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Kurator'in für: Flucht und Einwanderung Literatur Fundstücke Zeit und Geschichte
Dissertation über John Berger (Dr. phil.). Seine Essays und Interviews, seine Reportagen und Rezensionen erscheinen u. a. in Neue Zürcher Zeitung, Blätter für deutsche und internationale Politik, Sinn und Form, Jacobin und Lettre International. Als Historiker wertet er den in der Berliner Staatsbibliothek vorliegenden Nachlass seines Vaters aus. So erschienen »Die Bismarcks. Eine preußische Familiensaga vom Mittelalter bis heute« (2010, zusammen mit Ernst Engelberg) oder die von ihm herausgegebene Neuedition von Ernst Engelbergs »Bismarck. Sturm über Europa« (2014). Als Buchautor publizierte er zuletzt das literarische Sachbuch »An den Rändern Europas« (2021).
Einer der bis heute nachhallenden Fehler am Ende des Kalten Krieges waren die "Wirtschaftsreformen" im Osten, die diesen zerfurchten und den Westen anschließend unsozialer machten.
Oder sollte man von neoliberalen Raubzügen sprechen, die bewusst von Anhängern einer Wirtschaftslehre eingesetzt wurden, die erstmals nach dem Militärputsch in Chile 1973 umgesetzt worden sind?
Die damit verbundenen Demütigungen und Landnahmen, Enteignungen und Privatisierungen führen bis zum Krieg in und um die Ukraine.
In Russland gab Jelzin 1992 alle Preise frei und öffnete den Weg in die Hölle. Dass der Markt wie ein Deus ex Machina alles schaffen würde, was er brauchte, war eine neoliberale Illusion, die träge mafiotische Oligarchenherrschaft das Resultat. Die Idee, dass Preise der Kern des marktwirtschaftlichen Heils sind, der Rest Beiwerk, hat eine fast religiöse Anmutung. In Moskau hörte man auf die neoliberalen Sirenengesänge, in Peking nicht. „Die Schocktherapie ist kein Rezept für den Aufbau, sondern für Zerstörung“, so Weber.
Stefan Reinecke ist sich in seiner taz-Besprechung sicher, dass mit Isabella M. Webers "Das Gespenst der Inflation. Wie China der Schocktherapie entkam" ein herausragendes Stück Wirtschaftsgeschichte vorliegt.
Das Werk erschien gerade in deutscher Übersetzung von Stephan Gebauer bei Suhrkamp und zeigt für den Rezensenten
beispielhaft, dass die Integration in die globale Marktwirtschaft nur gelingt, wenn man sich dem Markt nicht unterwirft. Und dass wie ein Zauberlehrling scheitert, wer eine unsteuerbare Marktdynamik entfesselt. Gerade das Zögern der Pragmatiker hat die Grundlagen für das chinesische Wirtschaftswunder geschaffen, das viele im Westen lange als Sieg des Marktes bestaunten und das sie nun zu fürchten beginnen
In diesem Beitrag stellt Isabella M. Weber ihr Buch in einem Longread vor. Am Ende des Kalten Krieges war die Sowjetunion, ja auch Russland, wirtschaftlich stärker als das sich gerade öffnende China; nach der Schocktherapie war es anders. Allerdings greift es zu kurz, hier die dummen Russen, dort die klugen Chinesen zu schreiben. In gewissen Augenblicken war der sogenannte Neoliberalismus, die Terrorherrschaft der Ökonomie, kurz vor der Umsetzung auch im Reich der Mitte.
Die 1987 in Nürnberg geborene Isabella M. Weber ist Professorin für Volkswirtschaftslehre an der University of Massachusetts Amherst. Sie bemerkt zur chinesischen Entwicklung überaus Erhellendes und Überraschendes, was enorme Bedeutung für die Welt hatte und hat:
Angesichts der rückständigen Entwicklung in China hätte eine Schocktherapie wahrscheinlich noch mehr menschliches Leid in China als in Russland verursacht. Gewiss hätte sie auch die Grundlage für Chinas wirtschaftlichen Aufstieg untergraben, wenn nicht sogar zerstört. Doch ist nur schwer vorstellbar, wie der globale Kapitalismus heute aussehen würde, wenn China den Weg Russlands eingeschlagen hätte. Trotz der Folgen dieser Politik wird die Schlüsselrolle, die die Marktreformdebatte in Chinas spielte, weitgehend ignoriert. In meinem Buch »How China Escaped Shock Therapy« blicke ich deshalb auf die 1980er Jahre zurück und frage mich, mit welchen Argumenten China der Schocktherapie entkam. Eine Untersuchung der chinesischen Marktreformdebatte offenbart nicht nur die wirtschaftlichen Hintergründe von Chinas Aufstieg, sondern auch die Ursprünge von Chinas traditioneller Beziehung von Staat und Markt.
...
Die Aussicht auf eine Schocktherapie hatte die Grundlagen der chinesischen Gesellschaft im Jahr 1988 erschüttert. Als 1989 die chinesische Bürgerrechtsbewegung auf dem Tian’anmen-Platz niedergeschlagen wurde, kamen die Reformen dann vorübergehend zum Stillstand. Als China 1992 die Marktwirtschaft wieder in Gang brachte, war die Schocktherapie keineswegs vom Tisch. Im Gegenteil, in den 1990er Jahren errangen die Neoliberalen in China große Siege. Der Grundmodus der schrittweisen, experimentellen Marktöffnung war jedoch bereits in den 1980er Jahren festgelegt worden. Obwohl er in den folgenden Jahrzehnten neu verhandelt, in Frage gestellt und abgewandelt wurde, konnte er nicht zurückgedreht werden.
Angesichts der deutschen Übersetzung von "Das Gespenst der Inflation" findet man ein Podcast mit Laura de Weck auf der Verlagsseite von Suhrkamp zum Buch.
Quelle: Isabella M. Weber, Stefan Reinecke, Laura de Weck Bild: David Gray/reuters taz.de
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Danke.
Ergänzend ein Hinweis auf die Kolumne des Ökonomen und Ex-Finanzpolitikers Fabio De Masi in der Berliner Zeitung.
In einer dreiteiligen Serie beleuchtet er verbreitete Wirtschaftstheorien. Ein kleiner Einblick in Hintergründe der vorherrschenden Stellung neoliberaler Wirtschaftswissenschaft und auch eine Erklärung, warum Isabella M. Weber, die von Bloomberg zu einer der einflussreichsten Personen des Jahres 2022 gekürt wurde, in den USA und nicht in Deutschland forscht.
1 Wie (manche) Wirtschaftstheorien versagen - https://www.berliner-z...
2 Die Erklärung von Arbeitslosigkeit - https://www.berliner-z...
3 Mythos Geld - https://www.berliner-z...
Danke, spannend. Allerdings erschließt sich mir nicht, wo in Rußland eine "unsteuerbare Marktdynamik" entfesselt wurde. Das war in Rußland in der Tat eher die Zerstörung aller Markt-Regularien und staatlichen Kontrollinstrumente, was natürlich dann auch die Wirtschaft endgültig zerstört hat. Nix mit Markdynamik. Was erst mal nichts mit Neoliberalismus zu tun hat. Neoliberale fordern keinen Markt ohne Regeln und ohne starken Staat. Klar ist: "Mit dem empfohlenen Paket wurde keine Marktwirtschaft „geschaffen“. Stattdessen wurde gehofft, dass die Zerstörung der Plan- und Kommandowirtschaft automatisch zu einer Marktwirtschaft führen würde." Das war natürlich naiv, eine Gesellschaft ist nun mal kein Planspiel. Aber die Planwirtschaft wurde damit nicht "zu Tode geschockt“. Die war bereits in Gorbatschows Perestroika tot. Schon 1990 gab es nichts mehr zu kaufen in den Läden. Deswegen ist die Sowjetunion zusammengebrochen. Eine staatliche Preiskontrolle hatte gar keinen Gegenstand mehr. Die radikale Preisliberalisierung war eigentlich gar nicht aufzuhalten, die Steuerungs- und Kontrollinstanzen, die kommunistische Partei, waren weg.
Wie Weber selbst sagt:
"Der neoliberale Staat ist weder klein noch schwach, sondern sehr stark. Seine Aufgabe ist es, den Markt zu beschützen. Dies tut er indem er eine freie Preisentwicklung garantiert, die der zentrale Wirtschaftsmechanismus bleiben soll." Diesen starken marktorientierten Staat hat Rußland nie geschaffen. Mit wem auch? Mit dem berüchtigten Homo Sovjeticus? Die russische Wirtschaft kam eben nicht aus einer stabilen Planwirtschaft sondern schon aus dem Chaos. Aber weiter mit Weber:
"Im Gegensatz hierzu nutzt der chinesische Staat den Markt aber als Instrument zur Verfolgung seiner übergeordneten Entwicklungsziele. Damit behält er sich ein gewisses Maß an politischer Souveränität vor, um Chinas Wirtschaft vor dem Weltmarkt abzuschirmen – das haben die Asienkrise 1997 und die globale Finanzkrise 2008 eindringlich gezeigt. Die Abschaffung dieser besonderen Form der „wirtschaftlichen Abschirmung“ ist ein langjähriges Ziel von Neoliberalen, und die heutige internationale Politik ist darauf ausgerichtet, den nationalen Schutz vor dem globalen Markt in allen Staaten zugunsten des freien und offenen Welthandels abzubauen."
Dieses langjährige Ziel des Neoliberalismus ist ja andererseits durch den Westen nie wirklich realisiert worden. Die Ökonomie als Wissenschaft ist nicht zu verwechseln mit der realen Wirtschaftspolitik. Eigentlich alle Staaten behalten sich Maßnahmen zum Schutz und Lenkung ihrer Wirtschaften vor. Auch wenn sie gegenüber China viele Industrien verloren haben. Und der freie und offene Weltmarkt sollte natürlich immer auch Regeln folgen. Und natürlich hat sich China nicht nur der Abschirmung der Spitzenbereiche (was auch so nicht wirklich stimmt, es wurden die nicht wettbewerbsfähigen staatlichen Großbetriebe abgeschirmt) seiner Wirtschaft gewidmet. Sondern auch mit dem undemokratischen Machterhalt der kommunistischen Partei und ihrer Spitzenkader einen Angriff auf den liberalen Westen und seine Wirtschaften gestartet. Richtig ist, der experimentelle Weg der chinesischen Wirtschaftspolitik war sehr erfolgreich, lange Zeit nicht nur für China selbst. Jedenfalls bis vor kurzem …..
Wäre es nicht viel sinnvoller Russland mit den osteuropäischen Ländern zu vergleichen? China war weder im Warschauer Pakt noch im Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe. Auch hatte China wesentliche heftigere Umwälzungen zwischen 1950 und 1990 hinter sich. Die osteuropäischen Länder kamen deutlich besser durch die 90er Jahre, obwohl ebenfalls Schocktherapien durchgeführt wurden. Auch die Aktionen der Treuhand in Ostdeutschland lassen sich sicherlich unter diesem Begriff subsumieren.
Ein Gedanke, der mich seit Jahrzehnten, kann man inzwischen schon sagen, verfolgt. Grossartig, dass es endlich eine fundierte Untersuchung dazu gibt. Danke für den Piq!