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Zeit und Geschichte

Gestern & Heute: War die DDR ein Turmbau von Babel?

Achim Engelberg
schreibt, kuratiert, gibt heraus
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Achim EngelbergMontag, 07.10.2024

Am 7. Oktober 1949 kam es zur Gründung der DDR. Und was Friedrich Schiller über den Wallenstein sagt, trifft auch auf diesen kurzlebigen deutschen Staat zu:

Von der Parteien Gunst und Hass verwirrt,

schwankt sein Charakterbild in der Geschichte.

Heute haben wir diffamierende, verklärende und erklärende Ansichten über den bereits im Jahr 1990 verschwundenen Staat.

Beginnen möchte ich mit einem unheilverkündenden, zu seinen Lebzeiten nicht veröffentlichten Gedicht des Lyrikers und DDR-Kulturministers Johannes R. Becher,

so beginnt der Historiker Mario Keßler seinem aufschlussreichen Aufsatz zur Gründung der DDR:

Das ist der Turm von Babel,

Er spricht in allen Zungen.

Und Kain erschlägt den Abel

Und wird als Gott besungen.

Er will mit seinem Turme

Wohl in den Himmel steigen

Und will vor keinem Sturme,

Der ihn umstürmt, sich neigen.

Gerüchte aber schwirren

Die Wahrheit wird verschwiegen

Die Herzen sich verwirren

So hoch sind wir gestiegen.

Das Wort wird zur Vokabel

Um sinnlos zu verhallen.

Es wird der Turm zu Babel

Im Sturz zu nichts zerfallen.

Der Literaturwissenschaftler Hans Mayer stellte dieses Gedicht an den Anfang wie an das Ende seines Buches «Der Turm von Babel. Erinnerung an eine Deutsche Demokratische Republik». Darin suchte er nach den Gründen für das Scheitern der DDR. In diesem 1991 erschienenen Werk sezierte er die Widersprüche im hohen Anspruch einer antifaschistisch-demokratischen Ordnung und kritisierte die nur allzu zahlreichen Propagandabehauptungen und «weißen Flecken» der offiziellen DDR-Ideologie. Aber Hans Mayers Kritik unterschied sich himmelweit von der Geschichtsschreibung der Sieger, denn für Mayer bedeutete das Ende der DDR «nicht das Ende eines Denkens über gesellschaftliche Alternativen. Die Deutsche Demokratische Republik war stets eine deutsche Wunde. Sie wird es bleiben und nicht heilen, solange man nicht erkennt, dass hier eine deutsche Möglichkeit zugrunde ging.»

Im Weiteren untersucht Mario Keßler mit Begriffen wie Repression und Toleranz die besondere Herrschaft in der DDR. Das ist an sich nicht neu, aber der Historiker erweitert den Blickwinkel und beobachtet die DDR als Teil der europäischen Geschichte und der kommunistischen Bewegung, 

die für die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg durchaus auch auf offene Konstellationen der Politik verweist.

Aber verfolgen wir die Spur des Anfangs zitierten Hans Mayer (1907-2001) weiter. Als Jude, linker und Homosexueller floh er vor der Nazidiktatur. Als Shoah-Überlebende kehrte der Literaturwissenschaftler und Schriftsteller ins geteilte Deutschland zurück. In Leipzig hinterließ er tiefe Spuren, nicht zuletzt wegen seiner Schüler wie Christa Wolf oder Uwe Johnson.

Im Jahre 1995 befragte Cornelia Geißler den für ein tieferes Verständnis der DDR aufschlussreichen Autor Hans Mayer:

Und so meine ich, die Kultur der DDR besteht weiter. Insbesondere hier in Berlin. In Berlin gibt es nach wie vor kulturell gesehen zwei Städte. Es gibt die Ost-Berliner Kultur-Gruppe, eine in sich geschlossene geistige Einheit, die sich aus vielen Gründen auch frustriert und enttäuscht fühlt. Und es gibt die West-Berliner Tradition, zu der auch die Tatsache gehört, daß die Akademie der Künste ein Zentrum der Vereinigung geworden ist. Aber innerhalb des Landes ist Berlin im Moment die rühmliche Ausnahme. Denn hier gibt es gewisse Vermischungen der Szenen. Am Rhein haben doch viele Menschen noch nichts davon mitbekommen, was die Vereinigung bedeutet. Das ist völlig richtig. Die Dinge sind wirklich, entschuldigen Sie das harte Wort: dialektisch zu verstehen.

Diese 1995 geäußerten Positionen bestätigen die heutige Soziologie. (Siehe Pick mit Steffen Mau).

Wer jetzt auf Hans Mayer neugierig geworden ist und ihn sehen will: im Jahre 1987 gab er dieses Interview in der ZDF-Serie "Zeugen des Jahrhunderts".

Christoph Hein gestaltete in seinem Roman "Verwirrnis" (hier im yourbookshop) eine Figur, die an Hans Mayer erinnert. Das entdeckten auch etliche Rezensenten; wenige aber erkannten, dass unter einer relativ glatten Erzähloberfläche die Dramaturgie des Werkes eine ist, die das Denken in Alternativen trainiert.

Also das, was der Historiker Mario Keßler an Hans Mayer schätzt. Sein beachtenswerter Essay beginnt mit Becher und Mayer und endet mit einem anderen, den man lesen sollte: Victor Serge.

"Die große Ernüchterung" gehört zu den Klassikern des Zeitalters der Extreme. Hier stellt er mit künstlerischen Mitteln das Realisierte dar; das Unabgegoltene benennt Victor Serge so:

Freiheit ist für den Sozialismus eine Notwendigkeit, der Geist der Freiheit ist für den Marxismus so lebensnotwendig wie der Sauerstoff für lebende Wesen.

Diese Utopie begleitete die vor 75 Jahren gegründete DDR. Aber es gab für sie keinen Ort. Nirgends. Dieser Möglichkeitsraum macht es schwierig, über den vor fast 35 Jahren verschwundenen deutschen Staat zu urteilen.

Gestern & Heute: War die DDR ein Turmbau von Babel?

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Kommentare 3
  1. Thomas Wahl
    Thomas Wahl · vor einem Monat

    Warum sollte es ein irgendwie gedachter Möglichkeitsraum schwierig machen über die DDR zu urteilen? Das würde ja bedeuten, dass man überhaupt nicht über wirkliche Geschichte urteilen könne. Denn utopische Flausen über Möglichkeiten gab es in allen Gesellschaften zu allen Zeiten. Und ehrlicherweise müßte man auch die viel schlimmeren Möglichkeiten einbeziehen. Die man in den meisten anderen Sozialismusversuchen gesehen hat. Ein wirklich gelungenes Experiment hat es meines Wissens nirgendwo gegeben.Vielleicht sollte man das Herumreiten auf mehr oder weniger intellektuellen Glasperlenspielen abschließen und sich der gewesenen Realität zu wenden? Denn der Prüfstein des Denkens ist nun mal die Wirklichkeit ……

    1. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor einem Monat

      Weil sich die Einschätzung von Hans Mayer nach über 30 Jahren als wahr erwiesen hat, ist es eben kein Glasperlenspiel. Deshalb ist die im Kommentar dargelegte Haltung widerlegt.

      "Aber Hans Mayers Kritik unterschied sich himmelweit von der Geschichtsschreibung der Sieger, denn für Mayer bedeutete das Ende der DDR «nicht das Ende eines Denkens über gesellschaftliche Alternativen. Die Deutsche Demokratische Republik war stets eine deutsche Wunde. Sie wird es bleiben und nicht heilen, solange man nicht erkennt, dass hier eine deutsche Möglichkeit zugrunde ging.»"

    2. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor einem Monat · bearbeitet vor einem Monat

      @Achim Engelberg Welche Einschätzung von Hans Mayer soll sich als wahr erwiesen haben? Das "die Kultur" der DDR weiterbesteht? Im Ernst? Das Intellektuelle immer über alles Mögliche nachdenken und natürlich auch über gesellschaftliche Alternativen ist ja richtig. Besagt nur nicht viel über deren Chancen. Und ja, mit jedem Schritt in der Geschichte endet eine andere Möglichkeit. Das muß man nicht am Beispiel der DDR überhöhen. Und zu jeder Möglichkeit gehört eine Wahrscheinlichkeit. Wie hoch war denn die Wahrscheinlichkeit für den Erfolg der DDR? Oder für ein neues Experiment dieser Art? Für Alternativen überhaupt. Das Denken in Alternativen hilft gar nichts, wenn man nicht auch in Wahrscheinlichkeiten denkt. Es hieß ja, den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf. Ja, es waren nicht Ochs und Esel, es waren die übersehenen Wahrscheinlichkeiten.

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