Mit 94 Jahren starb Milan Kundera in Paris, wo der tschechisch-französische Schriftsteller in den letzten Jahrzehnten weitgehend zurückgezogen lebte. Man weiß wenig über den Mann hinter seinen Romanen, die oft Bestseller waren und nicht selten sich als Klassiker erwiesen und entwickeln. 

Die vielen Nachrufe, die weltweit erschienen, konnten auch nicht viel mehr erzählen, als es Jarmila Buzkova in dem Porträtfilm "Milan Kundera - Die Ironie des Seins" gelang.

Hier gibt es auch etliche Filmausschnitte aus der Zeit, als er im intellektuellen Zentrum der politischen und künstlerischen Reformbewegungen in Prag stand, die im August 1968 durch sowjetische Panzer niedergewalzt worden sind.

Der sehenswerte Film ist jetzt wieder bis zum 10. Oktober 2023 in der arte Mediathek zu sehen.

Milan Kunderas bekanntestes Werk bleibt "Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins", aber als Einstieg ist auch geeignet "Das Buch vom Lachen und Vergessen", in dem sein oft zitierter Satz steht:

Der Kampf des Menschen gegen die Macht ist der Kampf des Gedächtnisses gegen das Vergessen,

Neben dem Romancier gibt es auch den Essayisten Kundera, der ebenso noch lange nachhallt. Sein berühmter Beitrag "The Tragedy of Central Europe", der zuerst 1984 in The New York Review of Books erschien, ist momentan frei zugänglich.

In Zeiten des Kalten Krieges geschrieben, wird er gerade nach der Ausweitung der Kriegszone in der Ukraine neu gelesen. So etwa von dem polnischen Essayisten Jacek Hajduk in seinem in deutscher Übersetzung zu lesenden "Die Tragödie Mitteleuropas, oder: Kundera wiedergelesen".

Er sieht viele Fragen und Gedanken als immergrün an. Deshalb sein Fazit:

Ja, die Frage nach der Identität Mitteleuropas wird nie an Aktualität verlieren. Was ist diese Welt an der Grenze von Welten? Wie ist der Raum zwischen West und Ost und zwischen Nord und Süd zu definieren? Wahrscheinlich steckt darin eine große Weisheit, dass die Chinesen immer schon fünf Himmelsrichtungen zählen: Norden, Süden, Osten, Westen… und die Mitte.

Und zum langen Abschied drei kurze Zitate aus Kunderas Aufsatz zu seiner Heimatregion:

Im November 1956 schickte der Direktor der ungarischen Nachrichtenagentur kurz vor der Zerstörung seines Büros durch Artilleriebeschuss ein Fernschreiben in die ganze Welt, in dem er verzweifelt mitteilte, dass der russische Angriff auf Budapest begonnen habe. Die Nachricht endete mit diesen Worten: "Wir werden für Ungarn und für Europa sterben".

…

Wenn Solschenizyn die kommunistische Unterdrückung anprangert, beruft er sich dann auf Europa als einen Grundwert, für den es sich zu sterben lohnt? Nein. "Für sein Land und für Europa zu sterben" - das ist ein Satz, den man in Moskau oder Leningrad nicht denken konnte; es ist genau der Satz, den man in Budapest oder Warschau denken konnte.

…

Infolgedessen entwickelten sich in Europa nach dem Krieg drei grundlegende Situationen: die Westeuropas, die Osteuropas und, was am kompliziertesten ist, die des Teils Europas, der geografisch in der Mitte liegt - kulturell im Westen und politisch im Osten.

Heute denkt man bei solchen Sätzen aus dem Jahr 1984 an Aussagen aus der Ukraine, dem klassischen Grenzland Europas, wo gerade wieder um dessen Grenzen gekämpft und gestorben wird.

Von untergründiger Aktualität ist ein Gespräch aus dem Jahr 1980, das der legendäre amerikanische Autor Philip Roth mit Milan Kundera im Pariser Exil führte.

Wenn mir jemand als Junge gesagt hätte: Eines Tages wirst du sehen, wie deine Nation von der Welt verschwindet, hätte ich das für Unsinn gehalten, für etwas, das ich mir unmöglich vorstellen kann. Ein Mensch weiß, dass er sterblich ist, aber er hält es für selbstverständlich, dass seine Nation eine Art ewiges Leben besitzt. Aber nach der russischen Invasion 1968 wurde jeder Tscheche mit dem Gedanken konfrontiert, dass seine Nation still und leise aus Europa verschwinden könnte, so wie in den letzten fünf Jahrzehnten 40 Millionen Ukrainer still und leise aus der Welt verschwunden sind, ohne dass die Welt darauf geachtet hat.

Auf dieses Vergessen setzte wohl auch der heutige Gewaltherrscher im Kreml.

Wer die Gespräche zwischen Philip Roth und Milan Kundera in "Shop Talk" vollständig liest, erlebt zwei Gipfeltreffen von zwei großen Erotikern der Weltliteratur mit politischem Verstand.

Erotik meint hier nicht allein Sex. Und Sex heißt hier nicht allein Liebesszenen vor politischem Hintergrund, sondern die Macht- und Liebesspiele in der Politik und in den Beziehungen zwischen den Geschlechtern werden vielfältig gespiegelt.

Was das meint, kann jeder u. a. nachlesen in "Das Buch vom Lachen und Vergessen", was man auch im Your Book Shop erhalten kann.

Nachtrag: Die englische Paris Review hat ein langes Gespräch mit Milan Kundera freigeschaltet.