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Kurator'in für: Flucht und Einwanderung Literatur Fundstücke Zeit und Geschichte
Dissertation über John Berger (Dr. phil.). Seine Essays und Interviews, seine Reportagen und Rezensionen erscheinen u. a. in Neue Zürcher Zeitung, Blätter für deutsche und internationale Politik, Sinn und Form, Jacobin und Lettre International. Als Historiker wertet er den in der Berliner Staatsbibliothek vorliegenden Nachlass seines Vaters aus. So erschienen »Die Bismarcks. Eine preußische Familiensaga vom Mittelalter bis heute« (2010, zusammen mit Ernst Engelberg) oder die von ihm herausgegebene Neuedition von Ernst Engelbergs »Bismarck. Sturm über Europa« (2014). Als Buchautor publizierte er zuletzt das literarische Sachbuch »An den Rändern Europas« (2021).
Vor Corona publizierte der in Jugoslawien aufgewachsene und in den USA lebende Ökonom und Ungleichheits-Experte Branko Milanović "Capitalism, Alone. The Future of the System That Rules the World". Während der Pandemie erschien die deutsche Übersetzung bei Suhrkamp.
Im Gespräch mit Daniel Binswanger für die Schweizer Republik erläuterte der Ökonom, was die Seuche offenlegt: zerklüftete Gesellschaften.
Ungleichheit erschöpft sich nicht darin, dass ein kleiner Teil der Bevölkerung sehr viel Geld hat. Sie charakterisiert sich dadurch, dass sich die Privilegien auf Kinder und auf Kindeskinder ausdehnen. Wenn dieser Zustand zu lange anhält, wird das Versprechen von Chancengleichheit und demokratischer politischer Gestaltungsmacht hinfällig. Dann wird das Fundament des politischen Systems bedroht.
Branko Milanović sieht keine Konvergenz der verschiedenen kapitalistischen Systeme, der parlamentarisch-demokratischen, der autoritären und der breiten Skala der hybriden Zwischenstufen. Aber überall separieren sich die Herrschenden wie eine neue Aristokratie.
Das ganze System muss so reformiert werden, dass die öffentliche Bildung besser wird als die private. Sonst kann die Verbindung zwischen dem Einkommen der Eltern und dem Erfolg der Kinder nicht durchbrochen werden. Doch wenn man die reale Entwicklung in den USA anschaut, kann man nur feststellen, dass sowohl die Bildungspolitik als auch die Steuerpolitik immer weniger liberal im Sinn von Rawls werden.
Dadurch wird ein Problem relevant, das schon Marx und Schumpeter beschäftigte, die Fähigkeit einer Gesellschaft,
Talente auch aus ihren unteren Schichten zu rekrutieren. Wenn das nicht mehr klappt, hat sie ein bedrohliches Problem.
Zwar gefährden die verschiedenen Ausformungen des globalisierten Kapitalismus das gesellschaftliche Zusammenleben, aber dennoch wirken viele dieser Formen noch anziehend. Deshalb wünscht die Mehrheit die Rückkehr zur "Normalität".
Der Erfolg des Kapitalismus beruht darauf, dass er mit unserem eigentlichen Wertesystem übereinstimmt. Wenn die überwältigende Mehrheit der Erdenbürgerinnen nicht bereit wäre, die Anhäufung von Vermögen und die Steigerung von Einkommen zum obersten Ziel zu machen, würden wir weder hart genug arbeiten noch verschwenderisch genug konsumieren, um das kapitalistische System zu erhalten und seine permanente Expansion zu ermöglichen. ... Das Profitstreben gibt ihm eine unbegrenzte Dynamik. Und jeden Tag von neuem legen wir den Beweis ab, dass es das oberste unserer Handlungsmotive ist: Denn ein Gesellschaftssystem, das nicht den Grundwerten seiner Akteure entspricht, kann sich nicht durchsetzen.
Das führt überall zu Zeitdruck und kurzfristigen "Lösungen". Deshalb setzt Daniel Binswanger mit Hinweis auf Branko Milanović mit einem Beitrag Die Welt von morgen die Debatte fort:
In der Pandemiebekämpfung wie in der Klimapolitik muss die Politik aufgrund von wissenschaftlichen Prognosen weitreichende Entscheidungen treffen, in der Gegenwart handeln, um künftige Schäden abzuwenden, wirtschaftlich extrem kostspielige Massnahmen ergreifen, die sich rechnen, aber erst auf lange Sicht. ... Die westlichen Demokratien sind in der Corona-Krise mehrheitlich daran gescheitert, zwei, drei Monate vorauszublicken.
Wie das zu machen ist, das ist überwältigend unbeantwortbar, weshalb Daniel Binswanger Fragen stellt:
Sitzt uns diese Katastrophe tief genug in den Knochen, dass wir aus ihr wirklich lernen? Dass wir die Verteilungsprobleme, welche die heutigen Demokratien bedrohen, entschiedener angehen? Dass wir den Staaten die nötige Handlungsfähigkeit restituieren? Dass wir mit der Umwelt und mit epidemiologischen Externalitäten einen rationalen Umgang finden? Oder werden wir auch diese Krise aussitzen und warten, bis die nächste kommt? Bis autoritäre Regierungsformen dem liberalen Verfassungsstaat den Rang schliesslich abgelaufen haben?
Aber wo bleiben die Antworten?
Da kann man den Schweizer Künstler Friedrich Dürrenmatt zitieren, der heute 100 Jahre alt geworden wäre, mit seiner 18. seiner berühmten Thesen zu den "Physikern":
Jeder Versuch eines Einzelnen, für sich zu lösen, was alle angeht, muss scheitern.
Quelle: Branko Milanović, Daniel Binswanger www.republik.ch
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Immerhin hat Corona schon eines fest und erneut etabliert: der Staat wird wieder stark gewünscht.