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Kurator'in für: Flucht und Einwanderung Literatur Fundstücke Zeit und Geschichte
Dissertation über John Berger (Dr. phil.). Seine Essays und Interviews, seine Reportagen und Rezensionen erscheinen u. a. in Neue Zürcher Zeitung, Blätter für deutsche und internationale Politik, Sinn und Form, Jacobin und Lettre International. Als Historiker wertet er den in der Berliner Staatsbibliothek vorliegenden Nachlass seines Vaters aus. So erschienen »Die Bismarcks. Eine preußische Familiensaga vom Mittelalter bis heute« (2010, zusammen mit Ernst Engelberg) oder die von ihm herausgegebene Neuedition von Ernst Engelbergs »Bismarck. Sturm über Europa« (2014). Als Buchautor publizierte er zuletzt das literarische Sachbuch »An den Rändern Europas« (2021).
Es ist eine historische Zeitenwende.
Mit dem Tod von Boris Pahor, der mit sagenhaften 108 Jahren starb, ist der letzte literarische Zeitzeuge von Faschismus und Shoah gestorben. Und mit Faschismus meine ich auch den ursprünglichen, den italienischen, denn Boris Pahor gehörte zur slowenischen Minderheit im italienischen Triest.
Jetzt gibt es nur noch wenige Shoah-Überlebende mit grausamen Erlebnissen in der Kindheit.
Wie wichtig für die Aufklärung und Erfahrung der Menschheitsverbrechen bewusste Erinnerungen von Erwachsenen sind, das erfuhr ich unter anderem durch den großen Aharon Appelfeld (1932–2018) als ich ihn in Jerusalem besuchte:
Mit Kertész war ich eng befreundet. Ich konnte kein Ungarisch und er kein Hebräisch, aber unsere gemeinsame Sprache war Deutsch, wir kamen beide aus der österreich-ungarischen Kultur. Primo Levis Werke und die der anderen habe ich gelesen. Sie waren älter als ich, zehn oder zwanzig Jahre. Ein beträchtlicher Unterschied. Ich war damals noch ein Kind und konnte keine Memoiren schreiben, dazu muß man bewußt erlebt haben, was geschehen ist. Deshalb stellte sich die Frage für mich etwas anders. Ich konnte nur Literatur schreiben, keine Erinnerungen.
Zurück zu Boris Pahor. In seinem Nachruf stellt Karl-Markus Gauß Leben und Werk vor:
Romane wie "Der Kampf mit dem Frühling" oder "Nekropolis" stellen Pahor gleichrangig neben Primo Levi, Jean Améry oder Imre Kertész, die bezeugten, wie mit der industriellen Vernichtung der Juden im 20. Jahrhundert das Undenkbare für alle Zeit das Menschenmögliche wurde.
Pahor geriet in die Maschinerie der Verfolgung nicht aus rassistischen Gründen, sondern weil er sich in Triest dem Widerstand angeschlossen hatte. 1941 hatten die Faschisten mit zwei großen Prozessen versucht, die gebildete Schicht der von ihr als Barbaren verachteten Slowenen auszulöschen.
Lange war der große Erzähler mit seinen einprägsamen Charakteren und seinen Menschheitsfragen ein "Geheimtip". Vielleicht erreichte er sein unglaublich hohes Alter, weil er erst mit 85 Jahren "entdeckt" worden ist.
Amerikanische und französische Verlage wurden auf den Mann aufmerksam, der in Triest als pensionierter Gymnasialprofessor lebte und in seiner Heimatstadt nahezu unbekannt war.
Mittlerweile ist und wird Boris Pahor in viele Sprachen rund um den Globus übersetzt.
Welches Buch empfiehlt Gauß als Einstieg und als Hauptwerk?
Nekropolis.
Es ist ein Werk, das vom Autor eine lange Überwindung und Kraftanstrengung verlangte und keine leichte Strandlektüre ist.
Die Lektüre dieses Buches, das gestochen scharfe, unvergessliche Bilder des Schreckens bietet, würde man sich gerne reinen Gewissens ersparen. Aber auch wer glaubt, sich bereits genügend Studien, Berichte, Romane über das Reich der Konzentrationslager zugemutet zu haben, wird während der Lektüre feststellen, dass ihm gerade dieses eine Buch bisher gefehlt hat.
Und hier gibt es noch ein älteres Stück mit Interviewaussagen von Boris Pahor.
Hitler war Mussolinis Schüler, wenn er ihn auch später in den Mitteln der Vernichtung übertraf. Aber die deutschen Lager waren nur die extreme Fortsetzung dessen, was wir seit 1918 erlebt hatten. Als 1930 im ‹Manchester Guardian› Kritik an den Hinrichtungen von Slowenen erschien, publizierte Mussolinis Zeitung ‹Il popolo d’Italia› eine Replik, die uns Slowenen als Wanzen bezeichnete, die sich in der Wohnung eingenistet hätten …
Und über die ersten Jahre nach seinem Überleben bemerkt er:
Ich habe die Welt entdeckt, den Wert des Lebens und den der Liebe. Das hat mir auch manche Kritik für meine ersten Romane eingetragen. Die ‹Villa am See› (1955) sei zu heiter, zu lyrisch. Aber ich musste erst wieder das Leben zurückgewinnen, ehe ich ‹Nekropolis› schreiben konnte.
Das sind nur wenige Ausschnitte. Aufschlussreich finde ich, was Boris Pahor über das Verhältnis von Peter Handke, der eine slowenische Mutter hat, und Jugoslawien erläutert.
Und nochmal Boris Pahor:
Ich hoffe, mit meinem Werk einen Ausschnitt des Bösen im 20. Jahrhundert gezeigt, doch gleichzeitig auch ein wenig Anlass gegeben zu haben, das Leben zu lieben.
Quelle: Karl-Markus Gauß, Boris Pahor u. a. www.derstandard.at
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