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Volk und Wirtschaft

Was wir über die Geschichte globaler Mittelschichten wissen und was nicht

Thomas Wahl
Dr. Phil, Dipl. Ing.
Zum Kurator'innen-Profil
Thomas WahlMontag, 18.05.2020

Wir reden viel über Globalisierung, wissen aber eigentlich wenig über die Globalgeschichte der letzten 200 Jahre oder gar über die Sozialgeschichte der bestimmenden globalen Mittelschichten. Und das was wir zu wissen meinen, bleibt oft abstrakt und pauschal. Soziopolis rezensiert nun einen Essayband, der sich um sechs Themen gruppiert. Um die Entwicklungsgeschichte globaler Mittelschichten, den Einfluss der imperialen Spielregeln auf die Bildung dieser Bourgeoisien, die Rolle des Kapitalismus dabei, die Religionen, die Widersprüche zwischen westlichen und kolonialen Mittelklassen und nicht zuletzt um die Entstehung verschiedener bürgerlicher Kulturen in der globalen Sozialgeschichte. Dabei erfährt man, dass es keine wirklich fundierte und integrale Geschichtsschreibung über diese so wichtigen Themen gibt.

Die sozialgeschichtliche Forschung unserer modernen Gesellschaften ist bis in die Gegenwart vom methodischen Nationalismus bestimmt. Die Nationalstaaten definierten

seit dem 19. Jahrhundert immer mehr Berufskategorien und Dienstklassen, steuerte wirkungsvoller denn je Zugangsberechtigungen und Ausschlüsse, regulierte ökonomische Chancen und Märkte und lieferte schlussendlich die wichtigsten sozialstatistischen Daten, ohne die eine Sozialgeschichte der modernen Sozialwelten nicht auskommt.

Die Essays sind also ein erster wichtiger Aufschlag auf dem Weg zu einer globalen Betrachtung von wichtigen Bevölkerungsschichten, die zwischen den Imperien wirtschaftlich und kulturell mobil waren und noch sind. In dem Essayband (Leseprobe hier) selbst liest man das wie folgt:

The long nineteenth century has often been described as the golden age of the bourgeoisie in Europe, but the emergence of middle classes and of bourgeois cultural milieus was by no means exclusive to European societies. One of the most striking features of the nineteenth century was the rise of similar social groups around the world. Merchants in Shanghai, lawyers in Delhi, bankers in New York, doctors in Cairo, professors in Vienna, and schoolteachers on the Gold Coast had much in common. A group between the old entrenched aristocratic classes and the peasants and workers, their social milieus were marked by its own lifestyles, tastes, and values. The members of this bourgeois middle class emphasized education and individual achievement. 

Es geht also um die Analyse von Schichten in den verschiedenen Weltregionen, die mit den aus dem Westen kommenden wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Entwicklungen verbunden sind. Milieus mit mittleren Einkommen zwischen den großen ländlichen oder städtischen Unterschichten und den oberen Eliten:

Jene Mittelschichten oder middle classes, die bis auf den heutigen Tag als verlässliche Weggefährten der Globalisierung im Zeichen des Kapitalismus aktiv sind. Die Rede ist von kleineren Selbständigen in Handel und Gewerbe, von Ärzten, Juristen, Lehrern vor allem an höheren Schulen und Hochschulen aller Art, von den gehobenen und höheren Diensträngen öffentlicher Verwaltungen und schließlich auch von der Gruppe qualifizierter Dienstleister, die in lohnabhängiger Stellung für Privatunternehmungen aller Art tätig ist. 

Das sind auch die sozialen Gruppen, die heute als Träger zivilgesellschaftlicher Bewegung und als "mögliche Hoffnungsträger eines liberalen Internationalismus weltweit gelten". Ein Grund mehr, sich damit zu beschäftigen.

Die Rezension äußert sich durchaus auch kritisch zu einigen Schwachpunkten des Buches und seiner Beiträge. Insbesondere geht es um die unreflektierte, undifferenzierte Übernahme der gängigen vorliegenden "Denkprodukte", etwa solcher "Begriffsgespenster" wie  "Empire", "Modernity" oder "Cosmopolitism", die man dann in kulturell völlig verschiedene Weltregionen exportiert. Der Rezensent spricht in dem Zusammenhang von der "fatalen Blendwirkung großer Theorie(n) (wie) Klassenkampf, Kapitalismus, Modernisierung" bei der Analyse des historischen Materials. Etwa, wenn die von vielen 

imaginierte (westliche) Moderne zu einer sozial- und alltagsgeschichtlich wirksamen Kraft ernannt wird ohne dass überhaupt der Nachweis geführt würde, westliche Ideen, Konsummuster oder Verhaltensweisen hätten in der Tat jene Durchschlagskraft in Afrika, Indien oder China besessen, welche es – sozialgeschichtlich formuliert – nahelegt, anzunehmen, sie hätten die sozialen Verhaltensweisen und Orientierungen größerer sozialer Gruppen in mittlerer Einkommenslage nachhaltig geprägt.

Solche Fehlannahmen könnten fatal werden ...

Was wir über die Geschichte globaler Mittelschichten wissen und was nicht

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