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Kurator'in für: Fundstücke Zeit und Geschichte
Seit der ersten Stunde als Kurator bei Forum dabei: Dirk Liesemer arbeitet als Journalist für Magazine wie mare und G/Geschichte. Er hat Politik, Philosophie und Öffentliches Recht studiert, die Henri-Nannen-Journalistenschule besucht, immer mal wieder in Redaktionen gearbeitet und ehrenamtlich eine Reihe von Recherchereisen mitorganisiert und begleitet. Bisher fünf Bücher, darunter "Café Größenwahn" (2023), ein Ausflug zu den großen Kaffeehausliteraten des Fin de Siècle. Foto: Andreas Unger
Vor ein paar Tagen empfahl Mitpicker Achim Engelberg einen Artikel des Politikanalysten Hans Kundnani, in dem es um die Ostpolitik von Willy Brandt und seinem Minister für besondere Aufgaben, Egon Bahr, ging (hier nachzulesen). Kurz gesagt erinnert Kundani an zwei Aspekte von Bahr, auf die sich die heutige deutsche Politik besinnen solle:
Bahrs Konzept beinhaltet zwei ausgesprochen innovative und interessante Aspekte, die für das Nachdenken über die deutsche Russlandpolitik heute bedeutsam sind. Der erste Aspekt ist der paradoxe Gedanke, die Realität zu akzeptieren, um sie verändern zu können. Für Bahr war dies die Teilung Deutschlands. Er kam zu der Einsicht, dass die Anerkennung der Deutschen Demokratischen Republik der beste Weg sei, um die Teilung zu überwinden. Er nannte das „innerdeutsches Judo“.
Der zweite Aspekt der Ostpolitik ist der Gedanke, in kleinen Schritten auf ein langfristiges Ziel hinzuarbeiten, das unerreichbar scheint. Für Bahr war der erste Schritt ein Abkommen mit der DDR, das es der Bevölkerung Westberlins ermöglichte, Passierscheine für den Besuch bei Verwandten in Ostberlin zu beantragen. Das muss damals bestenfalls belanglos gewirkt und schlimmstenfalls als Zugeständnis wahrgenommen worden sein – doch es war der Beginn eines Prozesses, der die beiden deutschen Staaten zusammenführen sollte.
Kundanis Ausführungen erschienen in der Online-Zeitschrift "IPG" und blieben dort nicht unwidersprochen. Der Historiker Bernd Rother stört sich vor allem an der Aussage, man solle die Realität akzeptieren. Rhetorisch fragt Rother, was das denn bitte genau heißen solle.
Damit kann nur die russisch-ukrainische Grenze gemeint sein. Deutschland solle also die Annexion der Krim und des Donbass anerkennen. Was die Ukraine dazu sagen würde, bleibt bei solchen Forderungen eine Leerstelle.
Tatsächlich bleibt Kundanis Argumentation erstaunlich wolkig, wenn es darum geht, wie man denn nun einen Frieden mit Russland erreichen könnte. Er schreibt von "kleinen Schritten", was sicher nicht falsch ist, aber noch keine Richtung, geschweige denn eine Strategie anzeigt. Überhaupt ist die Situation für das längst wiedervereinigte Deutschland eine gänzlich andere, als sie es in den 1970er-Jahren war. Allzu viel lasse sich von damals nicht übertragen, argumentiert Rother. Selbst Willy Brandt würde heute eine andere Ostpolitik machen. Wer von Kundanis Text angetan war, dem empfehle ich jetzt die Gegenposition.
Quelle: Bernd Rother Bild: picture alliance ... www.ipg-journal.de
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Nun, deutsche Politiker haben damals für deutsche Politik Realitäten anerkannt - das ist es anderes, als wenn wir heute für die Ukraine irgendwas anerkennen würden...
Und damals war ein kalter Krieg - hier herrscht noch heißer Krieg...
Bernd Rother ist ein ehrenwerter Mann.
Allerdings ist sein Einspruch einfallslos, ja, dumm.
Hans Kundnani versucht, das Außerordentliche der Situation damals als Bahr/Brandt sich neu orientierten und der Lage heute klar zu machen.
Das ist allerdings für Fortgeschrittene geschrieben, deshalb fügte ich die Rede von Bahr mit Erläuterungen ein:
Wer das nicht glaubt, vergegenwärtige sich die Lage im Jahr 1963 als Egon Bahr seine hier verlinkte (https://www.1000dokume...) Rede "Wandel durch Annäherung" hielt. Es war knapp zwei Jahre nach dem Mauerbau, nicht mal ein Jahr nach der Kubakrise, die die Welt so nah an einen Atomkrieg brachte wie nie zuvor und danach, in Vietnam tobte ein Krieg. Bald danach liefert die Sowjetunion den vietnamesischen Kommunisten Waffen, um gegen US-Truppen zu kämpfen.
Bernd Rother ist ein ehrenwerter Mann.
Allerdings versteht er zuwenig von Geschichte.
Bahr/Brandt orientierten sich an Politikern, die eine neue Realität erkannten und gestalten wollten. Deshalb traf sich Brandt illegal mit meinem Vater, weil er sich für Bismarcks Wandel nach 1848 interessierte. https://www.penguin.de... Und als ich die Werke meines Vaters neu edierte oder als Co-Autor ergänzte: https://www.penguin.de... hatte ich mehrere Veranstaltungen und Treffen mit Egon Bahr.
Natürlich kann eine Neue Ostpolitik nicht die alte Neue Ostpolitik als Blaupause benutzen.
Sie kann aber vergleichbare Situationen studieren. Um beim Beispiel Bismarck zu bleiben: Bei seiner Neuorientierung in den 1850er Jahren kritisierte er die erzkonservativen Berater des Königs und meinte: "Wir müssen mit den Realitäten wirthschaften und nicht mit Fictionen." Ähnlich sprach Bahr.
Bernd Rother ist ein ehrenwerter Mann.
Allerdings ist er amusisch.
Wenn Bismarck von Fictionen schreibt, meint er nicht den Realitätssinn großer Literatur. Er las mehr die Geschichtsdramen von Shakespeare und Schiller als die damalige politische Ratgeberliteratur. So studierte er die Rede des Mark Anton an das römische Volk aus "Julius Cäesar", wo es heißt:
Brutus ist ein ehrenwerter Mann.
Bahr/Brandt wiederum waren die deutschen Politiker, die sich mit Künstlern nicht nur umgaben, sondern mit diesen diskutierten.
Natürlich kann ich hier nicht eine Jahrhundertrede wie die von Egon Bahr (das ist nicht rhetorisch gemeint, sondern sie ist in den markanten Sammlungen von diesen) für heute skizzieren, aber 2 Vorschläge.
Eine Blaupause: Bei Gesprächen damals hörte man auf, die Besetzung der baltischen Staaten zu kritisieren, sondern man schwieg darüber. Als die Situation gekommen war, konnte man, da man die Okkupation nie völkerrechtlich anerkannt hatte, die wieder erstandenen Staaten nach 1989 schnell anerkennen (Kohl setzte in dieser Hinsicht die Ostpolitik fort.) Vergleichbares wäre heute bei der Krim möglich.
Ein Vorschlag für eine Neue Ostpolitik: Wie man einen Haftbefehl gegen Putin erlassen hat, kann man eine Amnestie für alle erlassen, die den Krieg beenden. So könnten möglicherweise schuldverstrickte Generäle zum Handeln getrieben werden.