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Zeit und Geschichte

Unpiq: Kein Historikerstreit – Zur "Debatte" um Michael Rothberg

Achim Engelberg
schreibt, kuratiert, gibt heraus
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Achim EngelbergFreitag, 09.04.2021

Lange war kein Streit so wichtig und dennoch so öde. Es geht um das Gezänk und Gekeifer, das die deutsche Übersetzung "Multidirektionale Erinnerung" auslöste. Diesmal darf Thomas Schmid wieder einmal behaupten, Michael Rothberg leugne die Singularität der Shoah:

So blutig und mörderisch der Kolonialismus auch war – Ziel war nicht die Vernichtung um der Vernichtung willen. Deswegen ist der Holocaust singulär. Er war ein antisemitischer Genozid.

In dem von Thomas Schmid kritisierten Beitrag, den Michael Rothberg mit dem deutschen Historiker Jürgen Zimmerer schrieb, wird das aber gar nicht geleugnet. Zwei Belege:

Nun wird jeder verstehen, warum ein Bekenntnis zur Einzigartigkeit des Holocausts hierzulande zentral ist.

Auf der Basis einer empirisch gesättigten, weltgeschichtlichen Betrachtung lassen sich aber auch die singulären Elemente der Schoah deutlich benennen: der jahrhundertealte Antisemitismus mit seiner spezifischen Prägung durch das Phantasma einer jüdischen Weltverschwörung und die sich daraus ergebende Totalität und Unbedingtheit des Mordens ...

Wer auf die Website von Michael Rothberg geht oder mal das Buch aufschlägt, findet viele Belege, welche die Artikel, die ihn zum Buhmann machen wollen, ignorieren und verfälschen.

Warum aber?

Eindeutig ist der als Unpiq ausgewählte Text wie auch andere Gegenstimmen nicht, aber vielleicht gibt diese Stelle einen Fingerzeig:

Der "Westen" hat der Welt die Elektrizität, das Penicillin, das Auto und die Menschenrechte beschert. Er hat aber auch große Teile der Welt in Abhängigkeit gebracht und in ihrer Entwicklung gehemmt. Der Ausweg aus dieser Misere kann jedoch nicht in der Abkehr vom "Westen" bestehen.

Haben einige Angst, dass der "Westen" in der sich immer stärker herausbildenden multipolaren Welt ins Hintertreffen gerät?

Brauchen die Konservativen und die Reaktionären einen Buhmann, den man als Stoppschild gegen weiteres Nachdenken und Voranschreiten benötigt?

Hier kann man hören und sehen, wie Michael Rothberg im Gespräch seine Methode und sein Buch vorstellt.

Wer das getan hat, wird wahrscheinlich mein vorläufiges Fazit verstehen:

Kein neuer Historikerstreit, nirgends.

Aber es passt, was der konservative Michael Stürmer, ein Antipode von Jürgen Habermas beim Historikerstreit der 1980er Jahre, schrieb, dass

die Zukunft gewinnt, wer die Erinnerung füllt, die Begriffe prägt und die Vergangenheit deutet.

Wahrscheinlich, weil Michael Rothberg neue Wege aufzeigt, die Erinnerungen zu füllen, soll er mit einer Schein- und Ablenkungsdebatte ins Abseits gestellt werden.

Vielleicht entsteht aber noch eine produktive Debatte, ja auch Streit, wenn Wissenschaftler, Künstler und Publizisten den Weg weitergehen.

Unpiq: Kein Historikerstreit – Zur "Debatte" um Michael Rothberg

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Kommentare 11
  1. Cornelia Gliem
    Cornelia Gliem · vor mehr als 3 Jahre · bearbeitet vor mehr als 3 Jahre

    jaja Historikerstreit. den "ersten" verstehe ich ja noch, der hatte ....Berechtigung und dürfte einiges für Deutschland geklärt haben. Aber heutzutage? da dient der Vorwurf glaube ich tatsächlich der Ablenkung. und als Argumentationskeule.
    Ja, der Holocaust hat einiges Singuläres, aber doch ist er nicht vom Himmel gefallen.
    "Auf die Frage, warum dann nicht auch die anderen Kolonialmächte später ähnliche Verbrechen begangen haben" - ja, eine interessante Frage! Unabhängig davon dass Geschichte eben nicht linear verläuft und dass diese Frage nicht von allen beantwortet werden muss, die sich mit Kolonialgeschichte und -verbrechen beschäftigen.
    "Der Holocaust wurde nur von Deutschen begangen" - DAS scheint der Minimalkonsens zu sein, was am Holocaust so singular ist.... Verzeihen Sie meine Polemik.

    Dass aus den Kolinialverbrechen nicht automatisch Holocaust folgt, dürfte klar sein. Aber umgekeht? Die deutschen Offiziere und Beamten, die in Afrika Herero und Nama drangsalierten, vertrieben und ermordet haben, die sollen keinerlei Verbindung haben zu denen der Nazis, die später Juden, Osteuropäer, Sinti + Roma etc. verfolgten und ermordeten? (obwohl sie teilweise sogar in Personalunion agierten?)

    Kann sich die Historikerzunft oder besser noch: die Rezensenten nicht darauf einigen, bei der Diskussion, wie singulär das eine und ob beim anderen die Verbindungen so stringent waren, sch n i c h t einig zu sein? Und dafür dann jetzt endlich mal sich der Kolonialgeschichte Deutschlands zuwenden mit der gleichen Verve wie beim Holocaust?
    Letzterer dürfte als wissenschaftlich bereits gut thematisiert gelten - ersteres noch längst nicht!

  2. Stefan Dierkes
    Stefan Dierkes · vor mehr als 3 Jahre · bearbeitet vor mehr als 3 Jahre

    Bin erst vor kurzem auf Rothberg's Theorie gestoßen und direkt vermutet, dass da so eine Kritik kommt, obwohl, wie Sie zeigen, Rothberg sich klar zur Singularität bekennt.

    Die Argumente von Schmid sind teilweise wirklich abwegig: Er sagt dass "Hitler zwar den Osten unterwerfen, aber nie ein Kolonialreich errichten wollte." Ist denn der "Lebensraum im Osten" nicht genau die Idee einer Kolonie?

    Highlight ist auf jeden Fall: "Das geschieht, weil die Völker Europas, in unterschiedlichem Ausmaß, allmählich bereit sind, sich auch mit den düsteren Kapiteln ihrer Geschichte auseinanderzusetzen. Und es geschieht auch, weil die jahrzehntelange Beschäftigung mit den NS-Verbrechen die Öffentlichkeiten in bisher ungekanntem Maß für historisches Unrecht sensibilisiert hat." Das heißt, er meint die deutsche Gesellschaft sei singulär sensibel für historisches Unrecht? Ich denke, da würden Menschen, die sich heute in Deutschland mit den Kolonialverbrechen auseinandersetzen, eine ziemlich andere Geschichte erzählen.

    1. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor mehr als 3 Jahre

      Sehr richtig, sehr wichtig.

      Natürlich gab es Kolonialreichpläne. Einige altadlige Großgrundbesitzer zum Beispiel gierten nach den Schwarzerdegebieten in der Ukraine, sprachen sogar schon mit Goebbels und anderen.

  3. Ruprecht Polenz
    Ruprecht Polenz · vor mehr als 3 Jahre

    Die Bewertung des Holocaust als singuläres Menschheitsverbrechen ist ein Ergebnis historischer Vergleiche. Rothberg und Zimmerer bauen einen Strohmann auf, wenn sie behaupten, ihre Gegner wehrten sich gegen historische Vergleiche. Der Dissens betrifft das Ergebnis. Sie rücken Kolonialverbrechen in die Nähe des Holocaust. Zimmerer sieht die deutsche Kolonialgeschichte als eine Art „Vorübung“ zur Judenvernichtung. Auf die Frage, warum dann nicht auch die anderen Kolonialmächte später ähnliche Verbrechen begangen haben, gibt er keine Antwort, wie Schmidt richtig bemerkt. Der Holocaust sollte nicht in die Nähe der Kolonialverbrechen gerückt werden.

    Motivation (Vernichtung), Begehensweise (industriell organisierter Massenmord) und Begründung (Jude) machen einen substantiellen und essentiellen Unterschied zum Holocaust aus. Nur Juden wurden über einen ganzen Kontinent systematisch verfolgt, um sie umzubringen, aus einem einzigen Grund: weil sie Juden waren. Koloniale Verbrechen wurden auch von anderen Nationen begangen. Der Holocaust wurde nur von Deutschen begangen. Je mehr man ihn in die Nähe allgemeiner Kolonialverbrechen rückt, desto eher waren andere „fast genauso schlimm“. Aber das stimmt nicht.

    1. Stefan Dierkes
      Stefan Dierkes · vor mehr als 3 Jahre

      "Auf die Frage, warum dann nicht auch die anderen Kolonialmächte später ähnliche Verbrechen begangen haben, gibt er keine Antwort, wie Schmidt richtig bemerkt" - Warum sollten sie auch? Die Frage ist doch absichtlich tendenziös gestellt. Geschichte ist doch nicht linear. Nur weil A passiert ist, heißt es doch nicht, dass B darauf folgen muss.

      Ich finde es auch interessant, dass Sie am Ende ihres Kommentars selber in so eine Wettbewerbs-Rhetorik verfallen, also genau das was Rothberg unbedingt vermeiden wollte und seinen Kritikern mMn zu Recht vorwirft. Dabei sagt Rothberg ja deutlich: "Mein Buch wendet sich aber gegen ein Verständnis von Erinnerungskonflikten als Nullsummenspiel, also gegen die Vorstellung, dass sich Erinnerungen automatisch gegenseitig in der Öffentlichkeit verdrängen müssen". Außerdem sagt Rothberg eindeutig, dass er die Singularität anerkennt, also verstehe ich nicht so ganz, wie auch Sie ihm daraus einen Strick drehen wollen.

    2. Ruprecht Polenz
      Ruprecht Polenz · vor mehr als 3 Jahre

      @Stefan Dierkes Wenn ich Zimmerer richtig verstehe, zieht er schon ziemlich kausale Linien von dem Genozid an Herero und Nama zum Holocaust.

    3. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor mehr als 3 Jahre

      @Ruprecht Polenz Im von Zimmerer/Rothberg gemeinsam verfassten Artikel, auf den Thomas Schmid reagiert, werden Kausalitäten verneint.

      Auch in der oben verlinkten Diskussion mit Rothberg, in der er auf den Streit reagiert, werden Kausalitäten abgelehnt. Übrigens von allen.

    4. Ruprecht Polenz
      Ruprecht Polenz · vor mehr als 3 Jahre

      @Achim Engelberg Vielleicht schauen Sie mal in den Aufsatz von Zimmerer „Von Windhuk nach Auschwitz?“. Bitte lassen Sie sich von dem Fragezeichen in der Überschrift nicht irritieren.

    5. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor mehr als 3 Jahre

      @Ruprecht Polenz Das ist ein Buch aus dem Jahre 2011, das ich nicht zur Hand habe.

      Da ich mich auch in meinen neuem Buch
      https://www.penguinran...
      mit Erinnerungen auseinandersetze (nicht wissenschaftlich, sondern als erzählendes Sachbuch), las ich Rothberg.

      Mein Interesse liegt bei dessen aufbaufähigen Ansatz.

      Übrigens erweiterte er diesen mit diesem Nachfolger:
      https://www.sup.org/bo...

    6. Dirk Liesemer
      Dirk Liesemer · vor mehr als 3 Jahre

      @Achim Engelberg Wie sehr unsere Erinnerungskultur in Frage gestellt wird, hat übrigens Jan Fleischhauer kürzlich an einem kleinen, aber haarsträubenden Beispiel verdeutlicht: https://www.focus.de/p...

    7. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor mehr als 3 Jahre

      @Dirk Liesemer Ja, schrecklich diese Verleumdung von Herrn F.

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