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Volk und Wirtschaft

Das Dilemma bei der Herstellung (sozialer) Gerechtigkeit

Thomas Wahl
Dr. Phil, Dipl. Ing.
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Thomas WahlDonnerstag, 17.09.2020

Eine der für mich konzentriertesten Definitionen von (sozialer) Gerechtigkeit stammt von Aristoteles:

So scheint das Gerechte in dem Gleichen zu bestehen und dies ist auch richtig; aber es ist nicht das Gerechte für Alle, sondern nur für die Gleichen; ebenso scheint auch das Ungleiche das Gerechte zu sein und dies ist auch richtig, aber nicht für Alle, sondern nur für die Ungleichen. (Aristoteles, Politik, 3. Buch, 9. Kapitel)

Man kann es auch knackiger sagen: Gerechtigkeit heißt Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln. Und da beginnt das Dilemma. Wann ist etwas (halbwegs) gleich, wann ungleich und was bedeutet das für die Gesellschaft. Wie soll sie konkret handeln? Man sieht auch, Ungleichheit vs. Gerechtigkeit ist ein uraltes Problem. Viel älter als der Kapitalismus, dem oft die Erbsünde der Ungerechtigkeit zugeschrieben wird. Und natürlich findet man auch überall Ungleichheit:

Fast möchte man sagen: Die Gesellschaft besteht aus Ungleichheiten. Frauen und Männer, Junge und Alte, Kapital und Arbeit, Land- und Stadtbewohner, länger schon Einheimische und Zugewanderte, Immobilienbesitzer und Mieter – die Liste der Unterscheidungen, die es erlauben, ungleiche Verteilungen nachzuweisen, ist jedenfalls endlos.

Jürgen Kaube empfiehlt im Wirtschaftsblock der FAZ zu dieser Problematik ein vor hundert Jahren geschriebenes "Märchen" von Georg Simmel - "Rosen. Eine soziale Hypothese”. Die Erzählung handelt 

in einer fiktiven agrarischen Gesellschaft, in der es eine gleiche Verteilung von Boden gibt. Alle haben ihr Auskommen, sofern sie, wie Simmel anmerkt, nicht mehr brauchen, als das Land hergibt, sofern sie also ihren Konsum an ihr Einkommen anpassen.

Da fangen einige der Bauern an, zusätzlich Rosen zu züchten. Wodurch eine deutlich sichtbare Ungleichheit entsteht. Kleine, immer bestehende Unterschiede  bei Vermögen, dem Freizeitverhalten oder eben der Rosenzucht auf verschieden günstige Bodenqualitäten, dem Talent, wachsen an. 

Es kommt – Simmel schreibt 1897 im Zeitalter der aufsteigenden Sozialdemokratie, des Sozialismus und des Wohlfahrtsstaates – zum Kampf der Rosenbesitzer mit den Rosenumverteilern. Letztere gewinnen ihn nicht nur, weil sie die größere Gruppe sind. Dem Ideal sozialer Gerechtigkeit können sich nicht einmal die Rosenbesitzer ganz verschließen. Dass aus kleinen Unterschieden, gemischt mit Fleiß und Zufall, große Ungleichheiten wurden, vermochten selbst die Privilegierten nicht als historische Notwendigkeit, Gottes Wille oder als Gebot der Effizienz darzustellen.

Alle haben nun Rosensträucher, der soziale Friede scheint wieder hergestellt. Simmels Problem damit, jenseits der Grundbedürfnisse (im Märchen der Landbesitz) wird es schwierig die Konsumwünsche der Menschen wirklich zu befriedigen. Nach der Wunsch-Erfüllung bleiben wir Menschen nicht dauerhaft glücklich

Werden ihm nicht wechselnde Reize geboten oder ein Mehr und Weniger derselben Reize, erscheint ihm das Leben leer. Ununterbrochene Seligkeit werde “als eine ebenso ununterbrochene Langeweile gefürchtet”. Nicht die absolute Größe eines Glückes befriedigt also, sondern die relative Größe in Bezug auf vorherige Entbehrung.

Also auch eine große Vermehrung von Besitz macht nicht dauerhaft zufrieden, sowie ein Verringerung desselben nicht zu dauerhaftem Unglück führen muss. In dem Rosenmärchen führt der gleichverteilte Rosenbestand nicht zu einer sozialen Zufriedenheit. Nein, die unterschiedliche Qualität der Rosenpflanzen, gepaart mit dem unterschiedlichen Begabungen diese zu veredeln, erzeugten 

bald dieselben Empörungen über Ungerechtigkeit wie einst an den Unterschied zwischen Haben und Nichthaben. Derselbe arrogante Stolz pocht nun nicht mehr auf den Besitz von Rosen, sondern auf den von Rosen besonderer Farbe, Größe, Duftnote. Dieselbe Verbitterung, die einst der gänzliche Mangel an Rosen entstehen ließ, löst nun das Gefühl aus, nicht über besondere Rosen zu verfügen.

Hier sind wir bei der Psychologie und Soziologie der Ungleichheit. Mehr Gleichheit führt nicht zu mehr Zufriedenheit sondern zu höherer Empfindlichkeit gegenüber (kleinerer) Ungleichheit.

Dieses Gefühl verfeinert sich mit jeder Umverteilung, um sich mit derselben Energie Unterschieden zu widmen, die älteren Kämpfern für einfachere Gleichheiten gar nicht verständlich gewesen wären. ..... So wird die Gesellschaft immer empfindlicher für Ungleichheit, ohne jemals bei ihrem Gegenteil ankommen zu können.
Das Dilemma bei der Herstellung (sozialer) Gerechtigkeit

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Kommentare 3
  1. Hansi Trab
    Hansi Trab · vor 4 Jahren · bearbeitet vor 4 Jahren

    Ich glaube, das obliegt dem Fehler, dass wir immer irgendwie isoliert bestrebt sind, Gleichheit herzustellen, anstatt Vielfalt zu würdigen. Aristoteles geht aber es nicht um die Herstellung eines Zustands, sondern um das gute Handeln. Ihm ist bewusst, dass das richtige Maß der Verteilung nicht wirklich bestimmt werden kann. Er schreibt dazu: "Was die Darlegung betrifft, so muß man zufrieden sein, wenn sie denjenigen Grad von Bestimmtheit erreicht, den der gegebene Stoff zuläßt." (N.E. I 1 1094b). Das gerechte Handeln ist ein tugendhaftes, von Einsicht geleitetes Handeln im Wissen um die Umstände und die Folgen des Handelns. Die staatliche Glückseligkeit ist damit der persönlichen Glückseligkeit nachgeordnet. Sie kann darauf folgen, muss aber nicht. Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln heißt dann mitnichten, dass wir dauernd versuchen sollen, dass jeder das Gleiche hat. Als Handlungsanweisung ist das natürlich ungleich schwerer umzusetzen.

    1. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 4 Jahren

      Völlige Übereinstimmung .....🤔

    2. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 4 Jahren

      Ich wollte nur anmerken, das mein Zitat aus Aristoteles Betrachtung der "Politik" stammt und es daher einen etwas anderen Blickwinkel hat als in der Nikomachische Ethik, in der es um das gute Handeln der Bürger geht. In der Politeia geht es darum, wie das Gerechte sich in der Gesellschaft ausprägt, zeigt. Er sagt: "Ich habe nun zunächst die Begriffe zu erörtern, welche für die Oligarchie und Demokratie aufgestellt werden und was das Gerechte in beiden sein soll. Alle nehmen ein Gerechtes in beiden an, aber nur bis zu einem gewissen Grade und nicht das Gerechte an sich."

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