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Kurator'in für: Flucht und Einwanderung Literatur Fundstücke Zeit und Geschichte
Dissertation über John Berger (Dr. phil.). Seine Essays und Interviews, seine Reportagen und Rezensionen erscheinen u. a. in Neue Zürcher Zeitung, Blätter für deutsche und internationale Politik, Sinn und Form, Jacobin und Lettre International. Als Historiker wertet er den in der Berliner Staatsbibliothek vorliegenden Nachlass seines Vaters aus. So erschienen »Die Bismarcks. Eine preußische Familiensaga vom Mittelalter bis heute« (2010, zusammen mit Ernst Engelberg) oder die von ihm herausgegebene Neuedition von Ernst Engelbergs »Bismarck. Sturm über Europa« (2014). Als Buchautor publizierte er zuletzt das literarische Sachbuch »An den Rändern Europas« (2021).
Jetzt bitten wir den Rest von Ihnen, keine Angst zu haben.
So Oleksij Resnikow, Verteidigungsminister der Ukraine, am Beginn einer bislang siegreichen Gegenoffensive.
Diese kam für nahezu alle Beobachter überraschend und für die Mehrheit sowieso. Monatelang behaupteten etliche Medienintellektuelle, dass das nicht möglich sei, dass die Ukraine keine Chancen habe.
Wie aber war das möglich? Lag es allein an westlichen Waffen oder war da noch mehr. Noch können wir den Nebel des Krieges nicht vollständig durchblicken, aber im ersten Beitrag erläutert Constantin Seibt überzeugend, möglicherweise noch nicht vollständig, wie das ukrainische Militär sich so erfolgreich entwickelte:
Denn in der Regel schaffen es grosse Organisationen zuverlässig, neugierige Köpfe auszusortieren. Mit einer Ausnahme: Nach Niederlage und Schande sind diese plötzlich gefragt.
Nach den Niederlagen 2014 kamen ungewöhnliche Personen in die ukrainische militärische Führung, während die russische Armee weiter degenerierte. Gewalt, Diebstahl und Illusionen prägen diese bis heute.
Die Vorgänge weisen über das konkrete historische Ereignis hinaus, ja sogar über das Militärische. Vergleichbares – und das macht den Beitrag besonders – findet man auch bei uns und anderen, die die Ukraine mit Waffen unterstützen.
Das Afghanistan-Debakel hatte nicht gleiche, aber ähnliche Wurzeln:
Die USA hatten 20 Jahre lang 83 Milliarden Dollar in den Aufbau einer regulären Armee gesteckt. Sie war weit zahlreicher und weit schwerer bewaffnet als die Taliban. Und doch brach sie in vier Wochen zusammen, so gut wie ohne Kampf.
Dicht und überzeugend wird in diesem Beitrag erläutert, wie die Ukraine sich wieder zum Handelnden entwickelte.
Das war aber auch angelegt in den historischen Erfahrungen dieses Landes, dieser Übergangsregion. Um das zu begreifen, sei dieser Beitrag des Osteuropahistorikers Fabian Baumann empfohlen.
Er bespricht das so eben auf Deutsch erschienene Buch Das Tor Europas, das Ergebnis jahrzehntelanger Forschungen des ukrainischstämmigen Harvard-Professors Serhii Plokhy (gesprochen Plochij – mit Betonung auf der zweiten Silbe).
Das Wort Ukraine ist nämlich mit dem altostslawischen Begriff für Grenzland verwandt – und Plokhy nimmt diese Wortgeschichte ernst, spielt sie als zentrale Denkfigur seines Textes durch. Das historische Hauptmerkmal des Landes ist für ihn die «Fähigkeit der ukrainischen Gesellschaft, innere und äussere Grenzen zu überschreiten und die durch sie geschaffenen Identitäten zu verarbeiten». Die Entstehung und Überwindung von Grenzen ist das Leitmotiv seines Buchs.
So gelingt Plokhy der Balanceakt, die Ukraine als eigenständigen historischen Raum zu präsentieren, ohne das falsche Bild eines seit jeher abgeschlossenen Landes zu zeichnen.
Mit den im Beitrag dargelegten Erkenntnissen gerät der erste Beitrag über die Gegenoffensive in Schwingungen und erhält Tiefenschärfe.
Wird sie in der Lage sein, dem noch größeren Druck der wirtschaftlichen Kolonialisierung durch westliche multinationale Unternehmen standzuhalten?
Dieser Kampf spielt sich hinter dem heldenhaften Widerstand der Ukraine bereits ab. Es wäre fatal, wenn die Ukraine den russischen Neoimperialismus besiegen würde, nur um sich anschließend dem westlichen Neoliberalismus zu unterwerfen. Um echte Freiheit und Unabhängigkeit zu erlangen, muss sich die Ukraine neu erfinden. Es ist sicherlich besser, eine westliche Wirtschaftskolonie zu sein als in ein neues russisches Imperium einverleibt zu werden – trotzdem ist keiner dieser Ausgänge das aktuelle Leid der Ukrainerinnen wert.
Quelle: Constantin Seibt, Fabian Baumann, Slavoj Žižek www.republik.ch
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Žižek mag das so feststellen, aber in all dem Nebel und den ständig tendenziösen Berichterstattungen auch auf der "guten" Seite, entwickle ich an der Stelle nun doch ein wenig eine Meinung und finde es unlauter die diffuse "neoliberale" Bedrohung irgendwie relativierend gegen die superkonkrete, schreckliche Bedrohung durch den Angriff Russlands zu stellen. Das ist kein schlüssiges Paar oder?
Interessanter wäre für mich tatsächlich die Betrachtung und ehrliche Einordnung des westlichen Kalküls und zwar fast noch mehr retrospektiv, als genau jetzt. Und das ist für mich eine krasse Erfahrung, wie das weiter kaum möglich ist und unfassbar unversöhnlich niedergeschrien wird. Auch persönlich - wo immer ich im social net auch nur gefragt habe oder etwas angemerkt habe in der Sache, ist sofort jemand da, der mich zurechtweist, angreift und mich mit seinen Prämissen als Fakten überzieht. Immer knapp davor, dass man als Putin Troll bezichtigt wird (auch das hatte ich schon), einfach weil man sich dem totalen Schwarzweiß verweigert, wobei es eben nicht um die Relativität von Schwarz, sondern um die von Weiß geht. Interessanter Weise eigentlich immer Menschen, die ich seit Jahren als sehr kluge und besonnene Beobachter kenne.
Michael Seemann fragte auf Twitter, warum auf einmal so viel totale Beachtung auf diese Detailfrage nach den deutschen Kampfpanzern gelegt wird und warum da auf einmal keine zwei Meinungen mehr möglich sind. Wörtlich: "warum wollen plötzlich alle auf diesem Hügel sterben?" Das sprach mir aus der Seele und ich bin irritiert und beunruhigt, ob dieser amS sehr unguten Polarisierung und damit auch Verflachung der Betrachtung und der Debatte eben auch in den Kreisen, die ich eben immer als ausgeruht und analytisch betrachtet habe.
Danke für den guten Überblick Achim!