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Zeit und Geschichte

Wo ist der Weg aus der Sackgasse des neoliberalen Regierens jenseits des Nationalstaats?

Achim Engelberg
schreibt, kuratiert, gibt heraus
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Achim EngelbergDonnerstag, 12.03.2020

Es ist ein weites Feld, das der weltweit berühmte Jürgen Habermas abschreitet: von der Sackgasse, in die die neoliberale Entgrenzung führt, über "Wutbürger" und die Krise der Sozialdemokratie, von groben Fehlern der Neuvereinigung bis hin zu Veränderungen in der Öffentlichkeit.

Im TAGESSPIEGEL findet man - überraschend - eine Zusammenfassung des Interviews, das lange vorbereitet war. Nach ausführlichem Gespräch im Starnberger Haus von Jürgen Habermas im März 2019, fand das nun publizierte Interview im Oktober schriftlich statt.

Zum 90. Geburtstag am 18. Juni 2019 empfahl ich seine Publizistik aus den Blättern für deutsche und internationale Politik. Diese gibt brauchbare Einblicke in Debatten der letzten Jahrzehnte und ist oft besser als vermeintliche Hauptwerke, die unnötig kompliziert sind, da sie häufig Satzkonstruktionen haben, die dringend ein Lektorat vertragen würden.

Manchmal gibt es im Interview, das hier kostenlos herunter zu laden ist, Passagen, die schlichter und eindrucksvoller zu formulieren gewesen wären. Dennoch ist es ein überzeugender Wurf.

Als die drei groben Fehler der Neuvereinigung sieht er den

robusten Modus der »Übernahme« der Organisationsgewalt in allen Lebensbereichen der DDR durch westliche Funktionseliten der Bevölkerung und deren übrig gelassenen Eliten jede Chance genommen, eigene Fehler zu machen und aus diesen Fehlern zu lernen.

Folgerichtig schreibt man nun alles Unrecht der westlichen Seite zu. Weiterhin verurteilt Habermas

die undifferenzierte Abrechnung mit den Eliten der DDR, die ... in keinem Verhältnis zum schonenden Umgang der alten Bundesrepublik mit ihren ungeschoren davongekommenen NS-Eliten stand, den asymmetrischen Lebensverhältnissen eine normative Komponente hinzugefügt, die bis heute die verqueren Diskussionen über den Unrechtscharakter der DDR am Köcheln hält. Im selben Zusammenhang steht auch die Abkanzelung der in der DDR verbliebenen linken, aber keineswegs immer linientreuen Intelligenz, die mit den politisch wirklich belasteten Funktionären mehr oder weniger schonungslos über denselben antikommunistischenKamm geschoren worden ist. 

Darauf folgt auch die mangelhafte Auseinandersetzung mit den

aus der NS-Vergangenheit mitgeschleppten, seitdem zugedeckten und umfunktioniert fortlebenden autoritären Mentalitäten sowie die Einübung in demokratische Überzeugungen jenseits bloß opportunistischer Anpassung.

Immer wieder überzeugt Habermas durch die Weite des Blickes und der Analyse. Dabei schätzt er oft nachdenkenswert Arbeiten von Kollegen ein:

Andreas Reckwitz hat mit konstruktivem Talent einen neuen Blick auf die Gesellschaft etabliert. Wenn man so will, ist er der Soziologe der »Generation Golf« (Illies). ... Der Reichtum der Phänomene, die er mit diesem auf die Anerkennung seiner Einzigartigkeit erpichten Sozialcharakter erschließt, mag beeindrucken. Aber gerade die relative Entkopplung einer sozial-psychologisch aufgeblätterten Kultur von jenen sozialstrukturellen Verwerfungen, die letztlich durch funktionale Imperative eines weltweit deregulierten Weltmarktes ausgelöst werden, überzeugt mich nicht. Man stellt doch die Kausalitäten auf den Kopf, wenn sich im neoliberal entgrenzten Wettbewerb nur noch die kulturelle Eigenlogik der »Anerkennungsmärkte« spiegeln soll. Ich unterschätze keineswegs die umwälzenden Folgen der neuen Medien. Aber es wäre ein bisschen vorschnell, der Figur des digitalen Nutzers, der in der Konkurrenz um Sichtbarkeit und Anerkennung mit originellen Selbstdarstellungen die »likes« von möglichst vielen »followers« einsammeln möchte, eine derart repräsentative Rolle für die »spätmoderne« Gesellschaft im Ganzen zuzuschreiben. Selbst dann nicht, wenn sich in den narzisstischen Entgleisungen eines amerikanischen Präsidenten verzerrte Züge der sogenannten kreativen Szene wiederfinden sollten. Das allgemeine Bild vom neuen Kulturkampf, in dem die »Kreativen« die Gewinner sind, greift ... zu kurz, sobald es die sozioökonomischen Ursachen unterbelichtet oder ausblendet. In der Bundesrepublik haben wir seit zehn Jahren ein kontinuierliches Wirt-schaftswachstum, während die extreme Ungleichheit der Vermögen und die der Einkommen im selben Zeitraum gestiegen ist.

Trotz kleiner Einschränkungen ein großes, ja, ein denkwürdiges Interview.

Wo ist der Weg aus der Sackgasse  des  neoliberalen  Regierens  jenseits  des  Nationalstaats?

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Kommentare 8
  1. Thomas Wahl
    Thomas Wahl · vor fast 5 Jahre

    Seine Sicht auf 1989/90 zeigt eigentlich nur, wie weit er weg war von der Realität - damals wie heute? Ursache war nicht die so robuste Übernahme durch den Westen sondern die Schwäche und Zerstrittenheit der DDR-Eliten und die Ungeübtheit vieler Wohlmeinenden unter ihnen im Kampf um Macht und Positionen. Ihr Ruf im Volk war gründlich ruiniert. Die Menschen wollten nicht nur keine Ostprodukte, sie wollten erst mal auch keine Ostfunktionäre. Dann war es zu spät für beide. Ich erinnere mich noch sehr gut, wie wir uns am runden Tisch der Universität gegenseitig zerfleischt haben (alles Stalinisten und Stasi) war der wechselseitige Vorwurf, die Waffe den anderen aus dem Rennen zu werfen. Und oft auch berechtigt.

    Ich finde H. hat einen eher engen und idealistischen Blick auf die Wirklichkeit. Seine Wortgewalt verschleiert das nur .....

    1. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor fast 5 Jahre

      Ein idealistischer Blick könnte stimmen, ein idealtypischer wohl auch.

      Die robuste Übernahme durch den Westen ist aber auch eine Tatsache. Man denke nur an die Wahl vor genau 30 Jahren:

      Egon Bahr schimpfte über den CDU-Wahlkampf, der ziemlich skrupellos SPD und SED gleichgesetzt hatte: "Das war reinster psychischer Terror nach Goebbels-Manier."
      https://www.spiegel.de...

      Danach die Umformung der Treuhand u. v. a.

      Man schaue sich die große Rede von Stefan Heym zur Eröffnung des Bundestags 1994 an, in der fast alle heutigen Probleme benannt sind und die arroganten Reaktionen der etablierten Kaste.
      https://www.youtube.co...

      Positiv und dadurch ein Beispiel, das es anders gegangen wäre, ist die Vereinigung der Akademie der Künste unter der Leitung von Heiner Müller und Walter Jens.

    2. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor fast 5 Jahre

      @Achim Engelberg Nun ja, die SPD hat ja selbst kaum SED-Genossen übernommen. Und auch alle möglichen anderen Parteien beschimpft. Wahlkampf ist keine Zeit der sanften Worte. Und die Ebene Stefan Heym und Heiner Müller ist nun wirklich nicht mit der breiten DDR-Elite vergleichbar. Beide konnten sich vorher und hinterher nicht über Wirkmacht beklagen. Sie waren immer ein Teil der Länder übergreifenden Eliten.

      Es lohnt natürlich immer ein Interview von H. zu lesen (und zu posten)!

  2. Thomas Kestler
    Thomas Kestler · vor fast 5 Jahre

    Ich finde das Interview vergleichsweise angenehm zu lesen - anders als die meisten anderen Texte von Habermas. Die Überlegungen zur Wiedervereinigung sind sicherlich richtig, sie vernachlässigen aber den historischen Kontext und die Frage der praktischen Alternativen. In den anderen Themenbereichen zeigen sich allerdings die für Habermas typischen Widersprüche und loose ends. Die Idee des "transnationalen Regierens" bleibt völlig konturlos und wird damit begründet, dass der internationale Wettbewerbsdruck die Handlungsfähigkeit nationaler Regierungen reduziert hätte. Erzielt der Staat nicht gerade Jahr für Jahr neue Steuerrekorde? Wenn seine Handlungsfähigkeit so gering ist, wieso beschränkt sich der Staat dann nicht auf seine Kernfunktionen, sondern versteigt sich in immer neue Weltrettungsfantasien? Habermas steckt in einem längst obsoleten Begründungsschema fest. Die dünnen Verweise auf Bankenregulierung und Steuerflucht dienen nur als Feigenblatt für ein a priori gesetztes, seit Jahrzehnten hergebetetes und immer weniger überzeugendes Modell von den Krisen des Spätkapitalismus.

    Ähnlich unausgegoren sind die Überlegungen zur Europäischen Integration, die Habermas entschlossen fortentwickeln möchte. Wenn allerdings bereits auf der nationalstaatlichen Ebene die gesellschaftliche Integration abnimmt, wie soll dann auf europäischer Ebene eine solche bewerkstelligt werden? Hier kommt die Figur des Verfassungspatriotismus ins Spiel, also ein Umschwenken von den Mechanismen der sozialen und systemischen Integration hin zu einem reinen Voluntarismus. Zugleich soll sich die Integration aber aus kulturellen Traditionsbeständen speisen, die seltsamerweise auf nationalstaatlicher Ebene obsolet geworden sind, auf europäischer Ebene über Jahrhunderte unwirksam geblieben sind, nun aber wundersamerweise die Grundlage eines vereinten Europa bilden sollen.

    Und schließlich bleibt auch die Frage nach der Form des öffentlichen Diskurses unbeantwortet. Einerseits darf dieser laut Habermas robust ausfallen, andererseits soll man die von ihm sehr platt als Wutbürger bezeichneten Protestierer und Krakeeler nicht "in Watte packen". Was denn nun? Richtig ist sicherliche die Feststellung, dass der öffentliche Diskurs nicht, wie in den USA, in abgeschottete Räume zerfallen darf. Die Mutmaßungen über angebliche Kommunikationsinseln innerhalb von Sicherheitsorganen sind dann aber doch wieder sehr spekulativ. Wie die diskursiven Leitlinien konkret aussehen sollen erfahren wir nicht.

    Fazit: Interessant zu lesen, aber argumentativ sehr dünn, was mich an die Kritik von Roger Scruton erinnert: "To extract the meaning from Habermas is difficult on account of the structure of his books, which are composed of loosely connected chapters with no argument sustained for more than a page or two."

    1. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor fast 5 Jahre

      Ich empfahl das Interview, weil es Stärken und Schwächen der Position von Jürgen Habermas aufzeigt.

      Es hat vermächtnishafte Züge.

      Nachgefragt hätte ich auch bei den Überlegungen zur Europäischen Integration. Aber vielleicht war das in der schriftlichen Form unmöglich.
      Einen Fingerzeig gibt Habermas bei seiner Kritik an Reckwitz: Erst, wenn wir die neoliberale Deregulierung in den Blick nehmen und ändern, kann es besser werden.

      Es ist doch gut, wenn Habermas Fehler bei der Wiedervereinigung benennt. Freihändig kann er keine Alternativen benennen, die knapp abgewürgt worden sind. Dafür müsste man die Akten kennen, wo viele - etwa die heiklen von der Treuhand - immer noch verschlossen sind.

      Leider sind viele Lücken, die Sie aufzeigen, von mir nicht zu schließen, da ich nicht weiß, ob Habermas bei anderen Interviewpartner anders reagiert hätte.

    2. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor fast 5 Jahre

      @Achim Engelberg Es ist diese Attitüde, die Ergebnisse der Wiedervereinigung als Folge von Fehlern darzustellen und damit zu suggerieren, es hätte eine Kraft oder eine Person gegeben, die diesen Weg hätte fehlerfrei gehen können. Oder man nimmt nun endlich "die neoliberale Deregulierung" - was auch immer das gewesen sein soll - in den Blick und alles wird gut. Oder Ursula von der Leyen wird es in Europa richten.

      Um es mit Engels zu sagen: "Die ökonomische Lage ist die Basis, aber die verschiedenen Momente des Überbaus - politische Formen des Klassenkampfes und seine Resultate - Verfassungen, nach gewonnener Schlacht durch die siegende Klasse festgestellt, usw. - Rechtsformen, und nun gar die Reflexe aller dieser wirklichen Kämpfe im Gehirn der Beteiligten, politische, juristische, philosophische Theorien, religiöse Anschauungen und deren Weiterentwickelung zu Dogmensystemen, üben auch ihre Einwirkung auf den Verlauf der geschichtlichen Kämpfe aus und bestimmen in vielen Fällen vorwiegend deren Form. Es ist eine Wechselwirkung aller dieser Momente, worin schließlich durch alle die unendliche Menge von Zufälligkeiten (d. h. von Dingen und Ereignissen, deren innerer Zusammenhang untereinander so entfernt oder so unnachweisbar ist, daß wir ihn als nicht vorhanden betrachten, vernachlässigen können) als Notwendiges die ökonomische Bewegung sich durchsetzt. Sonst wäre die Anwendung der Theorie auf eine beliebige Geschichtsperiode ja leichter als die Lösung einer einfachen Gleichung ersten Grades. Wir machen unsere Geschichte selbst, aber erstens unter sehr bestimmten Voraussetzungen und Bedingungen. Darunter sind die ökonomischen die schließlich entscheidenden. Aber auch die politischen usw., ja selbst die in den Köpfen der Menschen spukende Tradition, spielen eine Rolle, wenn auch nicht die entscheidende. .....
      Zweitens aber macht sich die Geschichte so, daß das Endresultat stets aus den Konflikten vieler Einzelwillen hervorgeht, wovon jeder wieder durch eine Menge besonderer Lebensbedingungen zu dem gemacht wird, was er ist; es sind also unzählige einander durchkreuzende Kräfte, eine unendliche Gruppe von Kräfteparallelogrammen, daraus eine Resultante - das geschichtliche Ergebnis – hervorgeht, die selbst wieder als das Produkt einer, als Ganzes, bewusstlos und willenlos wirkenden Macht angesehen werden kann. Denn was jeder einzelne will, wird von jedem andern verhindert, und was herauskommt, ist etwas, das keiner gewollt hat. So verläuft die bisherige Geschichte nach Art eines Naturprozesses und ist auch wesentlich denselben Bewegungsgesetzen unterworfen. Aber daraus, daß die einzelnen Willen - von denen jeder das will, wozu ihn Körperkonstitution und äußere, in letzter Instanz ökonomische Umstände (entweder seine eignen persönlichen oder allgemein-gesellschaftliche) treiben - nicht das erreichen, was sie wollen, sondern zu einem Gesamtdurchschnitt, einer gemeinsamen Resultante verschmelzen, daraus darf doch nicht geschlossen werden, daß sie = O zu setzen sind. Im Gegenteil, jeder trägt zur Resultante bei und ist insofern in ihr einbegriffen."

    3. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor fast 5 Jahre

      @Thomas Wahl Einverstanden mit Engels, der aber auch nach Fehlern suchte - bei sich, bei Verbündeten und vor allem bei Gegnern.

    4. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor fast 5 Jahre

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