni 2024 in der niederländischsprachigen belgischen Tageszeitung De Morgen unter dem Titel „Plots leeft er een merkwaardige ambiance op in de Belgische politiek“. Die folgende Wiedergabe des Artikels in deutschsprachiger Übersetzung erfolgt mit Zustimmung des Chefredakteurs von De Morgen, Remy Amkreutz.
Wähler und Wählerinnen sowie Politikerinnen und Politiker haben sich am Sonntag mit der Erwartung zu den Urnen geschleppt, dass sich nach den Wahlen nichts mehr bewegen würde. Doch dann sind sie in einer politischen Landschaft aufgewacht, in der plötzlich "alles" möglich erscheint. Woher kommt dieser Umbruch?
Von Bart Eeckhout | 15. Juni 2024
Das hat es buchstäblich noch nie gegeben. Am Montag, dem 10. Juni, dem Tag nach den [belgischen] Wahlen, beschloss das Parteibüro der PS [Parti Socialiste = sozialdemokratische Partei im franzöischsprachigen Teil Begliens], sich auf allen politischen Ebenen auf die Rolle der Opposition zurückzuziehen. Noch nie, seit es in diesem föderalen Land eine wallonische Region und eine französischsprachige Gemeinschaft gibt, ist die Parti Socialiste freiwillig zur Seite getreten. Mit Ausnahme von zwei kurzen Phasen waren die französischsprachigen Sozialisten immer Teil der Regierungen im Süden des Landes. Und nun dies.
Die Flucht nach vorn seitens des Parteichefs Paul Magnette & Co. ist verständlich. Seit dem 9. Juni verfügen die liberale MR [Mouvement Réformateur = librale Partei im französischsprachigen Teil Belgiens] und die christdemokratische [französischsprachige Partei] Les Engagés [Die Engagierten] zusammen über genügend Sitze, um Mehrheiten im französischsprachigen Belgien zu bilden. Ihre Vorsitzenden Georges-Louis Bouchez [MR] und Maxime Prévot [Les Engagés] haben schnell klargestellt, dass sie dies auch tatsächlich beabsichtigen, was darauf schließen lässt, dass diese Idee hinter den Kulissen bereits herangereift ist. Anstatt sich wegdrängen zu lassen - das wäre eine Demütigung - beschloss Magnette, selbst in die Grube zu springen.
Es wird also französischsprachige Regierungen ohne die PS geben, und zwar schon sehr bald. Das ist der eigentliche Schock dieses Wahlgangs. Natürlich ist am vergangenen Sonntag auch in Flandern einiges passiert. Oder besser gesagt: nicht passiert. Denn das überraschendste Ergebnis des flämischen Urnengangs ist, dass sich - abgesehen von der beispiellosen Niederlage der Partei des Premierministers - nicht so viel geändert hat, wie vorher angenommen.
Die Rechtsextremen [Vlaams Belang] sind nicht zur größten Partei geworden; die N-VA [Nieuw-Vlaams Alliantie = Neu-Flämische Allianz] hat sich ganz gut behauptet. Damit hat der Vorsitzende Bart De Wever, anders als es - und das ist nur fair zu sagen - auch hier vorhergesagt wurde, eine reale Chance, Premierminister zu werden. Auch das wird als geistige Befreiung empfunden, auch wenn das Bild trügt. Denn der VB hat immerhin das zweitbeste Ergebnis seiner Geschichte erzielt, mit Spitzenwerten in ländlichen Gebieten von weit über 30 Prozent.
Sicherlich ist es vor allem die frankophone Wende, die so etwas wie, nun ja, eine neue politische Ära ankündigt
Sicherlich ist es vor allem die Wende im frankophonen Teil des Landes, die so etwas wie eine neue politische Ära einläutet. Wo alle ein System befürchteten - oder hofften -, dass ein demokratischer Stillstand eintritt, weht in Wirklichkeit plötzlich eine frische Brise. Dadurch entsteht in der "Wetstraat" und den angrenzenden Bezirken eine ganz eigenwillige Atmosphäre.
Wir haben das schon einmal erlebt, wenn auch auf andere Weise. Eine ähnliche Stimmung kam 1999 auf, als die damalige CVP [Christelijke Volkspartij = Christliche Volkspartei, im flämischen Teil Belgiens] nach einer erneuten Niederlage zum ersten Mal seit 40 Jahren aus der Landesregierung verschwand. Auch damals beschloss der faktische Parteichef - der damalige Premierminister Jean-Luc Dehaene - sehr bald nach der Niederlage, dass die CVP in die Opposition ging. Auch das führte zu einer beschleunigten Entwicklung und zu einer großen Bereitschaft für Veränderungen. Dies ermöglichte eine rasche Regierungsbildung: Kaum einen Monat nach dem Urnengang legte Guy Verhofstadt den Eid als Premierminister eines bis dahin nicht gesehenen lila-grünen Kabinetts ab.
Man beachte die potenziell historische Bedeutung dieses Moments: Genau ein Vierteljahrhundert nach dem CVP-Staat in Flandern geht auch der PS-Staat in Wallonien zu Ende. Der Zufall ist zu auffällig, um ihn unerwähnt zu lassen: Der Moment, in dem die CVP 1999 in die Opposition ging, ist genau derselbe, in dem die PS nun das Handtuch wirft: 22 Prozent der Stimmen als Tiefstwert bei den Wahlen. Die flämischen Christdemokraten sollten in den folgenden Jahren noch einmal fast die Hälfte (!) dieser Wählerschaft verlieren.
Ob es der PS ähnlich ergehen würde, wird die Zeit zeigen. Es könnte sein, dass MR und Les Engagés bald doch in Zwietracht geraten, dass die Realität härter ist als ihre Wünsche oder dass Verwaltung und Zivilgesellschaft sie blockieren. Aber das wäre genau der Bumerang-Effekt, auf den auch die CVP/cd&v [cd&v = Christen-Democratisch en Vlaams = Christen – Demokratisch und Flämisch] in den ersten lila Jahren vergeblich gewartet hat.
Natürlich gibt es auch Unterschiede. Die schwere Niederlage der CVP damals wurde durch die akute und im Nachhinein etwas übertriebene Dioxin-Krise in der Mitte des Wahlkampfes begünstigt. Diesmal gab es keinen solchen Vorfall. Die PS verlor die Wahlen (-4%), aber die Wende kam vor allem durch den Zusammenbruch von Ecolo (-8%). Zum ersten Mal seit langer Zeit hat die Hoffnung der französischsprachigen Wähler auf einen Wandel die Seite gewechselt: von links nach rechts. Einschließlich der PTB [Parti du Travail de Belgique = Partei der Arbeit Belgiens] hat die Linke am vergangenen Sonntag sogar 14,3 Prozentpunkte verloren.
Paul Magnette, der seine Partei aus Angst vor der Konkurrenz durch die PTB nach links lenkte, darf sich vorwerfen, diese Sehnsucht nach Veränderung nicht gespürt zu haben. So hat er selbst die Lücke in der Mitte für Les Engagés geschaffen. Und er hat den Rivalen Bouchez in einer ziemlich aggressiven Kampagne ständig mit der N-VA in Verbindung gebracht. Es muss so gewesen sein, dass viele Französischsprachige dachten: ah ja, das probieren wir doch mal.
Was die CVP damals mit der PS heute verbindet, ist, dass der Verlust an den Wahlurnen nur ein Meilenstein in einem jahrzehntelangen Niedergang darstellt. Dieser Niedergang muss kein unausweichliches Schicksal sein. Die europäische politische Landschaft ist voll von traditionellen Parteien, die untergehen und wieder auferstehen. Aber für die flämischen Christdemokraten und die französischsprachigen Sozialisten stirbt ein großer Teil ihrer Wählerschaft leise, aber im wahrsten Sinne des Wortes aus. Der PS als einziger Massenpartei des Landes gelang es lange Zeit, den Niedergang aufzuhalten, indem sie – zu Recht – auf Nähe und Service setzte. Offenbar setzt nun doch eine gewisse bleierne Müdigkeit ein.
Wenn Bart De Wever tatsächlich das Gesicht des Wandels sein will, muss er sich selbst auch verändern
Trotz der Unterschiede zwischen damals und heute gibt es durchaus Parallelen. Im Jahr 1999 wurde die violette Wende im französischsprachigen Belgien vorbereitet – zunächst mit einer Absprache zwischen Elio Di Rupo (PS) und Louis Michel (MR) – und schließlich durch einen politischen Erdrutschsieg in Flandern möglich gemacht. Jetzt ist es genau umgekehrt: Der Drang nach (Mitte) rechts ist in Flandern schon seit einiger Zeit vorhanden und wird nun durch die großen Veränderungen im französischsprachigen Belgien zur Realität.
Diese unverhoffte Gelegenheit führt zu einer gewissen Ungeduld. Die Dinge müssen jetzt vorankommen! Diese Stimmung zieht sich durch die Wetstraat-Karawane und sogar darüber hinaus. Dass Vooruit [Vorwärts = sozialdemokratische Partei in Flandern], als vielleicht einzige linke Partei am Tisch, substanzielle Forderungen stellt, ist völlig normal. Doch die Partei löst damit tadelnde Reaktionen aus. Selbst von Journalisten, denn niemand soll diese Party verderben. Auch das erinnert sehr an die befreiende Stimmung, die den Beginn der lila Ära begleitete. Fakt ist: Bart De Wever kann wirklich nicht sowohl das Amt des Ministerpräsidenten als auch eine Staatsreform und dazu noch eine rechtsgerichtete Reformpolitik gleichzeitig anstreben. Aber solche offensichtlichen Konfliktpunkte werden unter einen Teppich des Wohlwollens gekehrt.
Das ist auch verständlich. Nach siebzehn Jahren Koalitionen und Koalitionsbildung in einer Atmosphäre von tiefem Misstrauen und bewusster Sabotage - angefangen mit Yves Leterme, bishin zu Alexander De Croo - sind viele Bürger froh, dass es nun anders werden kann. Vielleicht ist Belgien ja doch ein normales Land? Ironischerweise hat das Schicksal ausgerechnet den flämischen Nationalisten Bart De Wever ausgewählt, um dies zu demonstrieren.
In gewisser Weise markiert der 9. Juni das Ende einer politischen Ära. Was als erfrischend offene Debattenkultur unter Lila-Grün begann, ist zu einer zerstörerischen Spektakelpolitik verkommen. Jetzt kann das Pendel durchaus in die andere Richtung ausschlagen: in die von mehr Ernsthaftigkeit und Pragmatismus. So schnell kann es gehen: Wenn der Wahlkampf mit dem Konklave ["Konklave" war ein spezielles Entertain-TV-Format im Kontext des belgischen Wahlkampfs] als Illustration für tiefe, persönliche Ressentiments zwischen den Protagonisten begonnen hat, so ist nun unter den teilweise gleichen Protagonisten das Gefühl entstanden, dass Veränderung und Zusammenarbeit möglich werden kann.
Allerdings bleibt abzuwarten, wie sich das bei Georges-Louis Bouchez, einem der Propagandisten der Spektakelpolitik, entwickelt. Wenn er seine Ambitionen auf das Amt des wallonischen Premierministers verwirklichen kann, wäre das ein großes Plus für die mögliche Regierung De Wever.
Aber wir sollten nicht vergessen, dass De Wever und seine Partei selbst einen großen Anteil an der rauen und manchmal giftigen politischen Kultur haben (hatten), die die Bürger verprellt. Wenn Bart De Wever also wirklich das Gesicht des Wandels sein will, wird er sich auch selbst ändern müssen.
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Ich kann nicht genau finden, wo dieser Umbruch nun herkommen soll? Eine wirkliche Ursachenanalyse ist das m.E. nicht. Der Text erinnert mich entfernt etwas an Kreml-Astrologie.