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Zeit und Geschichte

Gestern & Heute: Der Wohlfahrtsstaatkompromiss ist gekündigt (Vogl)

Achim Engelberg
schreibt, kuratiert, gibt heraus
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Achim EngelbergFreitag, 22.09.2023

Es ist nicht ausgeschlossen, dass es das Ferment einer neuen Vorkriegszeit liefern wird.

Dieser Satz steht in Joseph Vogl bislang letzten Buch "Kapital und Ressentiment" aus dem Jahr 2021, auf das ich in diesem piq hinwies.

Dass der Berliner Germanist, Philosoph und Medientheoretiker einer der klügsten Köpfe ist, wissen alle, die piqd lesen, sehen und hören. Eigentlich wollte ich hier seine Abschiedsvorlesung an der Humboldt-Universität posten, über die zum Beispiel die SZ von einem Vortrag mit der Intensität eines Pop-Konzerts schrieb. Da er sie zu einem Buch ausarbeitet, wie ich hörte, wird sie noch nicht publiziert. Aber seine Antworten auf die Fragen von Michael Hesse über gravierende Veränderungen und erstaunliche Kontinuitäten sind auch hochinteressant.

Über den Aufstieg der Rechtsextremen und der menschenfeindlichen Migrationsabwehr bemerkt er:

Ich habe das Ressentiment einen Basisaffekt kapitalistischer Gesellschaften genannt, aber vielleicht sollte man zunächst an manche Umstände erinnern, die nicht unbedingt Zufälle sind. Seit der Nachkriegszeit gab es in der alten Bundesrepublik ein rechtsextremes Wählerreservoir von ungefähr 20 Prozent, das man immer wieder aktivieren konnte. Und seit 1993 führen konservative Parteien regelmäßig Wahlkämpfe mit Ressentiments gegen Geflüchtete, Migranten, Ausländer – jüngst wurde wieder für die Abschaffung des Asylrechts plädiert. Solche und verwandte Ressentiments haben dann in den digitalen Netzwerken einen neuen Mobilisierungsschub erhalten, nicht zuletzt deshalb, weil das Geschäftsmodell der Plattformindustrie keine rechtliche Verantwortung für das dort gepostete Zeug kennt. Die bloße Meinung, das Meinungshafte ist zum Währungsstandard dieser Kommunikationssphären geworden.

Nach den großen Finanzzusammenbrüchen des vielgestaltigen Kapitalismus – also nach 1873, nach 1929 und dann nach 2008 – wuchsen die rechtsextremen Parteien.

Gleichzeitig sind heute die Finanzmärkte

in einer Weise geordnet und reguliert, dass Vermögensungleichheit und die Umverteilung von unten nach oben garantiert bleiben.

Joseph Vogl sieht dadurch die Zukunft der Demokratie gefährdet - nicht nur in Deutschland.

Man hat den Wohlfahrtsstaatkompromiss, eine Folge aus den Desastern des 20. Jahrhunderts, gekündigt. Dieser Prozess hat sich in den letzten Jahren verstärkt. Für die Brexit-Kampagne etwa ging es darum, die Pflege der heimischen Finanzindustrie mit dem Abbau von Rechtsstaatlichkeit zu verknüpfen, wie man das in den gegenwärtigen Projekten beobachten kann: Verschärfungen im Polizei- und Demonstrationsrecht, im Asylrecht, Wahlrechtsreformen, Austritt aus der Europäischen Menschenrechtskonvention. Und der gegenwärtige Plattform- und Informationskapitalismus benötigt nach den Aussagen seiner Protagonisten vom alten Rechtsstaat nur noch Minimalgarantien, etwa für den Schutz des Eigentums und für die Freiheit des Kapitalverkehrs, nicht unbedingt aber Parlamente und repräsentative Demokratie. Alle sozialen und politischen Probleme werden besser technokratisch, von Privatunternehmen gelöst. Hier hat sich die liberale Phobie gegen den vorsorgenden Staat in die libertäre Feier des fürsorglichen Unternehmens verwandelt.

Das wird noch erschreckender, wenn man seine Fernsehgespräche aus den letzten Jahrzehnten noch mal hört und sieht. Oft lag er mit seinen scharfsinnigen Einsprüchen richtig.

Diese Gespräche geben auch prächtige und tief blickenden Einblicke in die Kulturgeschichte des "Westens": Hier findet man die mit Alexander Kluge auf der Webseite von dctp.tv

Gestern & Heute: Der Wohlfahrtsstaatkompromiss ist gekündigt (Vogl)

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Kommentare 3
  1. Thomas Wahl
    Thomas Wahl · vor einem Jahr · bearbeitet vor einem Jahr

    Ich finde auch, das sein Ton apokalyptisch ist. Und viele Behauptungen sind m.E. einfach falsch. Auch bei ihm, der "apokalyptische Ton gehört zum Marketing"?

  2. Cornelia Gliem
    Cornelia Gliem · vor mehr als ein Jahr

    ... und dann dürfen sich diejenigen, die vorsichtig am kapitalistischen neoliberalen Weltbild rütteln, gleich wieder den Kommunismus-Vorwurf anhören.

    1. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor mehr als ein Jahr

      So ist es. Leider.

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