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Volk und Wirtschaft

Chinas Wandel, Chinas Moderne – und wir?

Thomas Wahl
Dr. Phil, Dipl. Ing.
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Thomas WahlMontag, 01.06.2020
China ist das Land der wirtschaftlichen Superlative – bei Wachstum, Geschwindigkeit, Masse und Qualität. Was natürlich auch die Gesellschaft dramatisch schnell verändert:
Rechne damit, dass morgen alles anders sein wird: Das ist das Merkmal der Moderne und für die Schanghaier eine unabweisbare Lebensrealität.
Und man fragt sich, werden unsere alternden, wohlhabenden und trägen westlichen Nationen in diesem Wandel mithalten - können und wollen? Hartmut Rosa schildert die Eindrücke seiner Reise durch China aus der Sicht eines Wissenschaftlers, der in seinen Arbeiten die Beschleunigungs- und Entfremdungseffekte der "Spätmoderne" analysiert. Etwa in seinem Buch "Beschleunigung". Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne“ (Suhrkamp, 2005). Die Erkenntnis, die Welt verändert in immer kürzeren Abständen ihre Gestalt. Jede Generation schafft sich ihre Welt gleichsam neu:
Jede Generation kommt mit einem Innovationsauftrag ins Leben: Schaffe dir eine neue Heimat, übernimm nicht einfach das, was die Väter und Mütter dir vorgeben. Finde deinen eigenen Beruf, gründe deine eigene Familie, bau dir dein eigenes Haus. Indes, in fast allen Hinsichten entspricht die Veränderungsgeschwindigkeit Schanghais nicht mehr diesem Muster des generationalen Wandels, sondern hat längst ein intragenerationales Tempo erreicht: Keine Arbeitsstelle, kein Haus und kaum ein Familienarrangement hat mehr über ein ganzes Leben hinweg Bestand.
Man mag das hierzulande als Bedrohung empfinden, aber kann man einfach aus diesem Tempo aussteigen? Oder heißt es mitmachen, wie in China mit stoischem Gleichmut die Folgen ertragen oder eben dramatisch an Wohlstand verlieren? Reicht uns eine etwas wohldosiertere kreative Zerstörung a la Schumpeter?

Ein paar chinesische Wirtschaftsdaten und -pläne zeigen, was eine solche Dynamik z.B.  für Europa bedeuten könnte:
  • Von 2011 bis 2013 verbaute China 6,6 Milliarden Tonnen Beton – mehr als die USA im gesamten 20. Jahrhundert.
  • China steuerte im vergangenen Jahrzehnt wirtschaftlich ein Drittel zum globalen Wachstum bei. 
  • Nach Schätzungen ist der chinesische Internethandel heute größer als der von Frankreich, Deutschland, Japan, Großbritannien und den USA zusammen.
  • Bis 2020 soll jeder chinesische Bürger mit einer Punktezahl bewertet werden, die sich aus Arbeitsverhalten, Freizeitaktivität und finanziellen Transaktionen zusammensetzt.
  • Bis 2030 will China die elf Städte des Perlflussdeltas zu einer Megacity ausbauen, 80-Millionen Menschen sollen dort leben.
Auch wenn dies auf zentralstaatlichen Vorgaben beruht, man geht pragmatisch vor:
 So finden sich an den Universitäten des Landes Lehren des Konfuzius in der School of Marxism, welche keinerlei Problem damit zu haben scheint, unter einer riesigen Mao-Büste neueste westliche Betriebswirtschaft zu unterrichten.

Und man diskutiert auch die von H. Rosa entwickelte Theorie der Moderne, nach der sich unsere modernen Gesellschaften nur dynamisch stabilisieren können. Was ständiges Wachstum und Innovation erzwingt, um institutionelle Struktur und den sozialen Status quo erhalten zu können:

Ohne Wachstum und stetige Innovation verliert sie Arbeitsplätze, schließen Unternehmen, sinken die Staatseinnahmen, weshalb sich der Sozialstaat, das Gesundheits- und das Bildungswesen nicht mehr finanzieren lassen, und am Ende kommt es – in Europa wie in China – zum Legitimitätsverlust des politischen Systems. Die Konsequenz ist, dass wir alle, gleichgültig ob wir in Europa, China oder den USA leben, jedes Jahr ein wenig schneller laufen, ein wenig härter arbeiten müssen, nur um unseren Platz zu verteidigen, nur damit alles so bleiben kann, wie es ist. Die Spätmoderne mündet in einen rasenden Stillstand, der uns systematisch von der Welt entfremdet und eine wachsende Sehnsucht nach einer anderen Form des Lebens, .... erzeugt.
Wobei die (offizielle?) chinesische Seite die negativen Folgen verneint und den Drang zur Entschleunigung, zum Wohlstand durch Verteilungsgerechtigkeit, für eine westliche Idee hält. Für China sei die Beschleunigung und Zuordnung nach messbaren Leistungsparametern gut und zukunftsweisend.


Was auch immer sich am Ende als richtig erweisen wird, für die westlichen Gesellschaften, für jeden von uns, ist dieser Wettstreit der Ideen, der Strategien, eine dramatische Herausforderung. Und wer sich zu früh zur Ruhe setzt, der wird wohl verlieren, mit und ohne "Resonanzkonzept" ...

Chinas Wandel, Chinas Moderne – und wir?

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Kommentare 1
  1. Mathias Bölinger
    Mathias Bölinger · vor mehr als 4 Jahre

    "Hartmut Rosa bereiste zwei Wochen das Reich der Mitte und zeichnet das Porträt einer gespaltenen Gesellschaft, die alles auf Aufstieg setzt." Wer nach dieser Einleitung einen Reisebericht voller exotischer Klischees und psychologisierender Beobachtungen erwartet liegt goldrichtig.

    Immerhin ist das Stück zeitlos. Bis auf wenige Details wie die Hochgeschwindigkeitszüge und Leihfahrräder könnte das genau so vor zwanzig Jahren erschienen sein. Auch damals schon hatte jeder Tourist in Shanghai diese Eindrücke: So viele Menschen. Hochhäuser direkt neben schäbigen Hütten. Diese Kontraste! Die Menschen: Alle so rücksichtslos zueinander. Aber auch duldsam. Unzufrieden wirken sie nicht auf ihren Matten im Hauseingang. Eher erwartungsfroh. (Aber das kann natürlich täuschen). Und der Klassiker: Unter den Mao-Büsten moderne Betriebswirtschaft.

    Ein klassischer unpiq und ein Lehrbeispiel für Orientalismus.

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