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Zeit und Geschichte

Replik auf Egon Flaig in der Debatte um postkoloniale Gerechtigkeit

Dirk Liesemer
Autor und Journalist
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Dirk LiesemerDienstag, 13.12.2022

Ich hatte hier vor einiger Zeit einen Text des Historikers Egon Flaig empfohlen, der – wenig verwunderlich – Widerspruch provoziert hat. Nach der Historikerin Rebekka Habermas, die sich in der "Zeit" mit den Thesen ihres Kollegen auseinandergesetzt hat (ihr Text befindet sich an dieser Stelle hinter einer Bezahlschranke), mischt sich nun auch der Historiker Robert Heinze in die Debatte ein.

Kurz zur Erinnerung: Flaig hatte in seinem Text den antikolonialen Diskurs attackiert und die Forderung nach historischer Gerechtigkeit abgelehnt:

Seither leugnet der antikoloniale Diskurs vier historische Tatsachen: nämlich dass sämtliche Hochkulturen und, wie Orlando Patterson 1982 nachwies, auch eine Menge vorstaatlicher Ge­sellschaften sklavistische Systeme waren; dass nur in der westlichen Kultur ein Abolitionismus entstand und die weltweite Abschaffung der Sklaverei eine westliche Errungenschaft ist; dass sämtliche Eroberer diverse Formen von Kolonialismus praktizierten, wobei der arabische sicherlich der erfolgreichste war; dass Rassismus ein ubiquitäres Phänomen und in sklavistischen Gesellschaften geradezu un­ver­meidbar ist, und dass der hautfarbige Rassismus eine arabische Kreation ist.

Und Flaig schrieb zudem:

Die Schlussfolgerung ist unbequem: Die freien Afrikaner von heute verdanken ihre Freiheit just den abolitionistischen Interventionen von Briten und Franzosen. Sollen diese von den Afrikanern einen Kostenausgleich verlangen für die Rettung eines ganzen Kontinents vor der sicheren Versklavung?

Kein Wunder, dass solch eine Behauptung die halbe Zunft auf die Palme bringt. Werden in der historischen Forschung also wissenschaftliche Standards auf dem Altar moralischer Forderungen geopfert, wie Flaig behauptet? Oder süffiger: Wer braucht noch Geschichtswissenschaft, wenn man doch so schön über die Vergangenheit moralisieren kann? Es geht auch um die Frage, ob spätere Generationen für die Verbrechen ihrer Vorfahren aufkommen müssen – wobei in Frage gestellt wird, wer sich überhaupt Opfer nennen darf und wer als Täter zu gelten hat. Selbstverständlich wird die ziemlich komplexe Debatte schon länger und keineswegs nur in Deutschland geführt.

Robert Heinze greift nun ebenfalls Flaig an, wirft ihm Moralisierung vor und schreibt von "Flaigs Geschichtsphilosophie" (was man alles auch hier auf Blendle gegen ein paar Cent und für ein paar Tage nachlesen kann). Und Heinze nimmt sich Stellen vor, an denen Flaig abstrakt bleibt, etwa folgende:

Zudem wiederholt er ohne quellenkritische Reflexion die Selbstlegitimation der historischen Akteure der Kolonisierung. Dabei übernimmt er eine ganze geschichtsphilosophische Idee aus dieser Zeit, indem er schreibt: „Jeder Begriff von Fortschritt schleppt die Inkaufnahme der Kosten seiner eigenen Universalisierung mit sich.“ Flaig rechtfertigt damit Invasionen, Gewalt, den massiven Eingriff in afrikanische Gesellschaften und die jahrzehntelange Unterdrückung und rechtliche Diskriminierung kolonialer Untertanen. Das ist die Geschichtsphilosophie jenes Historismus, der selbst ein wesentlicher Bestandteil des kolonialen Projekts war.

Natürlich geht Heinze nicht auf alles ein, aber doch auch auf die von Flaig vehement kritisierte Wiedergutmachung. Heinze schreibt:

Es geht dabei gerade nicht darum, nachträglich aus der Warte heutiger Moral über die Sklavenhalter und Kolonisierer zu urteilen – im Gegenteil, gerade die Herausforderung durch die postkoloniale Theorie führte dazu, dass historische Analysen die Komplexitäten historischer Handlungsmacht betonten und binäre Gegensätze von „Herrschaft“ und „Widerstand“ genauso auflösten wie Zuschreibungen von individueller und kollektiver Opfer- und Täterschaft. Hier setzt das Problem der aktuellen Diskurse um Restitution und Reparationen an: Welche gesellschaftlichen Auswirkungen hatten die extraktiven Logiken des transatlantischen Sklavenhandels und des Kolonialismus für Afrika und andere von diesen betroffene Weltregionen? Welche davon wirken heute noch nach?

Der Begriff "extraktiv", der in der Pharmazie verwendet wird, heißt übrigens "ausziehend", "auslaugend", was "extraktive Logiken" sind, erschließt sich mir trotzdem nicht.

Ja, man merkt, es ist alles recht kompliziert, vielleicht komplizierter als es sein müsste, zumal es nicht nur vielfältige Formen von kolonialer Unterdrückung gab, zahlreiche Sklavenhaltersysteme, darunter auch bis ins frühe 19. Jahrhundert die Barbareskenstaaten im Norden Afrikas, nicht zu vergessen die arabischen Sklavenjäger, die noch weit mehr Afrikaner versklavt haben sollen als später die Europäer, worüber es jedoch kaum Aufzeichungen gibt, weshalb das Ganze wohl kaum erforscht wird – es auszublenden hieße aber, in einer eurozentristischen Sicht verfangen zu bleiben –, sondern zu alledem existiert auch ein ganzes Bündel von postkolonialen Theorien, die zwar mehr oder weniger in eine Richtung weisen, jedoch mit unterschiedlichen Schwerpunkten.

Replik auf Egon Flaig in der Debatte um postkoloniale Gerechtigkeit
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Kommentare 6
  1. Achim Engelberg
    Achim Engelberg · vor 2 Jahren

    Der Streit, Verzeihung, die Debatte geht weiter:
    https://blendle.com/i/...

    Hier der Schluss, der die Stoßrichtung zeigt:

    Im Kern hätte es in der Debatte eigentlich um die Frage der Wahrheit dieser von Heinze abgelehnten Thesen Flaigs gehen müssen. Diese Thesen fasst Heinze selbst wie folgt zusammen: „Transatlantischer Sklavenhandel, europäischer Kolonialismus und Rassismus seien keine historischen Sonderfälle, die Abolition und die ‚Zivilisierungsmission‘ dagegen schon.“ Zur Widerlegung dieser Thesen wird von Heinze aber wenig gesagt: Die Plantagenwirtschaft sei das Besondere und Einzigartige der modernen kolonialen Sklaverei, und die Haitianische Revolution gilt ihm als Beispiel für eine nichteuropäische Sklavenbefreiung. Plantagenwirtschaft mit Sklaven als historischer Sonderfall, römischer Latifundienwirtschaft zum Trotz? Die Haitianische Revolution ohne Revolutionäre und Revolution aus Paris?

    Flaigs Thesen hätten es gewiss verdient, historisch-vergleichend genau geprüft zu werden. Heinze hätte, um zu demonstrieren, dass diese Thesen unzutreffend seien, zeigen müssen, dass Sklavenhandel, Kolonialismus und Rassismus europäische Singularitäten darstellen oder dass es umgekehrt eine Abschaffung der Sklaverei und die Ideologie eines zivilisatorischen Kolonialismus auch außerhalb Europas und seiner Moderne gab.

    Dies hat er nicht gezeigt. Er hat vielmehr mit seinem Schuss auf den Historismus gar nicht auf Flaigs Thesen gezielt, sondern auf einen selbst gemachten Pappkameraden — halb relativistischen Historiker, halb dogmatischen Teufel — und daneben geschossen.

    1. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 2 Jahren · bearbeitet vor 2 Jahren

      Ja, das sehe ich auch so. Leider ist diese Art von Diskursen weit verbreitet. Man antwortet gar nicht inhaltlich auf den Diskurspartner (politischen Gegner?) sondern entwickelt seine Vorurteile/Vorwürfe fort …..

      Über die reale Geschichte lernt man dabei nichts.

    2. Dirk Liesemer
      Dirk Liesemer · vor fast 2 Jahre

      Der Begriff Debatte passt schon ganz gut, kommt ja von debattre, sich schlagen, den Text wollte ich auch noch piqen, mache ich gleich mal.

  2. Lutz Müller
    Lutz Müller · vor 2 Jahren

    Meldungen 19.12.2022:

    www.tagesschau.de/inla...
    U. a. kommt Hermann Parzinger zu Wort, insbesondere sein Statement im Video finde ich wichtig. In den bisherigen Diskussionen um die „historischen Fakten“ und die Schuldfrage sind nämlich die Kunst- und Kulturhistoriker außen vor geblieben.

    Niederlande entschuldigen sich für Sklaverei www.tagesschau.de/ausl...

  3. Thomas Wahl
    Thomas Wahl · vor 2 Jahren · bearbeitet vor 2 Jahren

    Ich finde, das Heinze vieles unterstellt, was Flaig gar nicht meint oder so gesagt hat. Ich kann mich nicht erinnern, dass Flaig irgendwo von Sonderfällen spricht. Was ist in der Geschichte ein Sonderfall? Und warum soll die Kolonialisierung ein Sonderfall sein? Und Flaig schildert in seinem Buch sehr wohl die unterschiedlichen Formen der Sklaverei. Das sind einfach falsche Behauptungen. Und sein Motto lautet zusammenfasst gerade nicht "„Wir nicht, die anderen auch" sondern "Wir und die anderen auch". Was eben nicht bedeutet, das es nicht unterschiedliche Formen, Ziele und Arbeitsteilungen bei den sklavistischen Gesellschaften gegeben hat. Auch begründet Flaig den Kolonialismus nicht mit der Abschaffung der Sklaverei. Aber er sagt, das hat bei der Begründung/Rechtfertigung eine Rolle gespielt. Es ist also keine Relativierung. Kann man ähnlich auch bei Osterhammel nachlesen. Flaig behauptet ja m.W. ebenfalls nicht, das das Plantagensystem bei der Sklaverei keine Rolle gespielt habe. Auch der Satz „Jeder Begriff von Fortschritt schleppt die Inkaufnahme der Kosten seiner eigenen Universalisierung mit sich“ bedeutet keinerlei Relativierung von Gewalt etc. Das sind moralisierende ad hoc - Zuschreibungen. ….

  4. Lutz Müller
    Lutz Müller · vor 2 Jahren · bearbeitet vor 2 Jahren

    "extraktive Logiken":
    Analogie zu "extraktive Industrie" = Bergbau.
    Der Begriff wird in vielerlei Hinsicht für die Ausbeutung von Ressourcen verwendet.
    Beispiel: www.tandfonline.com/do...
    Sogar auch für die Ausbeutung personenbezogener Daten: https://fahrplan22.bit...
    Asia Bazdyrieva sprach in ihrem Essay über die doppelte Kolonialisierung der Ukraine von „resourcification“ (hier gepiqt: www.piqd.de/europa-eu/... )

    Da es beim Sklavenhandel um Menschen ging, finde ich den Begriff schon problematisch. Genauso HR - im angelsächsischen Raum verbreitet und auch bei uns als Humanressourcen angekommen ...

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