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Zeit und Geschichte

Gestern & Heute: Fragen an Rosa Luxemburg zum 150. Geburtstag

Achim Engelberg
schreibt, kuratiert, gibt heraus
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Achim EngelbergDonnerstag, 04.03.2021
Wie aktuell sind Leben und Werk der am 5. März 1871 geborenen Rosa Luxemburg? Riefe sie heute angesichts der wachsenden sozialen Ungleichheit und der Klimakrise zum Massenstreik auf? Wäre Rosa Luxemburg, die zu Lebzeiten eher nichts davon wissen wollte, heute Feministin?

Solche und ähnliche Fragen stellt sich die neue Webseite zu Rosa Luxemburg, die noch erweitert wird.

Von den Beiträgen, die schon online sind, gefielen mir drei Kurzfilme von Paul Mason, der auf piqd ein guter alter Bekannte ist. (Hier ein piq mit einem sensationell guten Gespräch, das Daniel Binswanger mit diesem englischen Publizisten für die Schweizer Zeitung Republik führte.)

In der ersten Folge von "R steht für Rosa" geht es um die Frage: Reform oder Revolution?

Rosa Luxemburg flieht aus Polen, um führende Theoretikerin der deutschen Sozialdemokratie zu werden. Die Debatte über revolutionäre Prinzipien bleibt zunächst abstrakt. Die Revolution bricht aus und Luxemburg gerät unerkannt in Warschau mitten ins Geschehen. Sie wird verhaftet und kommt ins Gefängnis. Nach ihrer Freilassung schreibt sie einen Text, der die reformistischen Führer Westeuropas in ihren Grundfesten erschüttert.

Der Nachfolger dreht sich um Imperialismus und Krieg:

Rosa Luxemburg lehrt den deutschen Arbeitern den Marxismus – aber Marx hat »Das Kapital« vor fünfzig Jahren geschrieben und die Zeit lief weiter. Der Kapitalismus hat sich verändert. Luxemburg schreibt am Vorabend des 1. Weltkrieges ein Buch, das den Untergang des Imperialismus und den Tod von Millionen Menschen vorhersagt.

Die letzte Folge behandelt die Revolutionen nach dem Ersten Weltkrieg:

Erst Russland, dann Deutschland. Das deutsche Kaiserreich bricht zusammen. Rosa wird aus dem Gefängnis entlassen. Sie eilt nach Berlin, um die kommunistische Partei zu gründen. Inmitten von Massenprotesten und der Bildung von Arbeiter- und Soldatenräten ist sie zerrissen zwischen dem Bedürfnis, den Bruch mit der alten Ordnung zu erzwingen und der Angst vor den Konsequenzen.…

Für Rosa Luxemburg, die bereits im Januar 1919 ermordet wird, war ein Sozialismus ohne Demokratie unmöglich zu erreichen. Deshalb beschrieb sie unmittelbar nach dem Oktoberumbruch 1917 in "Die russische Revolution", eine Schrift, die man hier neben anderen ihrer Arbeiten lesen kann, eine Vorhersage wie der von der Bolschewiki begonnene Weg enden wird:

Ohne allgemeine Wahlen, ungehemmte Presse- und Versammlungsfreiheit, freien Meinungskampf erstirbt das Leben in jeder der öffentlichen Institution, wird zum Scheinleben, in der die Bürokratie allein das tätige Element bleibt. Das öffentliche Leben schläft allmählich ein, einige Dutzend Parteiführer von unerschöpflicher Energie und grenzenlosem Idealismus dirigieren und regieren, unter ihnen leitet in Wirklichkeit ein Dutzend hervorragender Köpfe, und eine Elite der Arbeiterschaft wird von Zeit zu Zeit zu Versammlungen aufgeboten, um den Reden der Führer Beifall zu klatschen, vorgelegten Resolutionen einstimmig zuzustimmen, im Grunde also eine Cliquenwirtschaft - eine Diktatur allerdings, aber nicht die Diktatur des Proletariats, sondern die Diktatur einer Handvoll Politiker...

Erschreckend klarsichtig war das. Wer mehr wissen will, kann hier kostenlos zwei Bücher als PDF herunterladen oder als gedrucktes Buch kaufen.

Band 1 vermittelt einen Überblick zu ihrer Biografie und liefert eine Bilanz ihres politischen Wirkens.

Band 2 versammelt Essays zum Nachwirken Rosa Luxemburgs und sie beweisen: Niemand, der heute über gesellschaftliche Alternativen nachdenkt oder/und einen Weg zu diesen einschlagen will, kommt am Werk und Wirken von Rosa Luxemburg vorbei.

Gestern & Heute: Fragen an Rosa Luxemburg zum 150. Geburtstag

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Kommentare 9
  1. Anke Giesen
    Anke Giesen · vor fast 4 Jahre · bearbeitet vor fast 4 Jahre

    "Oktoberumbruch 1917" ist aber eine sehr euphemistische Bezichnung des Geschehens in Petrograd. Eigenlich nennt man das heute in der Geschichtswissenschaft "Oktoberumsturz 1917". Möglicherweise hat sie die Diktatur einer Politikerclique vorhergesehen, aber leider nicht den unfassbaren Terror, mit dem die neuen Machthaber anschließend das Land überzogen.

    1. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor fast 4 Jahre

      Nein, einen einheitlichen Begriff gibt es nicht.

      Der renommierte amerikanische Historiker Alexander Rabinowitch spricht nach wie vor von der "Revolution der Bolschewiki"; Orlando Figes, der einer der großen Spezialisten auf diesem Feld ist, spricht von Revolution und Tragödie.

      Ich übernahm den Ausdruck "Oktoberumbruch", der in etlichen Büchern vorkommt, aus der für mich besten deutschsprachigen Lenin-Biographie: https://www.matthes-se...

    2. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor fast 4 Jahre

      @Achim Engelberg Ich lese gerade diese Lenin-Biographie von W.Ruge. In der Tat sehr interessant, wie ein alter weißer Kommunist die Geschichte aufarbeitet. Ohne Schaum vor dem Mund, klar und mit sehr harter / kritischer Analyse.

      Das Dilemma ist, weder der Weg von Luxemburg mit den selbstbestimmten Massen noch der von Lenin mit der elitären Kaderpartei funktioniert.

    3. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor fast 4 Jahre

      @Thomas Wahl Das Problem ist, dass es einen Weg von Luxemburg zum Sozialismus nicht gibt. Ihr Spartakusprogramm ist nahezu identisch mit dem der KPD, die am 1. Januar 1919 gegründet worden ist. Zwei Wochen später wurde sie ermordet. Wie ihr Weg als Parteiführerin weitergegangen wäre, kann niemand beantworten.

      Auch Lenins Weg sah Begleitumstände vor, die nicht realisiert wurden.

      Grundsätzlich stellt sich die Frage, ob man Wege nochmal gehen kann.

      Sind es nicht immer historische Variationen?

    4. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor fast 4 Jahre · bearbeitet vor fast 4 Jahre

      @Achim Engelberg Nun, Rosa Luxembourg hat sich sehr wohl geäußert über den Weg. Sie hat ihn nur begonnen, dabei aber selbst übersehen, das eben keine einheitliche selbstbestimmte Masse oder Klasse gab. Und wahrscheinlich nie geben wird. Die "gesamte Öffentlichkeit" kann nicht kontrollieren. Das können immer nur Organisationen/Teilgruppen mit jeweiligen Eigeninteressen.

      Rosa Luxemburg: Die russische Revolution

      "Jawohl: Diktatur! Aber diese Diktatur besteht in der Art der Verwendung der Demokratie, nicht in ihrer Abschaffung, in energischen entschlossenen Eingriffen in die wohlerworbenen Rechte und wirtschaftlichen Verhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft, ohne welche sich die sozialistische Umwälzung nicht verwirklichen lässt. Aber diese Diktatur muss das Werk der Klasse, und nicht einer kleinen führenden Minderheit im Namen der Klasse sein, d.h. sie muss auf Schritt und Tritt aus der aktiven Teilhabe der Massen hervorgehen und der ihrer unmittelbaren Beeinflussung stehen, der Kontrolle der gesamten Öffentlichkeit unterstehen komme aus der wachsenden politischen Schulung der Volksmassen hervorgehen." (S. 191)

      Rohwolt Taschenbuch 1970: Schriften zur Theorie der Spontanität

    5. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor fast 4 Jahre

      @Thomas Wahl Ja, natürlich hat sie sich geäußert, aber wahrscheinlich hätte sie - wie viele andere - Korrekturen vornehmen müssen, wenn sie ihn länger als 2 Wochen eingeschlagen hätte.

    6. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor fast 4 Jahre · bearbeitet vor fast 4 Jahre

      @Achim Engelberg Na klar, so wie Lenin. Der hat dann genau das Gegenteil gemacht, von dem was er mal konzeptionell angenommen hatte. Der Weg in die Kathastrophe, keine seiner Annahmen ist wirklich eingetroffen. Kann man sehr schön in Wolfgang Ruges Lenin-Biographie nachlesen. 😏

      Nein, es ist nicht die Frage, ob man den Weg noch mal gehen kann. Das ist sowieso ausgeschlossen. Die Frage ist, ob man mit unserer beschränkten Fähigkeit die Gesellschaft zu verstehen prinzipiell solche großen Schritte tun dürfen. Gesellschaften lassen sich m.E. nicht konstruieren. Schon gar keine idealen ..... Das ist eine gefährliche Selbstüberschätzung und endet wieder im Desaster ...

  2. Jürgen Klute
    Jürgen Klute · vor fast 4 Jahre

    Auf zwei aus meiner Sicht sehr lesenswerte Texte zur Bedeutung von Rosa Luxemburg heute bin ich noch gestoßen: Einmal auf "Die Arbeiterklasse lernt. Rosa Luxemburg hatte recht. Auch wenn ihre Gegner noch Jahrzehnte später versuchen, sie zu widerlegen" (https://www.freitag.de...) von Paul Mason, der in Der Freitag erschienen ist, und der auf die Rolle Luxemburgs in der Arbeiterbewegung in Europa schaut. Und auf einen Text von Gerhard Dilger, früherer taz-Korrespondent für Südamerika in Porto Alegre und seit 2021 zunächst Leiter des Büros der Rosa Luxemburg Stiftung in São Paulo und seit 2018 Leiter des RLS-Büros in Buenos Aires. Sein Text erschien unter dem Titel "150. Geburtstag von Rosa Luxemburg: Die Rosa-Renaissance. Eine neue Generation von Ak­ti­vis­t:in­nen in Lateinamerika entdeckt Rosa Luxemburg für sich. Ihr Geburtstag wird dort mit Theater und Rap gefeiert." (https://taz.de/150-Geb...) Dilger wirft einen Blick auf die heute Bedeutung Luxemburgs in Lateinamerika.

    1. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor fast 4 Jahre

      Danke für die Ergänzungen.

      Eben erfuhr ich, dass die deutsche Übersetzung einer Rede, die Rosa Luxemburg auf polnisch hielt, erschienen ist:
      https://www.neues-deut...

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