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Europa

Was es heißt, konservativ zu sein

Thomas Wahl
Dr. Phil, Dipl. Ing.
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Thomas WahlDienstag, 10.11.2020
Heute scheint das politische Spektrum nur noch aus links oder rechts zu bestehen. Dabei gibt es keine wirkliche Grenze und die Lager selbst differenzieren sich selbst in viele Strömungen und Lager. Ein guter Grund, sich das einmal genauer anzusehen. Was z. B. konservatives Denken und Politik ausmacht – eine Strömung, die in der europäischen Geschichte tief verankert war? Wobei diese Frage auch von Konservativen unterschiedlich beantwortet wird. Und stimmt die populäre Zuschreibung, dass Konservative den Status quo erhalten wollen, auf die Vergangenheit orientiert sind? "Soziopolis" rezensiert unter dem Titel "Wahrer und falscher Konservatismus" das Buch "Nationale Hoffnung und konservative Enttäuschung. Zum Wandel des konservativen Nationenverständnisses nach der deutschen Vereinigung" – die Dissertation von Florian Finkbeiner. Hier erfährt man einiges über die jüngste Geschichte des Konservatismus – besonders in Deutschland:
Während Sozialisten auf die soziale Gerechtigkeit verweisen können und Liberale auf den Vorrang individueller Freiheit, lässt sich ein entsprechender inhaltlicher Kern des Konservatismus nicht so leicht ausmachen. Zweifellos gibt es Grundfiguren, die konservatives Denken auszeichnen. Zu ihnen zählen etwa die Anerkennung menschlicher Unvollkommenheit und die Annahme, dass der Mensch einen Bedarf an Transzendenz hat, aber auch eine grundsätzliche Wertschätzung des common sense und die Auffassung, dass das Individuum stets in geschichtliche Erfahrung eingebettet ist. 
Diese Denkfiguren sind natürlich sehr allgemein und sehr unterschiedlich auslegbar. Reicht das, um etwas Klares, Definitives über den deutschen oder europäischen Konservatismus zu sagen? Oder wie weit trägt das im Buch verwendete Horkheimer-Zitat, der 1970 in einem sehr lesenswerten Spiegel-Interview meinte:
Im übrigen habe ich oft betont, daß richtige Aktivität nicht bloß in der Veränderung, sondern auch in der Erhaltung gewisser kultureller Momente besteht, ja daß der wahre Konservative dem wahren Revolutionär verwandter sei als dem Faschisten, so wie der wahre Revolutionär dem wahren Konservativen verwandter ist als dem sogenannten Kommunisten heute.
Wobei er als erhaltenswerte Momente die Theologie (wenn auch in anderer Form) und positive Kräfte des Liberalismus sah. Dafür und für die folgende Aussage würde man heute den im Alter offensichtlich konservativ gewordenen Horkheimer wohl rechts einordnen:
Marx ist nicht darauf eingegangen, daß Gerechtigkeit und Freiheit dialektische Begriffe sind. Je mehr Gerechtigkeit, desto weniger Freiheit; je mehr Freiheit, desto weniger Gerechtigkeit. Freiheit. Gleichheit, Brüderlichkeit – wunderbar! Aber wenn Sie die Gleichheit erhalten wollen, dann müssen Sie die Freiheit einschränken, und wenn Sie den Menschen die Freiheit lassen wollen, dann gibt es keine Gleichheit.
Zeigt Horkheimer hier nicht "genuin konservative 'Tugenden' wie Demut, Augenmaß und Skepsis gegenüber unbedingten Ansprüchen"? 

Bleibt noch die interessante These des Buches, dass die Nation gar nicht zum ursprünglichen Ideenvorrat der Konservativen gehört. Das war mir auch nicht wirklich bewusst. Der klassische Konservatismus stützte sich auf Religion und Glauben. Was dann im 20. Jahrhundert und den sich beschleunigenden Prozessen der Liberalisierung und Säkularisierung zunehmend nicht mehr funktionierte.
Eine Antwort auf die politische Herausforderung durch „68“ (als Chiffre für das Ende der politischen Hegemonie von rechts wie für verschiedene soziale Modernisierungsphänomene) ließ sich so nicht mehr entwickeln.
Die Nation wurde so etwas wie eine Ersatzreligion, in die man alle möglichen Sehnsüchte projizieren konnte. Insgesamt würde ich jetzt der Rezension zustimmen, 
dass Konservatismus weniger auf ein konkretes Programm abzielt als auf eine bestimmte Haltung zur Welt und die Voraussetzungen ihrer Herausbildung.

Oder wie es der grüne baden-württembergische Ministerpräsident Kretschmann jüngst als "neue Idee des Konservativen" formulierte,
eine Idee, die „nicht mehr die ‚festen‘ Gewissheiten der alten Weltbilder“ gewähre, aber „auch nicht im Beliebigen“ versinke, sondern eine Art weltbezogene Urteilskraft über das zu Bewahrende und das zu Gestaltende in den Mittelpunkt stellt.
Seien wir also vorsichtig, ehe wir andere als Konservative klassifizieren – es ist komplex.
Was es heißt, konservativ zu sein

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Kommentare 7
  1. Cornelia Gliem
    Cornelia Gliem · vor 4 Jahren

    Hierzu passt der kleine Gedanke dass konservative "früher" zb eindeutig und selbstverständlich
    (gläubige) Royalisten waren. was heutzutage "eindeutig" sehr rechts bis hin zu rechtsextrem wäre. (So wie links "früher" auch kommunistisch-leninistisch-revolutionär bedeutete und damit das was heute linksextrem wäre.) bedeutet das nun dass wir modern beliebiger geworden wären? nein. wir haben gelernt. uns ver/gebessert: völlig undemokratische Ansichten werden nicht mehr geduldet ja nicht mal mehr gedacht - jedenfalls vom mainstream. sogar die wenigen extremen politischen Positionen heutzutage behaupten die wahren Demokraten zu sein. ..

    1. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 4 Jahren · bearbeitet vor 4 Jahren

      Schön wäre es ja, wenn wir gelernt hätten. Bin mir da nicht so sicher. Unsere Medien und wir agieren ja immer apokalyptischer.
      https://www.nzz.ch/mei...

      Kann es eigentlich in einer Demokratie undemokratische Gedanken geben? 🤔
      Das wäre ja eine Einschränkung der Meinungsfreiheit. Und die Kontrolle und das Verbieten von Gedanken ist schwierig - und wohl auch undemokratisch? Undemokratische Handlungen hingegen gibt es sicher. Und die gehören Verboten.

  2. Marcus von Jordan
    Marcus von Jordan · vor 4 Jahren

    Schön.
    Zwei Gedanken:

    Je besser es mir geht, desto weniger interessiert bin ich am Wandel, desto mehr werde ich für das Bewahren sein. Andersrum: je prekärer ich bin oder mich fühle, desto unkritischer werde ich mich dem Wandel verschreiben.
    Ich denke an die USA: wenn die Demokraten sich weniger WählerInnen wünschen, denen buchstäblich jede Veränderung recht ist (was interessanter Weise ja in dem Fall genau gar nichts mit „links“ zu tun hat), dann brauchen sie dafür zwingend linkere Politik. Also mehr Partizipation an Wert und Würde für mehr Menschen. Sie brauchen mehr Menschen, die einen Grund haben in dem Sinne konservativ zu sein und nicht irgendeine Veränderung zu wollen.

    Und: guter Konservativismus hat vielleicht was mit Tempo zu tun? Mit einer realistischen Einschätzung davon, wie viel Speed eine Gesellschaft aushält und wo es angezeigt ist, sich auf das Machbare oder Erträgliche zu konzentrieren?

    1. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 4 Jahren

      Ich denke, konservativ heißt nicht wirklich keine Veränderung zu wollen. Um eine Balance zw. Verändern und Bewahren ja - das könnte es heißen.

    2. Marcus von Jordan
      Marcus von Jordan · vor 4 Jahren

      @Thomas Wahl "keine" wäre reaktionär.
      langsam machen, nicht "zeitgeistig" sein, misstrauisch gegenüber Veränderungen, deren Mehrwert oder Bedarf unklar ist - das wäre für mich ein wünschenswerter Begriff von "konservativ".

    3. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 4 Jahren

      @Marcus von Jordan Ja, völlig einverstanden .... 😏

    4. Martin Krohs
      Martin Krohs · vor 4 Jahren · bearbeitet vor 4 Jahren

      @Thomas Wahl Balance zwischen Veränderung und Bewahren könnte man auch als eine Figur des Liberalismus sehen, und obwohl der Konservatismus oft mit der "richtigen" (mässigen) Geschwindigkeit assoziiert wird, scheint mir das passender. Christoph Möllers schreibt in seinem aktuellen Versuch, den zeitgenössischen Liberalismus zu fassen ("Freiheitsgrade"):

      "Zwischen dem, was verändert wird, und dem, was nicht verändert wird, besteht ein Zusammenhang. Indem man sich für die Änderung eines Zustands entscheidet, entscheidet man sich dafür, andere mit zu verändern und wieder andere unverändert zu lassen". Vorher verweist er auf Luhmanns Feststellung, "dass sich alles verändern liesse, nur nicht alles gleichzeitig".

      @Marcus von Jordan Marcus, dein Argument des "Interesses am Bewahren der Privilegien" ist ja sehr verbreitet, ich finde es aber ungerechtfertigt pauschalisierend. Was an der Rezension hier, also allem Anschein auch im rezensierten Buch, ja so interessant ist, ist, dass sie die relative Apolitizität des Konservativen zeigt. Die Rede ist da von einem "intellektuellen Milieu, in dem ein „komplexes Deutungssystem“ geteilt wird". Besitzstandswahrung (oder Wahrung von Privilegien) und eine intellektuelle Mentalität zu vermischen, ist m. E. meist ein ein strategischer politischer Schachzug. Leider kippt man damit das Kind mit dem Bade aus, indem man "konservative Tugenden" wie "Demut, Augenmaß und Skepsis" (ebenfalls aus dem Text) als politisch markiert und mit "konservativer Privilegienwahrung" kurzschliesst. Sie sind aber unabhängig davon legitim und möglicherweise wertvoll.

      Eher könnte ich mir denken, eine ethische und eine politische Ebene generell zu unterscheiden, auch bei Progressiven, und man würde dann zu einem Grobbild kommen, in dem Tugendethiken generell eher "konservativ", Regelethiken (von Kant bis Singer) eher "progressiven" "Politiken" zugeordnet sind. Aber es wären dennoch sehr verschiedene Dimensionen: Auch einer, der (materiell) nichts hat, kann ethisch "konservativ" sein. (Mir kommt da Charles Péguy in den Sinn, den ich kürzlich gelesen und bei mir besprochen habe: ein krass konservativer Habenichts. Natürlich in einer konkreten historischen (französischen) Situation).

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