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Zeit und Geschichte

Warum Brandt heute eine andere Russlandpolitik machen würde

Dirk Liesemer
Autor und Journalist
Zum Kurator'innen-Profil
Dirk LiesemerMontag, 26.08.2024

Vor ein paar Tagen empfahl Mitpicker Achim Engelberg einen Artikel des Politikanalysten Hans Kundnani, in dem es um die Ostpolitik von Willy Brandt und seinem Minister für besondere Aufgaben, Egon Bahr, ging (hier nachzulesen). Kurz gesagt erinnert Kundani an zwei Aspekte von Bahr, auf die sich die heutige deutsche Politik besinnen solle: 

Bahrs Konzept beinhaltet zwei ausgesprochen innovative und interessante Aspekte, die für das Nachdenken über die deutsche Russlandpolitik heute bedeutsam sind. Der erste Aspekt ist der paradoxe Gedanke, die Realität zu akzeptieren, um sie verändern zu können. Für Bahr war dies die Teilung Deutschlands. Er kam zu der Einsicht, dass die Anerkennung der Deutschen Demokratischen Republik der beste Weg sei, um die Teilung zu überwinden. Er nannte das „innerdeutsches Judo“.

Der zweite Aspekt der Ostpolitik ist der Gedanke, in kleinen Schritten auf ein langfristiges Ziel hinzuarbeiten, das unerreichbar scheint. Für Bahr war der erste Schritt ein Abkommen mit der DDR, das es der Bevölkerung Westberlins ermöglichte, Passierscheine für den Besuch bei Verwandten in Ostberlin zu beantragen. Das muss damals bestenfalls belanglos gewirkt und schlimmstenfalls als Zugeständnis wahrgenommen worden sein – doch es war der Beginn eines Prozesses, der die beiden deutschen Staaten zusammenführen sollte.

Kundanis Ausführungen erschienen in der Online-Zeitschrift "IPG" und blieben dort nicht unwidersprochen. Der Historiker Bernd Rother stört sich vor allem an der Aussage, man solle die Realität akzeptieren. Rhetorisch fragt Rother, was das denn bitte genau heißen solle.

Damit kann nur die russisch-ukrainische Grenze gemeint sein. Deutschland solle also die Annexion der Krim und des Donbass anerkennen. Was die Ukraine dazu sagen würde, bleibt bei solchen Forderungen eine Leerstelle.

Tatsächlich bleibt Kundanis Argumentation erstaunlich wolkig, wenn es darum geht, wie man denn nun einen Frieden mit Russland erreichen könnte. Er schreibt von "kleinen Schritten", was sicher nicht falsch ist, aber noch keine Richtung, geschweige denn eine Strategie anzeigt. Überhaupt ist die Situation für das längst wiedervereinigte Deutschland eine gänzlich andere, als sie es in den 1970er-Jahren war. Allzu viel lasse sich von damals nicht übertragen, argumentiert Rother. Selbst Willy Brandt würde heute eine andere Ostpolitik machen. Wer von Kundanis Text angetan war, dem empfehle ich jetzt die Gegenposition.

Warum Brandt heute eine andere Russlandpolitik machen würde

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Kommentare 9
  1. Cornelia Gliem
    Cornelia Gliem · vor 3 Monaten

    Nun, deutsche Politiker haben damals für deutsche Politik Realitäten anerkannt - das ist es anderes, als wenn wir heute für die Ukraine irgendwas anerkennen würden...
    Und damals war ein kalter Krieg - hier herrscht noch heißer Krieg...

  2. Achim Engelberg
    Achim Engelberg · vor 3 Monaten

    Bernd Rother ist ein ehrenwerter Mann.

    Allerdings ist sein Einspruch einfallslos, ja, dumm.

    Hans Kundnani versucht, das Außerordentliche der Situation damals als Bahr/Brandt sich neu orientierten und der Lage heute klar zu machen.

    Das ist allerdings für Fortgeschrittene geschrieben, deshalb fügte ich die Rede von Bahr mit Erläuterungen ein:

    Wer das nicht glaubt, vergegenwärtige sich die Lage im Jahr 1963 als Egon Bahr seine hier verlinkte (https://www.1000dokume...) Rede "Wandel durch Annäherung" hielt. Es war knapp zwei Jahre nach dem Mauerbau, nicht mal ein Jahr nach der Kubakrise, die die Welt so nah an einen Atomkrieg brachte wie nie zuvor und danach, in Vietnam tobte ein Krieg. Bald danach liefert die Sowjetunion den vietnamesischen Kommunisten Waffen, um gegen US-Truppen zu kämpfen.

    Bernd Rother ist ein ehrenwerter Mann.

    Allerdings versteht er zuwenig von Geschichte.

    Bahr/Brandt orientierten sich an Politikern, die eine neue Realität erkannten und gestalten wollten. Deshalb traf sich Brandt illegal mit meinem Vater, weil er sich für Bismarcks Wandel nach 1848 interessierte. https://www.penguin.de... Und als ich die Werke meines Vaters neu edierte oder als Co-Autor ergänzte: https://www.penguin.de... hatte ich mehrere Veranstaltungen und Treffen mit Egon Bahr.

    Natürlich kann eine Neue Ostpolitik nicht die alte Neue Ostpolitik als Blaupause benutzen.
    Sie kann aber vergleichbare Situationen studieren. Um beim Beispiel Bismarck zu bleiben: Bei seiner Neuorientierung in den 1850er Jahren kritisierte er die erzkonservativen Berater des Königs und meinte: "Wir müssen mit den Realitäten wirthschaften und nicht mit Fictionen." Ähnlich sprach Bahr.

    Bernd Rother ist ein ehrenwerter Mann.

    Allerdings ist er amusisch.

    Wenn Bismarck von Fictionen schreibt, meint er nicht den Realitätssinn großer Literatur. Er las mehr die Geschichtsdramen von Shakespeare und Schiller als die damalige politische Ratgeberliteratur. So studierte er die Rede des Mark Anton an das römische Volk aus "Julius Cäesar", wo es heißt:

    Brutus ist ein ehrenwerter Mann.

    Bahr/Brandt wiederum waren die deutschen Politiker, die sich mit Künstlern nicht nur umgaben, sondern mit diesen diskutierten.

    Natürlich kann ich hier nicht eine Jahrhundertrede wie die von Egon Bahr (das ist nicht rhetorisch gemeint, sondern sie ist in den markanten Sammlungen von diesen) für heute skizzieren, aber 2 Vorschläge.

    Eine Blaupause: Bei Gesprächen damals hörte man auf, die Besetzung der baltischen Staaten zu kritisieren, sondern man schwieg darüber. Als die Situation gekommen war, konnte man, da man die Okkupation nie völkerrechtlich anerkannt hatte, die wieder erstandenen Staaten nach 1989 schnell anerkennen (Kohl setzte in dieser Hinsicht die Ostpolitik fort.) Vergleichbares wäre heute bei der Krim möglich.

    Ein Vorschlag für eine Neue Ostpolitik: Wie man einen Haftbefehl gegen Putin erlassen hat, kann man eine Amnestie für alle erlassen, die den Krieg beenden. So könnten möglicherweise schuldverstrickte Generäle zum Handeln getrieben werden.

    1. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 3 Monaten

      Rother spricht doch gar nicht von einer völkerrechtlichen Anerkennung. Er spricht davon, die Annexion der Krim und des Donbas als Realität anzuerkennen, also den Kampf einzustellen. Das würde direkt bedeuten, die Waffenlieferung einzustellen und die Ukraine wehrlos zu machen. Nein, der Zeitpunkt die Besetzungen völkerrechtlich anzuerkennen, ist noch nicht gekommen - auch wenn diese real sind. Insofern ist das mit dem damaligen kalten Krieg nicht zu vergleichen. Wir haben hier eine laufenden militärischen Konflikt, indem es kurzfristig keine feststehenden Realitäten gibt. Das langfristige Ziel zu einem Frieden mit Rußland u.a. globalen Akteuren zu kommen bleibt da erst mal unberührt. Dein Vorschlag neben den Haftbefehl gegen Putin eine Amnestie für alle zu erlassen, die den Krieg beenden, ist pragmatisch, taktisch sicher richtig. Aber noch keine Neue Ostpolitik …-

    2. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor 3 Monaten

      @Thomas Wahl Völkerrechtlich haben Brandt und Bahr nie etwas in laufenden Kämpfen anerkannt. Und das schlägt Hans Kundnani auch nicht vor.

      Ausdrücklich schreibe ich, dass ich keine Konzeption einer Neuen Ostpolitik habe. Hätte ich die, würde ich sie publizieren.

      Allerdings wird eine solche dringend gesucht.

    3. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 3 Monaten

      @Achim Engelberg Ja, eben, die neue Ostpolitik bezog sich nicht auf laufende Kämpfe. In denen man gerade keine territorialen Realitäten als gegeben, bleibend und stabil anerkennen kann. Ob völkerrechtlich oder nicht. Es ist daher keine mit dieser Ostpolitik vergleichbare Situation, aus der man lernen kann. Meine ich ….

    4. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor 3 Monaten

      @Thomas Wahl Da Deutschland in der Mitte Europas lag und liegt, spielt die Weltpolitik eine Rolle. Und da gab es Vergleichbares, nicht Gleiches: Die Sowjetunion lieferte Waffen nach Vietnam im Kampf gegen die USA. Deshalb reisten Brandt und Bahr häufiger in die USA. Deshalb hielt auch Kissinger die Totenrede für Bahr.

      Außerdem interessierten sich alle für Bismarck. Ein Politiker, der aus den konservativen Rollenvorgaben trat. Ohne einen Gestaltwandel war eine Neue Ostpolitik nicht möglich. Und das ist heute wieder aktuell.

      Gerade die Darstellung dieses Wandels lobte Brandt stark an der Bismarck-Biographie von Ernst Engelberg. Als ich die Werke meines Vaters neu edierte kommentierte Bahr das mit sehr schmeichelhaften Worten und wir diskutierten und lasen auf Bühnen.

    5. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 3 Monaten · bearbeitet vor 3 Monaten

      @Achim Engelberg Die Bismarck-Biographie ist ja auch toll ….. Unbedingt lesenswert!

    6. Dirk Liesemer
      Dirk Liesemer · vor 3 Monaten

      Rother kritisiert überhaupt nicht Bahr und Brandt, sondern Kundani, der nämlich meint, man könne die alten Rezepte heute fortschreiben. An Bahr und Brandt lobt Rother ausdrücklich: "den Mut, die Weitsicht und die Kreativität". Außerdem: "Man" hat nicht einen Haftbefehl gegen Putin erlassen, es war der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag. Und wer soll denn eine Generalamestie aussprechen, ohne dabei das Völkerrecht zu missachten?

    7. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor 3 Monaten

      @Dirk Liesemer Kundani will sich davon anregen lassen und rekonstruiert die alte Neue Ostpolitik.

      Rother bezichtet ihn, dass er diese als Blaupause nutzen will.

      Blaupause heißt: eine Abzug oder Durchschrift, eine Durchzeichnung oder Kopie. Offensichtlich ist das bei Kundani nicht gemeint.

      Als der engste Freund von Egon Bahr, Peter Bender, 1968 das Buch "Zehn Gründe für die Anerkennung der DDR" publizierte war das ein Tabubruch. Bahr und Brandt kamen zum Schluss, 5 Jahre nach der legendären Rede, langsamer vorzugehen.

      Eine neue Ostpolitik habe ich nicht, aber sie wird ohne Tabubrüche nicht möglich sein. Es werden andere Tabus sein als die in der Vergangenheit, aber man kann sich, man sollte sich an Vorgänger orientieren. Meist ging so etwas nicht ohne direkte oder verdeckte Rechtsbrüche einher.

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