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Kurator'in für: Fundstücke Zeit und Geschichte
Seit der ersten Stunde als Kurator bei Forum dabei: Dirk Liesemer arbeitet als Journalist für Magazine wie mare und G/Geschichte. Er hat Politik, Philosophie und Öffentliches Recht studiert, die Henri-Nannen-Journalistenschule besucht, immer mal wieder in Redaktionen gearbeitet und ehrenamtlich eine Reihe von Recherchereisen mitorganisiert und begleitet. Bisher fünf Bücher, darunter "Café Größenwahn" (2023), ein Ausflug zu den großen Kaffeehausliteraten des Fin de Siècle. Foto: Andreas Unger
Wer sich ernsthaft mit dem Thema gendergerechte Sprache beschäftigen will (und einzelnen umstrittenen Wörtern wie "Flüchtling"), wem es also nicht reicht, einfach nur diese oder jene Meinungen zu kennen, der kommt um diesen klugen, ausführlichen und wissenschaftlichen Text nicht herum.
Olav Hackstein, Professor für Historische und Indogermanische Sprachwissenschaft, geht folgenden Fragen nach: Wie hat sich die deutsche Grammatik entwickelt? In welcher Beziehung stehen grammatischer Genus und biologisches Geschlecht zueinander? Kann Grammatik diskriminierend und damit korrekturbedürftig sein? Und falls nicht, welchen Aspekten sollte sich die Sprachkritik zuwenden (denn klar ist, Sprache kann diskriminierend sein)?
Als Appetizer folgende Ansätze: Zum einen zum Suffix "-ling", wie er etwa in "Flüchtling" vorkommt – ein Wort das manch einem als abwertend gilt, weshalb es durch "Geflüchtete" ersetzt wird (wobei aber wiederum übersehen wird, dass ein Geflüchteter die Flucht ja bereits hinter sich haben muss).
Ein ähnlicher Fehlschluss ist es übrigens auch, aus der Möglichkeit, sprachliche Elemente oder Ausdrücke herabwürdigend verwenden zu können, pauschal die Notwendigkeit abzuleiten, deren Verwendung einzuschränken oder zu sanktionieren. Es gilt eben wiederum, zwischen der Grammatik, die bestimmte Wortbildungen vorsieht, und der Sprachverwendung, die herabwürdigend sein kann, zu unterscheiden. So ist es irrig, aus der Möglichkeit, eine Ableitungssilbe wie -ling pejorativ zu verwenden (von Luthers naseweisen Klüglingen angefangen bis zu Lüstlingen und Widerlingen der Gegenwart), oder aus der Möglichkeit, dass ein Wort auf -ling auch missbräuchlich-herabsetzend, diskriminierend gebraucht werden könnte, dessen Vermeidung oder gar Verbot abzuleiten.
Die ererbte und aktuelle Funktion des Suffixes -ling besteht nämlich ausschließlich in der Vereinzelung (X-ling bedeutet X als einzelnes Mitglied/Exemplar einer Gruppe). Die abschätzige Verwendung von Begriffen auf -ling liegt außerhalb der grammatischen/morphologischen Funktion dieses Suffixes. Die Funktion des Suffixes -ling ist also nicht abschätzig, sondern – wie im Fall von Ankömmling, Frühling, Liebling, Schmetterling, Zwilling und dem englischen darling – rein individualisierend. Dies gilt auch für andere Suffixe. Aus dem Umstand, dass Deminutivsuffixe auch spöttisch verwendet werden können, würde man ebenso nicht auf deren Verbot oder das Verbot einzelner solcher dringen. Niemand käme auf die Idee, künftig den Gebrauch des Wortes Mädchen zu vermeiden, weil Bildungen auf -chen auch spöttisch-ironisch verwendet werden können wie im Fall von Freundchen.
Sowie zum generischen Maskulinum:
In Wirklichkeit war und ist die Grammatik oft viel fortschrittlicher als angenommen, und das unbemerkt von gesellschaftlicher oder politischer Sprachkritik. Außersprachliche Kritik und Korrektur der ererbten Grammatik entbehren jedweder Grundlage, wenn grammatische Regeln missverstanden werden. So erweist sich die Kritik, das generische Maskulinum verschweige den weiblichen Sexus, als haltlos, weil das generische Maskulinum, wenn es Menschen bezeichnet, zwischen männlichem und weiblichem Geschlecht nicht unterscheidet.
Dass die unterschiedslose Bezeichnung des männlichen und weiblichen Geschlechts ganz natürlich ist, mag abschließend ein Blick auf die drei deutschen Anredepronomina vor Augen führen. Neuhochdeutsch Du, Ihr und Sie unterscheiden formal nicht, ob der/die Angeredete(n) männlich oder weiblich sind. Diese Unterscheidung muss vielmehr der Kontext leisten. Dass Formen und Wörter das biologische Geschlecht (den Sexus) unerwähnt lassen können, war jedenfalls nie ein kommunikatives oder außersprachliches Problem. Dass der (grammatisch männliche) Mensch und die (grammatisch weibliche) Person männliche wie weibliche Personen bezeichnen, ist daher auch bis jetzt kaum als anstößig oder änderungsbedürftig betrachtet worden.
Hacksteins Langstrecke ist absolut lesenswert und wird von mir hier keineswegs nur allen "Kolleg*innen" bei der taz und dem Deutschlandfunk empfohlen. Weil es sich zugleich um Ideologiekritik handelt, wird der Text natürlich nicht jedem gefallen, aber sonst bräuchte man ihn hier ja auch nicht empfehlen.
Der Text ist leider kostenpflichtig, aber wer mir eine freundliche Mail schreibt, dem schicke ich gerne einen Link. Auf Blendle ist er nicht mehr abrufbar.
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klingt interessant. Aber - zumindest ich persönlich - kritisiere das generische Maskulinum auch nicht wegen der Grammatik; sondern aus sozialen und politischen Gründen.
In einem würde ich Hackstein (so ich ihn jetzt rein sekundär aus dem Kommentar oben kenne*) widersprechen:
Niemand will zb alle Wörter mit *ing als negativ abschaffen, es geht um konkrete einzelne als negativ empfundene Wörter (=wobei ich - wieder ganz persönlich - Flüchtling nicht als problematisch ansehe).
Das wäre so als ob "Neger" völlig unproblematisch wäre, nur weil die Endung "-er" doch do vielen neutralen oder gar positiven Wörter eigen ist.
und ein ganz klein wenig klingt seine Grammatik-Verteidigung gegen Missverständnisse auch hiernach: Neger ist falsch verstanden - schließlich bedeutet es nur "Schwarz"...
Aber ich lasse mich gern widerlegen und * würde mich über den Link zum Artikel freuen.
Hier kann ich in allem zustimmen.
Das falsche Bewusstsein, dass einige "Flüchtling" nicht mehr verwenden, ist
rechtlich problematisch (siehe UN-Flüchtlingskonvention),
sprachlich falsch (siehe die Begründung von Hackstein) und
sachlich irreführend. Nicht bei Migranten generell, aber bei Flüchtlingen gibt es Prägungen und Verletzungen, die bleiben (Ich erlebte es in der Familie und deren Umfeld, aber auch bei Recherchen zu meinem aktuellen Buch AN DEN RÄNDERN EUROPAS.).