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Zeit und Geschichte

Zeichen einer Aufarbeitung des Irak-Krieges in den USA

Dominik LennéFreitag, 17.03.2023

Dieser beinahe spektakuläre Washington-Post-Artikel beginnt mit einer Freudschen Fehlleistung George W. Bushs in einer kürzlichen Rede gegen Putins Angriffskrieg:

... the decision of one man to launch a wholly unjustified and brutal invasion of Iraq.

Der Satz drückt ungewollt das moralische Gewissen zumindest eines Teils des US-Establishments aus, das 2003 so - für Nichtamerikaner unfassbar - einmütig hinter dem Einsatz der amerikanischen Kriegsmaschine gegen den Iraq gestanden hat.

Für Jede|n mit einem Minimum historischen Gedächtnisses klingen die vereinten US- und EU-Appelle an die gemeinsamen Werte der Demokratie und besondern der "regelbasierten internationalen Ordnung" hohl, die ununterbrochen als Begründung der Sanktionen gegen Russland und der militärischen Unterstützung der Ukraine abgegeben werden. Das ist nicht nur in Bezug auf die Ukraine ein Problem, sondern ebenfalls in Bezug auf China. 

Eine ganze Reihe von Kommentatoren, Historikern und Thinktanks kritisieren die Entfesselung dieses Krieges von unterschiedlichen Standpunkten aus:

  • Er war eklatant unrechtmäßig. Die Begründung der damaligen US-Administration war von Anfang an fadenscheinig gewesen und hat sich später als komplett haltlos erwiesen. (Interessant hier auch der Wikipedia-Artikel "Opposition to the Iraq War": 55 Nationen, einschließlich Deutschlands und Frankreichs, und der UN-Generalsekretär legten Protest ein.)
  • Er hat hohe Verluste unter der Irakischen Zivilbevölkerung verursacht (zehn - bis hunderttausende) und verursacht sie noch - in Form von genetischen Defekten in Gebieten, in denen Geschosse aus abgereichertem Uran verwendet wurden.
  • Er hat die Region nicht stabilisiert, sondern destabilisiert; er hat Bewegungen wie dem "Islamischen Staat" Motivation und Auftrieb gegeben.
  • Er hat amerikanischen Außenpolitische Zielen geschadet, indem er den Iran als lokal dominierende Macht gestärkt hat.

Einige dieser Kritiker streiten jedoch die Unrechtmäßigkeit nach wie vor ab oder leugnen deren Wichtigkeit; sie sehen den Angriff lediglich unter pragmatischen Gesichtpunkten als Fehler an. Das nenne ich "lernen ohne zu lernen". 

Es ist abzuwarten, ob sich die Bewegung derer, die den Völkerrechtsbruch als den wesentlichen Fehler dieses Angriffs erkennen, durchsetzen wird oder ob die moralische Blindheit einer offiziellen Linie bestehen bleibt, die das Selbstbild der Unschuld und des amerikanischen Exzeptionalismus um jeden Preis aufrecht erhalten will. Der Ausgang dieses Prozesses ist für die Zukunft der Welt von größter Wichtigkeit.

Zeichen einer Aufarbeitung des Irak-Krieges in den USA

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Kommentare 29
  1. Lutz Müller
    Lutz Müller · vor mehr als ein Jahr · bearbeitet vor mehr als ein Jahr

    Die wirtschaftlichen Gründe, auf die Achim Engelberg hinwies, sind auch aus meiner Sicht ganz entscheidend. Auch wenn die von Guido Steinberg (ich zitierte ihn unten) genannten Motive von Bedeutung für George W. Bushs Entscheidung gewesen sein mögen. Einige interessante Informationen hat Thomas Wahl beigesteuert.

    Dabei waren die weltwirtschaftlichen Auswirkungen der irakischen Erdölförderung und seines Exports für die USA möglicherweise weniger wichtig als die aus Instabilität resultierenden Preisschwankungen auf dem Weltmarkt.

    Bei einer zeitbedingt sehr schnellen Recherche konnte ich kein Material finden, das eine umfassende Analyse der wirtschaftlichen Nachkriegsentwicklung im Irak lieferte. Auf eine Studie und eine Meldung aus den Tagen unmittelbar vor der Invasion sei hingewiesen:

    1) Anfang März 2003 veröffentlichte das DIW die Studie „Ölgewinnung im Irak: Anhaltender Niedergang oder Aufschwung?“
    www.diw.de/documents/p...

    2) In einer Bloomberg-Meldung vom 14.03.2003 hieß es u.a.:
    „Im Januar lieferte der Irak 17,1 Millionen Barrel in die USA, das entspricht 6,4 Prozent der gesamten Ölimporte der USA. Im September hatte das Exportvolumen noch bei 5,15 Millionen Barrel gelegen.“ Nach Angaben von Analysten waren die USA damals bei weitem der größte Abnehmer für irakisches Öl, das als Ersatz für die ausgefallenen Lieferungen aus Venezuela diente. Unter den UN-Sanktionen nach dem Ende des Golfkrieges durfte der Irak Öl ausführen. Die Einnahmen mussten für Nahrungsmittel, Medikamente und Ölfördergeräte verwendet werden. Die UN habe den Irak gezwungen, einen illegalen Preisaufschlag zurückzunehmen. Den USA sei eine neu eingeführte Preispolitik zu Gute gekommen, die das irakische Öl so verteuerte, dass es auf dem Weltmarkt nicht mehr konkurrenzfähig war.
    (Erschienen in der Berliner Zeitung vom 15.03.2003, S. 29)

    ***
    Nicht außer Acht gelassen werden sollten die Verbindungen Dick Cheneys zur Wirtschaft. Cheney war von 1995 bis 2000 (bis zu seiner Kandidatur für das Amt des Vizepräsidenten) CEO von Halliburton. Das Kerngeschäft des Konzerns liegt in der Energieerzeugung, der Förderung und des Handels mit Erdöl. Außerdem gehören Zulieferungen für das Militär sowie Sicherheits- und militärische Dienstleistungen zu den Geschäftsaktivitäten. Vgl. https://de.wikipedia.o... und Artikel zu Dick Cheney in der Privatwirtschaft: https://de.wikipedia.o...

    Pressebeiträge der frühen 2000er beleuchteten die Rolle von PMCs – Private Military Companies.
    David Isenberg erwähnt Halliburton in „Challenges of Security Privatstation in Iraq“: https://gsdrc.org/docu... Über den Link auf der Seite ist der Volltext dieser Studie der ETH Zürich nicht mehr verfügbar, sie erschien in dem 328seitigen Band „Private Actors and Security Governance“: https://www.files.ethz...

    1. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor mehr als ein Jahr

      Also ist die USA im Irak einmarschiert, um Halliburton einen Gefallen zu tun?
      Meines Wissens durfte Irak während des Embargos nur sehr wenig Öl exportieren. Dazu ist dieInformation im DIW-Bericht ganz erhellend:

      "Nach dem Einmarsch des Irak in Kuwait hatte der Sicherheitsrat der UN umgehend Sanktionen ver- hängt. Verhandlungen über begrenzte Ölexporte des Irak zur Finanzierung von Lebensmittelimpor- ten scheiterten daran, dass der Irak das Sanktions- regime nicht akzeptierte. Erst 1996 konnte man sich auf das „Oil-for-food“-Programm einigen, das es dem Irak zunächst erlaubte, von Ende 1996 an in- nerhalb einer 180-Tage-Periode jeweils Öl im Wert von bis zu 2 Mrd. US-Dollar zu exportieren. Von den Erlösen standen dem Irak 72 % für den Kauf von Lebensmitteln und Medikamenten zu, die üb- rigen 28 % behielt die UN zur Begleichung von Reparationsforderungen und Verwaltungskosten ein. Die Obergrenze der zulässigen Exporterlöse ist im April 1998 auf 5,3 Mrd. US-Dollar erhöht worden. Nachdem der katastrophale Zustand der irakischen Ölindustrie nicht mehr zu übersehen war, wurde beschlossen, auch Importe von Ersatz- teilen für die Ölindustrie in Höhe von 300 Mill. US-Dollar zuzulassen. Im folgenden Jahr wurde die Obergrenze für die zulässigen Ölexporterlöse und für den Anteil, der davon für die Sanierung der Ölindustrie genutzt werden darf, abgeschafft."

    2. Lutz Müller
      Lutz Müller · vor mehr als ein Jahr

      @Thomas Wahl Dick Cheneys Macht reichte sicher nicht so weit. Dass er aus purem Eigennutz für den von ihm früher geleiteten Konzern Halliburton hätte Präsident Bush jr. zur Invasion im Irak drängen können, ist Unsinn. Das habe ich so nicht gesagt.

      In der US-Ölindustrie war ExxonMobil das entscheidende Schwergewicht, dessen Chef Lee Raymond ein langjähriger Freund Vizepräsident Cheneys gewesen sein soll. Bei ExxonMobil „übte man lieber vorsichtige Distanz“ zu den ursprünglichen Absichten einer Invasion, da sie die Sicherheit der Geschäfte gefährden könnte.
      Siehe Le monde diplomatique (unten empfohlen von Achim Engelberg).

      Auch Halliburtons Rolle bleibt in diesem Artikel nicht unerwähnt. Einer Tochtergesellschaft (Ingenieur- und Bauunternehmen KBR Inc.) wurden nach einem militärischen Sieg Aufträge zur Gestaltung der Zukunft der irakischen Ölindustrie in Aussicht gestellt. KBR Inc. bezeichnet sich selbst als „größten Militärdienstleister der Welt“. In seiner Amtszeit als US- Verteidigungsminister war Dick Cheney von 1995 bis 2000 zugleich Aufsichtsratsvorsitzender und CEO von Halliburton.

    3. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor mehr als ein Jahr

      @Lutz Müller Ja, alles richtig. Aber was sind denn nun die konkreten wirtschaftlichen Interessen, von denen immer geraunt wird? Es gibt ja nicht nur die Rüstungs- oder Ölindustrie? Der größte Sektor ist wahrscheinlich der medizinisch-industrielle Komplex. Und dann wäre noch Silicon Valley, Hollywood usw.. All die Industrien, die eher an einer friedlichen Globalisierung interessiert sind, zumindest sein müßten. Lassen die den Militärdienstleistern oder so einfach den Vortritt? Und tragen das wirtschaftliche Gesamtdesaster dann mit?

  2. Thomas Wahl
    Thomas Wahl · vor mehr als ein Jahr

    Ein interessanter Kommentar zum Irak-Krieg:

    "The idea that the United States had broken "the Pottery Barn rule," as Secretary of State Colin Powell implied, and destabilized what otherwise might have been a stable country was a myth. Iraqi Kurdistan had already peeled away. While Saddam’s Republic Guards dominated the day across southern Iraq, their control faded away from sundown to sunrise. If Saddam were alive today, he would be nearly 86 years old. His two sons were incompetent sociopaths. The notion that Iraq would have resisted the winds of the Arab Spring is ludicrous. To understand what Iraq would have looked like absent U.S. intervention, picture the Syrian civil war. The only difference is that absent U.S. presence, Iran would have had no checks on its ambitions.

    Nor is it fair to blame the United States for a million deaths in Iraq. U.S. forces did not kill 1 million Iraqis; insurgents and Iranian-backed militias did. To absolve these forces and bash America, which sought to counter such terrorism and protect Iraqis, is backward. The implied policy prescription: Abandoning Iraqis to local versions of the Islamic Revolutionary Guard Corps, Islamic State, or other Islam-tinged Khmer Rouge-like groups would be morally obtuse. For that matter, the Code Pinks of the world should come clean: The end of Saddam’s regime exposed the falsity of the accusation that Clinton-era sanctions killed a half million children."

    https://www.washington...

    1. Dominik Lenné
      Dominik Lenné · vor mehr als ein Jahr

      Interessante Sichtweise. Beruht natürlich auf bloßen Wahrscheinlichkeiten "Was wäre wenn?", aber hat definitiv auch was für sich. Ich stehe zu wenig in der Materie, um zu den Behauptungen etwas Sinnvolles sagen zu können, das Bauchgefühl sagt: Bürgerkrieg und Zersplitterung in militärisch bewaffnete Fraktionen wären nicht unwahrscheinlich gewesen. Aber wir können es eben nicht wissen.
      Das ist aber Alles ex post. Zum Zeitpunkt der Invasion war all das im Vagen und die offizielle Begründung waren eben gefälschte Tatsachen.
      Die Frage ist auch: ist es eher als Angriff eines Staates auf einen Anderen zu sehen oder eher als Rettung eines Volkes vor einer Diktatur? Beide Aspekte sind da und verschwinden nicht. Ein gewisser Haut-Gout bleibt halt.

    2. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor mehr als ein Jahr

      @Dominik Lenné Bis zum Zeitpunkt des Einmarsches gab es ein gut 10 Jahre bestehendes UN-Ölembargo und eine Flugverbotszone für die Luftwaffe S. Hussein's. Um ihn davon abzuhalten den Bürgerkrieg gegen Shiiten und Kurden intensiv fortzuführen.
      "Der Aufstand im Irak 1991, auch Raperîn (kurdisch ڒاپه‌ڒین ‚Revolution‘), ereignete sich während und kurz nach dem Zweiten Golfkrieg im März 1991. Schiiten und Kurden sahen sich auf Grund der militärischen Niederlage Saddam Husseins gegen die Alliierten zu diesem Schritt ermutigt. Allerdings hatte Saddam Hussein wegen des zuvor in Kraft getretenen Waffenstillstandes die nötigen Truppen zur Verfügung, um den Aufstand blutig niederzuschlagen.

      Um die Aufständischen zu schützen, wurde von den Alliierten im Norden und im Süden des Iraks Flugverbotszonen eingerichtet. Dennoch fühlten sich die meisten Aufständischen durch den Westen verraten, da sie ein weiteres Vorrücken der Allianz erwartet hatten und erst der Waffenstillstand Saddam die Möglichkeit gegeben hatte, den Aufstand zu unterdrücken.

      Eine Folge dieses Aufstandes war die faktische Autonomie der Kurden im Nordirak und die Schaffung der kurdischen autonomen Region. ….

      Während der Auseinandersetzung kamen zahlreiche Menschen ums Leben. Alleine die schiitischen Aufständischen hatten 30.000–60.000 Todesopfer zu beklagen.

      https://de.wikipedia.o...

      Im Übrigen hat man durchaus auch Giftgas gefunden im Irak:

      http://www.nytimes.com...

      https://www.spiegel.de...

    3. Lutz Müller
      Lutz Müller · vor mehr als ein Jahr · bearbeitet vor mehr als ein Jahr

      Eine differenzierte Sicht ist erforderlich, zweifellos. Saddam war ein blutiger Diktator, der sein Giftgas gegen die eigene Bevölkerung einsetzte – ein Segen, dass er nicht mehr da ist. Die USA waren aber durch Giftgas nicht bedroht.
      Der Artikel rechtfertigt den Krieg vollends und rückt ihn, beginnend mit dem Titel, in strahlendes Licht. Das Fazit, Historiker werden über den Krieg besser urteilen, als es Zeitgenossen tun, widerspricht den Bemühungen um eine ehrliche Aufarbeitung.

      Inwieweit die bis heute anhaltende Instabilität des Irak Folge des Krieges ist oder durch ihn verstärkt wurde, kann ich nach mehreren gelesenen Artikeln schwer beurteilen. Aus meinem ökonomischen Hintergrund heraus sehe ich jedoch wirtschaftliche Gründe als entscheidendes Motiv der US-Invasion, wobei viele Umstände zusammenkamen, wie weiter unten diskutiert.

      Zum Autor: Michael Rubin ist Senior Fellow des American Enterprise Institute (AEI). Der Thinktank finanziert sich durch Spenden von Privatpersonen, Konzernen und Stiftungen. Einer seiner Vordenker ist Richard Perle (https://de.wikipedia.o...).
      Perle war ebenfalls Mitbegründer des PNAC, eine Reihe dessen Mitglieder der US-Administration angehörten, u. a. Dick Cheney und Donald Rumsfeld (https://de.wikipedia.o...).

    4. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor mehr als ein Jahr · bearbeitet vor mehr als ein Jahr

      @Lutz Müller Aber eine ehrliche Aufarbeitung sollte erst mal zuhören und nicht gleich unterstellen. Wir wollen ja, das spätere Geschichtsschreiber die Geschichte besser beurteilen können.

      Ich sehe eigentlich überhaupt keine wirtschaftlichen Gründe. Ökonomisch war der Krieg eigentlich grober Unsinn. Ähnlich in Afghanistan. Genau wie es grobe Dummheit war nicht zu sehen, dass die Stämme und Religionen wahrscheinlich aufeinander losgehen würden, wenn man die Ordnungskräfte abschafft. Demokratie wächst so nicht.

    5. Lutz Müller
      Lutz Müller · vor mehr als ein Jahr

      @Thomas Wahl Worin soll denn die Unterstellung bestehen? Ich möchte vor allem, dass Historiker die Geschichte wahrheitsgemäß beurteilen. Käme dabei ein besseres Urteil heraus, wäre das nicht verkehrt.

      Zu den ökonomischen Zusammenhängen gibt Le monde diplomatique eine umfassende Darstellung, auch unter Bezugnahme auf neu freigegebene Akten (s. Kommentar von Achim Engelberg). Hierbei ging es auch um französische vs. angloamerikanische Interessen, und auch die chinesischen und russischen waren mit im Spiel.

      In diesem Artikel taucht ebenfalls prominent der PNAC auf, da habe ich genau hingehört: Unter Federführung des US-Verteidigungsministeriums wurde 2002 ein Arbeitsstab von Experten einberufen und von einem PNAC-Mitunterzeichner geleitet, der eine Vision von der Zukunft der irakischen Ölindustrie entwarf!
      Dass es nun eine Connection zu der Machart des Artikels von Michael Rubin ganz im Sinne dieser Denkfabrik gibt, ist natürlich reiner Zufall.

      Unter dem Strich eine offene Frage:
      War der Krieg für die Konzerne auf lange Sicht ertragreich oder ein Desaster?
      Die Konzernrechnungen werden wahrscheinlich Verluste ausweisen. Um eine Antwort zu bekommen bedarf es einer ehrlichen – internen und öffentlichen – Aufarbeitung und wirtschaftshistorischen Analyse. Wir erleben gerade den Anfang, den Abschluss wird meine Generation kaum mehr sehen.

    6. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor mehr als ein Jahr

      @Lutz Müller Ich meinte mit Unterstellung, der „Artikel rechtfertigt den Krieg vollends und rückt ihn, beginnend mit dem Titel, in strahlendes Licht.“
      Das sagt übrigens auch Le Monde nicht so, sondern: „ Für die Iraker besteht kein Zweifel daran, dass der Krieg vom Frühjahr 2003, dessen Folgen mindestens 650 000 Menschen das Leben kostete und mehr als 3,5 Millionen Iraker vertrieben oder ins Exil geschickt haben, ein Krieg ums Öl gewesen ist.“ Und weiter, „lässt sich auch historisch belegen, dass dieser Krieg nicht zuletzt um Öl geführt wurde.“ Ja, natürlich war es politisch wichtig, die globale Ölversorgung für die Ökonomien sicher zu stellen. Insofern ging es natürlich auch um Öl. Nicht nur bei den Amerikanern. Öl und Energie sind die Treibstoffe, die Stabilitätsvoraussetzung aller Länder und ihrer Wirtschaften/Sozialsysteme.

      Aber auch die US-Ölkonzerne konnten ja rechnen und die Kosten sowie Risiken einer militärischen Lösung abschätzen. Sie waren offensichtlich wenig begeistert. Das fand ich ebenfalls interessant bei Le Monde.

      Das die Konservativen in einem Papier eher einen Regimewechsel präferieren, ist also noch kein Beweis, dass es nur um engere wirtschaftliche Interessen amerikanischer Ölkonzerne gegangen ist.

      Problematisch finde ich, was Le Monde schlußfolgert:“ Theoretisch konnte diese Kluft zwischen Angebot und Nachfrage durch den Iran und den Irak geschlossen werden, die gemeinsam über ein knappes Viertel der weltweiten Öl- und Gasreserven verfügen. Das aber war 2003 nicht möglich, weil beide Länder aufgrund der gegen sie verhängten Sanktionen ihre Fördereinrichtungen und Pipelines nicht im nötigen Umfang modernisieren konnten. Und die Aufhebung der Sanktionen wurde damals von der Regierung Bush verweigert, die den Iran wie den Irak als „Schurkenstaaten“ betrachtete.“

      Eben, die Bush-Regierung hat gar keine wirtschaftliche Kosten/Nutzen-Rechnung angestellt. Jeder rationale Kapitalist/Unternehmer hätte das aber getan. Bush gebrauchte eine typisch ideologisches Begründung. Und die hätten wahrscheinlich auch keine so radikale „Entbaathifizierung“ des irakischen Ölkonzerns betrieben.

      Selbstverständlich hätte man das Embargo zumindest gegenüber Saddam lockern können. Man hätte es sogar humanitär begründen können. Das wäre u.U. sogar eher durch den Sicherheitsrat gegangen als der Regimewechsel.

  3. Achim Engelberg
    Achim Engelberg · vor mehr als ein Jahr

    Ein wichtiger Beitrag, weil er zeigt, der Kreis der Kritiker wird größer.

    Zum Vergleich: Um den 10. Jahrestag waren es vor allem linke Beiträge wie dieser aus Le monde diplomatique, die ökonomisch argumentieren:
    https://monde-diplomat...

    Er beginnt so:
    Für die Iraker besteht kein Zweifel daran, dass der Krieg vom Frühjahr 2003, dessen Folgen mindestens 650 000 Menschen das Leben kostete und mehr als 3,5 Millionen Iraker vertrieben oder ins Exil geschickt haben, ein Krieg ums Öl gewesen ist. Präsident George W. Bush, sein Vize Richard („Dick“) Cheney, sein Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und Washingtons treuer Gefolgsmann, der damalige britische Premierminister Tony Blair, haben das bekanntlich stets vehement bestritten. Doch inzwischen lässt sich auch historisch belegen, dass dieser Krieg nicht zuletzt um Öl geführt wurde. Das geht aus einer Reihe von Dokumenten hervor, die in den USA vor Kurzem zur Veröffentlichung freigegeben wurden.1

    Und endet mit diesen Worten:
    Kaum jemand könnte die Bedeutung des Erdöls für die Weltwirtschaft besser einschätzen als Alan Greenspan, der langjährige Chef der US-Zentralbank (1987–2006). Von ihm stammt eine Aussage, die der Wahrheit in dieser blutigen Angelegenheit vermutlich am nächsten kommt: „Leider ist es politisch nicht angebracht, öffentlich zuzugeben, was alle Welt weiß: Beim Irakkrieg ging es neben anderem ganz wesentlich um das Öl der Region.

    1. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor mehr als ein Jahr

      Ja, und heute haben vor allem chinesische, russische und andere Firmen die Förderlizenzen:

      "80 Prozent des irakischen Öls gehen nach China, 81.000 Tonnen Öl jeden Tag. ……
      Ursprünglich hatten die USA großes Interesse an den irakischen Ölfeldern, nach dem Sturz von Saddam Hussein tauchten aber die Chinesen auf und schnappten sich einen Förderturm nach dem anderen. Sie waren die ersten, die nach dem Irakkrieg überhaupt eine Förderlizenz bekommen. Heute ist China der größte Investor im Irak und speist gut 10 Prozent seines Energiehungers aus dem Land. "Abhängig ist China vom irakischen aber Öl nicht", sagt China-Korrespondentin Ruth Kirchner, …."
      https://www.deutschlan...

      Exxon scheint halbwegs im Geschäft zu sein, neben:
      BP PLC, China Petroleum & Chemical Corporation, PJSC Lukoil Oil Company, Petroliam Nasional Berhad.

      Wenn es wirklich ums Öl gegangen wäre, dann hätte man Saddam eigentlich nur sein Öl exportieren lassen müssen. Billiger war und wird es nicht zu bekommen sein. So hat Amerika seine eigenen Konkurrenten im Ölmarkt gestärkt und sich selbst geschwächt. Mag sein, dass Bush&Co. zu blöd waren, dass zu erkennen.

    2. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor mehr als ein Jahr

      @Thomas Wahl Ja, das kann sein.

      Möglicherweise ging es auch viel mehr um persönliche Bereicherung. Dazu müsste man aber tiefer in die freigegebenen Dokumente einsteigen.

      Für die Diskussion um den piq ist aber entscheidend, dass die Kritik an diesem Krieg mittlerweile im Hauptstrom angekommen ist.

    3. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor mehr als ein Jahr · bearbeitet vor mehr als ein Jahr

      @Achim Engelberg Ja, man muß aber tiefer bohren und nicht nur vordergründig seine stärksten Vorurteile bestätigen. Das Öl hätte man sehr viel billiger haben können, wenn man Saddam wieder anerkannt hätte, ihm den Ölexport erlaubt hätte. Der Sicherheitsrat hätte da eher nicht widersprochen. Die fehlenden 10 Jahre ausbleibenden Einnahmen waren ja auch ein humanitäres Problem erster Güte im Irak. Und die Aufrechterhaltung der Flugverbotszonen, die Saddam davon abhalten sollte die Schiiten und Kurden weiter zu massakrieren, war schwierig/teuer. Das natürlich eine so ergiebige und billige Ölquelle wegen des Embargos brach lag, dass ist sicher ein weltwirtschaftliches Problem gewesen. Insofern ging es auch um Öl. Aber das war eben nicht mit S. Hussein, der als Aggressor und Mörder seiner Untertanen politisch verbrannt war, zu lösen. Das war ja eine komplexe Gesamtsituation. Die Amerikaner haben eben nicht einfach beschlossen, wir wollen jetzt die Ölquellen haben und da marschieren wir ein. Der Satz, es sei "ein Krieg ums Öl gewesen" reduziert, für sich genommen und eins zu eins als Kriegsursache interpretiert, die Realität/Komplexität der Geschichte auf einfache Gier. So versteht man gar nichts.

      Man ist schließlich auch nicht in Kuwait oder Saudi-Arabien einmarschiert.

    4. Lutz Müller
      Lutz Müller · vor mehr als ein Jahr · bearbeitet vor mehr als ein Jahr

      @Achim Engelberg Ja, in der Tat - und es ist gut, dass Piqd hier der allgemeinen medialen Wahrnehmung des Kriegsbeginns ein großes Stück voraus ist.

      Nach meiner Erinnerung an die Zeit nach 9/11, als die USA erstmals ins Mark getroffen wurden, von einer Handvoll Terroristen, wären auch starke innenpolitische Motive zur Sicherung des Machterhalts plausibel. Zumindest das hat für GeorgeW. funktioniert.

      Am Nachmittag MEZ sah ich den Einschlag des zweiten Flugzeugs live im TV mit verschwommenem Blick gerade nach dem Aufwachen aus einer Narkose nach einer OP. Freunde erzählten später von ihren Kindern, die noch am Vortag im World Trade Center waren.

      Guido Steinberg, Islamwissenschaftler der Stiftung Wissenschaft und Politik, bezweifelt im Interview mit der Frankfurter Rundschau, dass wirtschaftliche Gründe für die Invasion eine Rolle gespielt hätten. "Ihr Grund war offenbar ein nicht ganz rationaler Hass auf Saddam Hussein. Bei Bush mochte zudem eine Rolle spielen, dass Hussein 1993 einen Anschlag auf seinen Vater George Bush Senior ... in Auftrag gegeben hatte. Und dann kam der Wunsch hinzu, den Irak zu einer Art Muster-Demokratie zu machen, die in den Nahen Osten ausstrahlen sollte. Ich habe den Eindruck, dass Bush, Cheney und Rumsfeld tatsächlich an die Vorwürfe geglaubt haben, die Außenminister Colin Powell damals im Sicherheitsrat vorgetragen hat." Den Irak sieht Steinberg auch heute noch als ein gescheitertes Land. https://www.fr.de/poli...?

  4. Thomas Wahl
    Thomas Wahl · vor mehr als ein Jahr · bearbeitet vor mehr als ein Jahr

    Solange der Begriff "Völkerrecht" so scheinheilig und moralisierend gebraucht wird, ist es schwierig. Eigentlich erlaubt, ja fordert Völkerrecht die Verhinderung humanitärer Kathastrophen. Und Sadam Hussain war eine solche Kathastrophe. Andererseits gilt als Völkerrecht, was der Sicherheitsrat absegnet. Dort sitzen Akteure, die immer wieder Entscheidungen blockieren, solange ihnen die Situation in irgendeiner Weise in die Karten spielt, ihren Gegenspieler schwächt, ihren Einfluß stärkt. Da ist dann Humanität und Moral egal. Und nun versucht man zu tricksen und Vorwände zu schaffen, in der Hoffnung dann eine vom Sicherheitsrat abgesegnete Aktion durchführen zu können. Kaplan hat die Zwickmühle (auch seine persönliche Beteiligung gerade sehr eindrücklich beschrieben:

    "Kaplan zählte damals zum Beraterteam von Präsident George W. Bush. Wie kam es dazu, dass ausgerechnet er, einer der nüchternsten geopolitischen Beobachter seines Landes, zu einem so prominenten Fürsprecher des Irakkriegs wurde? Und was hat er daraus gelernt? Kaplan kannte den Irak, er hatte das Land in den Achtzigerjahren bereist, auf dem Höhepunkt von Saddam Husseins Diktatur: Die Atmosphäre der Gewalt, schreibt er, »war so erstickend wie die Hitze und der Staub vor den mit Maschinengeweh ren bewachten Mauern des Präsidentenpalasts«. Im Krieg gegen Iran und gegen die Kurden im Nordirak hatte Saddam Giftgas eingesetzt, und Kaplan sah die Opfer, 1984, in den Huwaisa-Sümpfen am Tigris: Leichen iranischer Soldaten, von Saddams Truppen aufeinandergestapelt. »Die Iraker waren stolz darauf.« Diese Erfahrung prägte Kaplan. Er hatte aus Syrien, Sierra Leone und aus Nicolae Ceaușescus Rumänien berichtet. »Aber ich hatte nie eine Tyrannei wie diese erlebt«, sagt er. »Man hatte das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Ich fragte mich: Was könnte schlimmer sein als das?« Im November 2001 nahm er auf Einladung des stellvertretenden Verteidigungsministers an einer Geheimsitzung teil und arbeitete an einem internen Dokument mit, das für die Invasion im Irak plädierte. »Ich dachte damals vor allem an den Aspekt der Sicherheit«, sagt Kaplan heute. Saddams Luftabwehr habe auf US-Maschinen in den beiden Flugverbotszonen geschossen, »es ging also die Angst um, dass ein amerikanischer Pilot abgeschossen und durch die Straßen von Bagdad geschleift werden könnte«. Kaplan war nicht der Einzige, der sich für die Invasion aussprach, die einen Konflikt nach sich zog, der mehr als 100000 Menschen leben kostete. Beide Häuser des USKongresses stimmten dafür, im Senat unter anderen die späteren Präsidentschaftskandidaten Hillary Clinton und John Kerry sowie der heutige Präsident Joe Biden."
    https://www.spiegel.de...

    Solange das Völkerrecht über den Sicherheitsrat definiert wird, werden wir weiter solche Tragödien erleben. Die Analysen verlagern sich von dem eigentlichen Problem und ihrer rationalen Erörterung weg, hin zu verdeckten moralischen Argumentationen. Das eigentliche Problem, die eigentliche Schuld der Amerikaner ist m.E. nicht die fehlende formale Absegnung des Irakkrieges durch den Sicherheitsrat sondern die Unkenntnis des Landes, das man erreten wollte, die Dummheit mit der die Aktion durchgeführt wurde. Aber gar nichts tun, das ist doch auch keine Alternative? Damals wie heute.

    1. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor mehr als ein Jahr · bearbeitet vor mehr als ein Jahr

      Das Zitat aus dem Spiegel geht weiter: "Anders als viele Politiker aber stellt sich Kaplan seiner Entscheidung und schont sich dabei nicht: »Ich hatte meinen Emotionen erlaubt, die leidenschaftslose Analyse außer Kraft zu setzen. Ich war an meiner Prüfung als Realist gescheitert.« Ein Jahr nach Kriegsbeginn kehrte Kaplan in den Irak zurück und »erlebte etwas, das viel schlimmer war als selbst der Irak der Achtzigerjahre: die blutige Anarchie aller gegen alle, die Saddams Regime mit der extremsten Brutalität unterdrückt hatte«. Seit damals klinge ihm ein Wort des persischen Philosophen Abu Hamid al-Ghasali im Ohr: »Ein Jahr der Anarchie kann schlimmer sein als hundert Jahre Tyrannei.« Ein extremer Satz, der, zu Ende gedacht, jede Revolution und jede ausländische Intervention gegen autoritäre Regime ausschließt. Wer kann schon garantieren, dass der Sturz eines Diktatoren nicht zum Chaos führt? »planen.« …. »Geopolitik«, sagt Kaplan, »ist von Natur aus tragisch.« Und tragisch sei, entgegen herkömmlicher Wahrnehmung, nicht der Sieg des Bösen über das Gute: »Der Holocaust, der Völkermord in Ruanda, der Krieg in Bosnien – das waren keine Tragödien, sondern gewaltige und grauenhafte Verbrechen. Eine Tragödie liegt vor, wenn zwei Dinge Anspruch auf unser Gewissen haben, wir aber nur eines davon wählen können. Es ist der Konflikt zwischen einem Gut und einem anderen. Indem man das eine dem anderen vorzieht, verursacht man Leiden.« …"

      So ist es wohl.

    2. Dominik Lenné
      Dominik Lenné · vor mehr als ein Jahr · bearbeitet vor mehr als ein Jahr

      @Thomas Wahl Worum es mir geht ist nicht, Scheinheiligkeit einmal mehr anzuprangern, jedenfalls nicht in der Hauptsache. Es geht mir vielmehr darum, dass jeder von uns und jede Nation moralisch fehlbar ist und auch Fehler macht. Das fängt schon mit der Priorisierung an: warum sind die Gräuel in der Ukraine so viel wichtiger als die in Tigray, Kongo &c? Warum sind die Toten dort wichtiger als die, die durch Nahrungsmangel im Horn von Afrika auftreten? Wir müssen Entscheidungen treffen und wir wissen, dass unsere Wahl fragwürdig bleiben wird. D.h. wir müssen die Verantwortung für diese Fragwürdigkeit übernehmen und dürfen uns nicht hinter einer "eindeutigen" Moralität verstecken.
      Trotzdem sehe ich immer wieder ein Problem darin, militärisch zu intervenieren und damit ein Grundprinzip des Westfälischen Friedens aus dem Fenster zu werfen: keine Einmischung in innere Angelegenheiten. Ja, vielleicht war die Irakische Diktatur erstickend und brutal. Ich habe auch natürlich keine Patentlösung.
      Die Fragwürdigkeit jedes eigenen Handelns zuzugeben, damit vom hohen moralischen Podest eine Stufe herunterzukommen, erlaubt erst, zu sehen, dass die Kaiser "Fehlerlosigkeit" und "Eindeutigkeit" nackt sind. Es wirkt entspannend, weil es wahr ist und könnte ein Ansatzpunkt sein, den ganzen angespannten Dialog mehr in Fluss zu bringen.

    3. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor mehr als ein Jahr

      @Dominik Lenné Ja, das sehe ich auch so ……

    4. Lutz Müller
      Lutz Müller · vor mehr als ein Jahr · bearbeitet vor mehr als ein Jahr

      Völkerrecht (auch: internationales Recht, abgeleitet vom englischen Terminus) ist ein vielschichtiges System und nicht auf den UN-Sicherheitsrat beschränkt. Sein Gegenstand sind humanitäre Katastrophen nicht primär. Scheinheiligkeit und Moralisieren sehe ich als politische Auswüchse.
      Eine grundlegende Schwäche des Völkerrechts – harsche Worte:
      „Weil der Verbindlichkeit des Völkerrechts eine regelmäßige und wirksame Sanktion fehlt, wurde immer wieder sein Rechtscharakter geleugnet.“ (Duden Recht A-Z / Bundeszentrale für politische Bildung)
      www.bpb.de/23189/voelk...
      Völkerrecht fußt auf dem „Konsens der Staaten, aufbauend auf dem Grundprinzip der souveränen Gleichheit aller in der Völkerrechtsgemeinschaft verbundenen Staaten“.
      Ok, in der Praxis spielen aber Stärke oder Schwäche von Vertragsparteien in völkerrechtlichen Vereinbarungen oft eine oder die entscheidende Rolle.

    5. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor mehr als ein Jahr

      @Lutz Müller Humanitäre Interventionen sollten möglichst vom Sicherheitsrat gebilligt werden. Was Vetomächte aber oft ablehnen.

      "Humanitäre Interventionen sind höchst umstrittene Formen militärischer Gewaltanwendung mit dem Ziel der Vermeidung und Beendigung schwerer Menschenrechtsverletzungen. Eine humanitäre Intervention findet statt, wenn ein Staat, eine Gruppe von Staaten oder eine internationale Vereinigung militärisch in einem fremden Luftraum oder Staatsgebiet interveniert, um die Bevölkerung des fremden Staates vor schweren Menschenrechtsverletzungen zu schützen.

      Militärische Einsätze zum Schutz der Menschenrechte gibt es seit dem Ende des Kalten Krieges; sie blieben aber immer umstritten – sowohl in der Theorie wie in der Praxis.

      Was ist eine humanitäre Intervention?
      Die Theorie der humanitären Intervention stützt sich auf historische Präzedenzfälle und auf die Theorie des gerechten Krieges: Demnach ist eine humanitäre Intervention durch drei Merkmale charakterisiert: 1. Entsendung von Truppen in ein fremdes Staatsgebiet, 2. legitimierende Autorität des UNO-Sicherheitsrats und 3. legitime Begründung.

      Entsendung von Truppen in ein fremdes Staatsgebiet
      Die Entsendung von Truppen ins Ausland stellt normalerweise eine Verletzung des Selbstbestimmungsrechts der Völker und des damit verbundenen Interventionsverbotes dar, die in der UNO-Charta Art. 2, Par. 4 und 7 festgeschrieben sind. Die Theorie der humanitären Intervention beruft sich ihrerseits auf das Kap. VII der UNO-Charta, welches nach Feststellung einer Bedrohung des Weltfriedens gezielte militärische Interventionsmöglichkeiten rechtfertigt. Dabei gilt der militärische Einsatz immer als «ultima ratio», nachdem alle diplomatischen und friedlichen Strategien gescheitert sind.

      Legitimierende Autorität des UNO-Sicherheitsrats
      Die kriegerische Operation kann sowohl von einem einzelnen Staat als auch von einer Gruppe von Staaten oder einer übernationalen Organisation geführt werden. In der Regel wird die Auffassung vertreten, dass der UNO-Sicherheitsrat als oberste übernationale Autorität über eine humanitäre Intervention entscheiden muss. Dieser Punkt ist aber sehr kontrovers. In der Praxis wurden gewisse humanitäre Interventionen auch ohne die Einwilligung des UNO-Sicherheitsrats geführt (z.B. der NATO-Angriff in Kosovo).

      Legitimer Grund
      Schliesslich ist die humanitäre Intervention durch die Verteidigung der Zivilbevölkerung eines fremden Staates vor schweren systematischen Menschenrechtsverletzungen charakterisiert. Gemäss dem 2005 World Summitt Outcome der UNO-Generalversammlung zählen dazu der Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnische Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. "
      https://www.humanright...

    6. Lutz Müller
      Lutz Müller · vor mehr als ein Jahr

      @Thomas Wahl Danke für den Link. Dass humanitäre Interventionen – bei einem breiten Konsens und möglichst mit einem Beschluss des Sicherheitsrats – durch das Völkerrecht gedeckt sind, ist sicherlich eine große Errungenschaft. Wie Dominik Lenné auch schon beschrieb, ist eine Einmischung in innere Angelegenheiten eines anderen Staates immer eine Gratwanderung. Der legitime Grund (schwere systematische Menschenrechtsverletzungen wie Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnische Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit) ist wesentlich enger gefasst als die bloße Abwendung einer humanitären Katastrophe. Jedes einzelne Menschenleben ist wertvoll und unersetzlich. Aber am Ende steht die Frage: Konnten durch die humanitäre Intervention die gefährdeten Menschen geschützt werden oder wurde vielleicht noch größeres Leid erzeugt?

      Zu humanitären Interventionen schreibt die Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen: „Die zentrale Aufgabe des UN-Sicherheitsrats ist es, den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren. Er ist somit in erster Linie kein Menschenrechtsorgan. Aufgrund sich verändernder Konfliktsituationen geraten jedoch zunehmend auch Menschenrechtsthemen auf die Agenda des Sicherheitsrats.“ Gezeigt wird, wie schwierig es ist, Maßnahmen zum Menschenrechtsschutz durch den Sicherheitsrat zu verabschieden, u. a. wegen Blockaden durch Vetomächte. Erwähnt werden das Handelsembargo gegen den Irak und weitere Resolutionen bis 2013. https://menschenrechte...

  5. Cornelia Gliem
    Cornelia Gliem · vor mehr als ein Jahr

    Also unabhängig davon dass der Irakkrieg völkerrechtswidrig war wenn auch unter anderen Umständen als der Ukrainekrieg und in 20 Jahren sich auch viel verändert hat, kann ich mich sehr wohl erinnern dass viele Deutsche damals sehr wohl dafür waren, Saddam Hussein abzusetzen. und der schnelle Sieg (wie es ja damals schien) gab dem ja scheinbar recht. ..

    und ein paar der genannten Folgen können nun wirklich nicht nur gem IrakKrieg angelastet werden. Da gab es genug vorher.
    und zwar nicht nur bei den Amis - die Briten und Franzosen haben Jahrzehnte vorher fast Jahrhundert vorher und die Russen ne Generation zuvor im nahen Osten sich unbeliebt und unglaubwürdig gemacht.

    Was mir aktuell gerade vergessen wird: auch wenn die Sprüche Forderungen Begründungen von US Seite ev hohl klingen oder heuchlerisch, kann doch wirklich niemand ernsthaft so tun als wären deswegen die Russen die bessere Alternative!

    Aber ok. Auf mittelfristige Sicht sollten sich auch einige Amerikaner vor dem IGH einfinden...

    oder doch zumindest erst mal zugeben damals Völkerrechtsbruch und auch Betrug begangen zu haben.

    1. Dominik Lenné
      Dominik Lenné · vor mehr als ein Jahr

      Worauf ich hinaus will ist *keinesfalls*, die Russen als bessere Alternative darzustellen oder die USA als *einzige* Nation mit fragwürdiger Vergangenheit darzustellen.
      Vielmehr geht es mir darum, die eigene Glaubwürdigkeit gerade dadurch zu erhöhen, dass wir möglichst das ganze Bild sehen: es gibt keine Nation, die nicht "im Glashaus sitzt" und dennoch ist die Unterstützung eines unrechtmäßig angegriffenen Landes eine gute Sache. Mit anderen Worten: Wir können nicht Alles erreichen, aber auch nicht Nichts.

    2. Cornelia Gliem
      Cornelia Gliem · vor mehr als ein Jahr

      @Dominik Lenné Das war auch nicht gegen Sie gerichtet :-). in der Diskussion höre ich das nur häufig so und auch in der Weltpolitik scheint sowas vorzuherrschen: die bösen Europäer als Kolonialherren und Amis als Imperialisten sind der wahre feind und die Russen mit ihrer "hehren" sozialischen Herkunft sind die Guten. etc.

    3. Marcus von Jordan
      Marcus von Jordan · vor mehr als ein Jahr

      ich bin wirklich froh um die ausführliche und kritische Berichterstattung zum Irakkrieg, wie sie jetzt gerade erfolgt und wie sie auch in den USA erfolgt... die allgemeine Schwarzweißmalerei angesichts Putins mörderischem Überfalls ist sonst nämlich teilweise schwer zu ertragen. Und selten hat mich etwas so irritiert, wie jetzt, wo mir nahestehende Personen unterstellen, dass ich Putin in irgendeiner Art relativieren wollte, wenn ich bitte auch über die USA (den Westen) und ihre tatsächliche oder wahrscheinliche Rolle in der Anbahnung dieses Grauens jetzt reden möchte. Ich ahne, dass Frieden für die Ukraine nur da möglich wird, wo auch auch diese Fragen betrachtet werden und die mediale Verweigerung dessen ist erschreckend.

    4. Cornelia Gliem
      Cornelia Gliem · vor mehr als ein Jahr

      @Marcus von Jordan ich sehe eigentlich keine schwarzweißMalerei. Gerade bei uns hören wir doch von Anfang an dass 1. Der Westen Mitschuld ist und 2. nicht alle Russen "böse" sind etc.
      mediale Verweigerung? Wo bitte? :-)

    5. Marcus von Jordan
      Marcus von Jordan · vor mehr als ein Jahr

      @Cornelia Gliem Schwarzweiß stimmt vielleicht nicht...eher einseitig schwarz. Aber nachdem ja doch in den letzten Jahren viel auch sehr kritisch über die US Umtriebe vor Russlands Haustür berichtet wurde (sonst wüsste ich es ja nicht), ist das ziemlich zum Erliegen gekommen in den "Hauptmedien" und ich habe persönlich sehr harte Reaktionen erfahren, wo ich das thematisiert habe (habe gelernt, dass ich scheinbar Antiimperialist bin, aber auch Putin-Troll). So fand ich das Kujat Interview neulich doch mindestens mal so relevant, dass ich mir gewünscht hätte, dass es besprochen worden wäre und was er sagt, über die unmittelbare Rolle der Amerikaner in der unmittelbaren Anbahnung dieses Krieges, hab ich sonst nicht gelesen.
      Erinnerst du dich an diese Geschichte, wie Selensky im griechischen Parlament sprach und ungefragt diese Azov gestalten dazuschaltete? Das und der folgende griechische Protest kam quasi nicht an in unseren Medien. Ich habe schon den Eindruck, dass da wenig Raum ist für irgendetwas außer für Putin und seine Verbrechen. Es ist zum Beispiel auch die amerikanische Presse wesentlich kritischer in der Beurteilung der Effizienz aller Embargos gegen Russland.

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