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Volk und Wirtschaft

Die Illusionen der prekären Vollerwerbsgesellschaft

Michael Hirsch
Philosoph und Politikwissenschaftler, freier Autor und Dozent
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Michael HirschMontag, 24.02.2020

Der Beitrag aus der Wochenzeitung "Jungle World" zeigt wunderbar nüchtern den zentralen Denkfehler des "deutschen Beschäftigungswunders" auf. Das Schwerpunktthema des Hefts trägt die schöne Überschrift "Deutschland, du Lohnsau!". Der Artikel zeigt auf, dass die wirtschaftspolitische Strategie, auf mehr Beschäftigung zu setzen, einem fatalen Fehler auf der Ebene der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung aufsitzt: Die "prekäre Vollerwerbsgesellschaft" (ein Ausdruck des Soziologen Oliver Nachtwey in seinem Buch Abstiegsgesellschaft) setzt auf Beschäftigung buchstäblich um jeden Preis. Sie kann, innerhalb des herrschenden Paradigmas, gar nicht anders.

Der Artikel plädiert dafür, nicht nur prekäre und Niedriglohnarbeit zu beklagen, sondern den prinzipiellen volkswirtschaftlichen Fehler zu benennen. Dann ist es eben keine gute Nachricht, wenn in Deutschland die Beschäftigtenzahlen ansteigen, sondern eine schlechte Nachricht. Stefan Laurin bringt dies wunderbar trocken auf den Punkt:

Am 4. Dezember veröffentliche das Social-Media-Team der Bundesregierung eine frohe Botschaft: Noch nie seien in Deutschland so viele Menschen in ­Arbeit gewesen. Angaben des statistischen Bundesamts zufolge lag die ­saison- und kalenderbereinigte Anzahl der Erwerbstätigen mit Wohnsitz in der Bundesrepublik im Oktober 2019 bei 45,15 Millionen. Ein Jahr zuvor ­waren es noch 44,85 Millionen gewesen. Trotz schlapper Konjunktur und Beinaherezession war die Zahl der Beschäftigten noch einmal gestiegen. Die ­Arbeitslosenquote lag bei 4,8 Prozent. 2005 hatte sie noch bei 11,7 Prozent ­gelegen.
Doch dass Menschen am Morgen aufstehen und zur Arbeit gehen, bedeutet erst einmal nur, dass sie am Abend müde nach Hause kommen. Ob sie von ihrer Arbeit leben, ja vielleicht sogar gut leben können, das kann man aus den Beschäftigungsstatistiken nicht ableiten. Es kommt darauf an, wie gut oder schlecht Menschen verdienen.

Schöner und deutlicher kann man es nicht auf den Punkt bringen, wie grundfalsch die aktuelle wirtschaftspolitische Doktrin der Schaffung von mehr Beschäftigung ist. Sie produziert prekäre Beschäftigung, Niedriglohnarbeit, und eine sinnlose Erschöpfung der arbeitenden Bevölkerung. Richtig wäre hingegen eine Politik, die eher auf kürzere Arbeitszeiten sowie auf weniger und dafür besser bezahlte und sozial abgesicherte Beschäftigung setzt. Es geht also um ein neues, ganz anderes wirtschaftspolitisches Paradigma. 

Die Illusionen der prekären Vollerwerbsgesellschaft

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Kommentare 3
  1. Thomas Wahl
    Thomas Wahl · vor fast 5 Jahre · bearbeitet vor fast 5 Jahre

    Nach dem Lesen des Artikels stelle ich mir die Frage, wie man denn nun Industrie- oder andere Arbeitsplätze schafft, die von der Wertschöpfung in der Lage sind, hohe Löhne zu generieren. Und wie Arbeitnehmer sich qualifizieren können qualifizierte und wertschöpfendere Tätigkeiten auszuführen. Der Wunsch nach höheren Löhnen hilft da überhaupt nicht. Löhne hängen von der Produktivität und der Bereitschaft der Kunden ab dafür zu zahlen. Weniger Arbeiten bei höheren Löhnen sind eine Wunschvorstellung. Wenn das ginge, hätte der Sozialismus gesiegt. Ökonomie ist kein perpetuum mobile. Man muß seine Wirtschaft hegen und pflegen, investieren und die Menschen (müssen sich) qualifizieren. Das ist die Quelle hoher Löhne und dann auch weiter sinkender Arbeitszeit. Und das ist anstrengend .... Keine (Sozial)Politik kann das ersetzen.

    Es kommt eben auch darauf an, wie gut oder schlecht Menschen ohne Arbeit leben können und wer das finanziert. Eine "besser bezahlte und sozial abgesicherte Beschäftigung" muß erarbeitet werden und das in einer globalisierten und wechselseitig abhängigen Welt.

    1. Michael Hirsch
      Michael Hirsch · vor fast 5 Jahre

      Thomas Wahls Kommentar geht meines Erachtens an der Intention des Artikels vorbei. Es geht darum, ob die weitere Steigerung von Beschäftigung noch wohlfahrtsfördernde Wirkungen hat, und verneint dies mit guten Gründen. Thomas Wahls Äußerungen klingen hier wir eine ziemlich krude wirtschaftsliberale Doktrin, welche so tut, als ob die Ökonomie allein nach Marktgesetzen operieren würde, und verkennt, wie wichtig politische Faktoren wie Tarifpolitik, Arbeitsrecht, und die Schaffung ganzer neuer Arbeits-"Märkte" wie des ganzen Bereichs der Altenpflege und Kinderbetreuung sind.
      Die linke wirtschaftspolitische Doktrin, die ich mit dem Autor des Artikels vertrete, fordert eine Verringerung des Arbeitskraftangebots, um so die Löhne zu stabilisieren. - Das war eben nicht die Intention des Realsozialismus, der vielmehr, genauso wie der aktuelle Kapitalismus, nach immer mehr Beschäftigung um der Beschäftigung willen strebte. Beide Systeme fördern nicht die Wohlfahrt. Sondern nur eine Ideologie der Beschäftigung, welche auf dem Papier die Arbeitslosigkeit abschafft, aber weder ein angemessenes Lohnniveau, noch eine Verbesserung der Lebensqualität der Menschen im Alltag erzeugt.

    2. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor fast 5 Jahre · bearbeitet vor fast 5 Jahre

      @Michael Hirsch Wie wollen Sie denn mit geringerer Beschäftigung mehr "Wohlfahrt" bzw. Wohlstand schaffen? Die hängt doch nicht von der nominellen Höhe der Löhne durch weniger Arbeit ab sondern von den erzeugten Gütern und Dienstleistungen. Und die wenigere Arbeit müßte dann die nicht Arbeitenden mit "ernähren". Natürlich kann man im sozialen Sektor Mehr und neue Arbeitskräfte bezahlen. Aber nur wenn jemand für diese Nahrungsmittel und andere Güter produziert. Lohnerhöhung durch Gelddrucken hilft nicht.

      Also der Sozialismus hat nun wirklich nicht nach mehr Beschäftigung um der Beschäftigung willen gestrebt. Das ist Blödsinn. Es ging immer um Bedürfnisbefriedigung fürs Volk. Mehr Güter und weniger Arbeitszeit war sehr populär im DDR-Volk. Daran hing die Macht der Partei. Die wäre schon froh gewesen mit der immer knappen Zahl der Arbeitskräfte mehr produzieren zu können. Aber durch höhere Löhne für die wenigen entsteht eben nicht mehr Angebot an Waren ....

      Und auch zu glauben, irgendein Kapitalist oder gar der ganze "Kapitalismus" (was das auch immer sein soll) strebe nach Arbeit um der Arbeit willen, widerspricht eigentlich allen linken Theorien. Das zeugt von einer sehr kruden Vorstellung von Kapitalismus und jeder modernen Wirtschaft. Ich kann nur sagen, Linke beschäftigt euch mit euren (ursprünglichen) Theorien, mit dem realen Scheitern der Realisierungsversuche. Und dann noch mal nachdenken .....

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