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Kurator'in für: Flucht und Einwanderung Literatur Fundstücke Zeit und Geschichte
Dissertation über John Berger (Dr. phil.). Seine Essays und Interviews, seine Reportagen und Rezensionen erscheinen u. a. in Neue Zürcher Zeitung, Blätter für deutsche und internationale Politik, Sinn und Form, Jacobin und Lettre International. Als Historiker wertet er den in der Berliner Staatsbibliothek vorliegenden Nachlass seines Vaters aus. So erschienen »Die Bismarcks. Eine preußische Familiensaga vom Mittelalter bis heute« (2010, zusammen mit Ernst Engelberg) oder die von ihm herausgegebene Neuedition von Ernst Engelbergs »Bismarck. Sturm über Europa« (2014). Als Buchautor publizierte er zuletzt das literarische Sachbuch »An den Rändern Europas« (2021).
Am 7. Oktober 1949 kam es zur Gründung der DDR. Und was Friedrich Schiller über den Wallenstein sagt, trifft auch auf diesen kurzlebigen deutschen Staat zu:
Von der Parteien Gunst und Hass verwirrt,schwankt sein Charakterbild in der Geschichte.
Heute haben wir diffamierende, verklärende und erklärende Ansichten über den bereits im Jahr 1990 verschwundenen Staat.
Beginnen möchte ich mit einem unheilverkündenden, zu seinen Lebzeiten nicht veröffentlichten Gedicht des Lyrikers und DDR-Kulturministers Johannes R. Becher,
so beginnt der Historiker Mario Keßler seinem aufschlussreichen Aufsatz zur Gründung der DDR:
Das ist der Turm von Babel,Er spricht in allen Zungen.
Und Kain erschlägt den Abel
Und wird als Gott besungen.
Er will mit seinem Turme
Wohl in den Himmel steigen
Und will vor keinem Sturme,
Der ihn umstürmt, sich neigen.
Gerüchte aber schwirren
Die Wahrheit wird verschwiegen
Die Herzen sich verwirren
So hoch sind wir gestiegen.
Das Wort wird zur Vokabel
Um sinnlos zu verhallen.
Es wird der Turm zu Babel
Im Sturz zu nichts zerfallen.
Der Literaturwissenschaftler Hans Mayer stellte dieses Gedicht an den Anfang wie an das Ende seines Buches «Der Turm von Babel. Erinnerung an eine Deutsche Demokratische Republik». Darin suchte er nach den Gründen für das Scheitern der DDR. In diesem 1991 erschienenen Werk sezierte er die Widersprüche im hohen Anspruch einer antifaschistisch-demokratischen Ordnung und kritisierte die nur allzu zahlreichen Propagandabehauptungen und «weißen Flecken» der offiziellen DDR-Ideologie. Aber Hans Mayers Kritik unterschied sich himmelweit von der Geschichtsschreibung der Sieger, denn für Mayer bedeutete das Ende der DDR «nicht das Ende eines Denkens über gesellschaftliche Alternativen. Die Deutsche Demokratische Republik war stets eine deutsche Wunde. Sie wird es bleiben und nicht heilen, solange man nicht erkennt, dass hier eine deutsche Möglichkeit zugrunde ging.»
Im Weiteren untersucht Mario Keßler mit Begriffen wie Repression und Toleranz die besondere Herrschaft in der DDR. Das ist an sich nicht neu, aber der Historiker erweitert den Blickwinkel und beobachtet die DDR als Teil der europäischen Geschichte und der kommunistischen Bewegung,
die für die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg durchaus auch auf offene Konstellationen der Politik verweist.
Aber verfolgen wir die Spur des Anfangs zitierten Hans Mayer (1907-2001) weiter. Als Jude, linker und Homosexueller floh er vor der Nazidiktatur. Als Shoah-Überlebende kehrte der Literaturwissenschaftler und Schriftsteller ins geteilte Deutschland zurück. In Leipzig hinterließ er tiefe Spuren, nicht zuletzt wegen seiner Schüler wie Christa Wolf oder Uwe Johnson.
Und so meine ich, die Kultur der DDR besteht weiter. Insbesondere hier in Berlin. In Berlin gibt es nach wie vor kulturell gesehen zwei Städte. Es gibt die Ost-Berliner Kultur-Gruppe, eine in sich geschlossene geistige Einheit, die sich aus vielen Gründen auch frustriert und enttäuscht fühlt. Und es gibt die West-Berliner Tradition, zu der auch die Tatsache gehört, daß die Akademie der Künste ein Zentrum der Vereinigung geworden ist. Aber innerhalb des Landes ist Berlin im Moment die rühmliche Ausnahme. Denn hier gibt es gewisse Vermischungen der Szenen. Am Rhein haben doch viele Menschen noch nichts davon mitbekommen, was die Vereinigung bedeutet. Das ist völlig richtig. Die Dinge sind wirklich, entschuldigen Sie das harte Wort: dialektisch zu verstehen.
Diese 1995 geäußerten Positionen bestätigen die heutige Soziologie. (Siehe Pick mit Steffen Mau).
Christoph Hein gestaltete in seinem Roman "Verwirrnis" (hier im yourbookshop) eine Figur, die an Hans Mayer erinnert. Das entdeckten auch etliche Rezensenten; wenige aber erkannten, dass unter einer relativ glatten Erzähloberfläche die Dramaturgie des Werkes eine ist, die das Denken in Alternativen trainiert.
Also das, was der Historiker Mario Keßler an Hans Mayer schätzt. Sein beachtenswerter Essay beginnt mit Becher und Mayer und endet mit einem anderen, den man lesen sollte: Victor Serge.
"Die große Ernüchterung" gehört zu den Klassikern des Zeitalters der Extreme. Hier stellt er mit künstlerischen Mitteln das Realisierte dar; das Unabgegoltene benennt Victor Serge so:
Freiheit ist für den Sozialismus eine Notwendigkeit, der Geist der Freiheit ist für den Marxismus so lebensnotwendig wie der Sauerstoff für lebende Wesen.
Diese Utopie begleitete die vor 75 Jahren gegründete DDR. Aber es gab für sie keinen Ort. Nirgends. Dieser Möglichkeitsraum macht es schwierig, über den vor fast 35 Jahren verschwundenen deutschen Staat zu urteilen.
Quelle: Mario Keßler, Hans Mayer, Cornelia Geißler u. a. Bild: picture alliance ... www.rosalux.de
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Warum sollte es ein irgendwie gedachter Möglichkeitsraum schwierig machen über die DDR zu urteilen? Das würde ja bedeuten, dass man überhaupt nicht über wirkliche Geschichte urteilen könne. Denn utopische Flausen über Möglichkeiten gab es in allen Gesellschaften zu allen Zeiten. Und ehrlicherweise müßte man auch die viel schlimmeren Möglichkeiten einbeziehen. Die man in den meisten anderen Sozialismusversuchen gesehen hat. Ein wirklich gelungenes Experiment hat es meines Wissens nirgendwo gegeben.Vielleicht sollte man das Herumreiten auf mehr oder weniger intellektuellen Glasperlenspielen abschließen und sich der gewesenen Realität zu wenden? Denn der Prüfstein des Denkens ist nun mal die Wirklichkeit ……