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Kurator'in für: Europa Volk und Wirtschaft
Jahrgang 1953
Studium der Elektrotechnik und Elektronik
Forschung / Lehre auf dem Gebiet der Wissenschafts- und Innovationstheorie
Entwicklung von Forschungsprogrammen im IKT-Sektor für verschiedene Bundesministerien und Begleitung der Programme und Projekte - darunter Smart Energy, Elektromobilität, netzbasiertes Lernen, Industrie 4.0
Nun im Un-Ruhestand
Warum gibt es arme und reiche Nationen? Warum ist gerade der Westen so wohlhabend? Diese Fragen werden immer wieder gestellt und sehr unterschiedlich, ja völlig konträr und ideologisiert beantwortet. Von der Ausplünderung der armen Länder, über geologische und klimatische Faktoren oder kulturellen Prägungen bis hin zur kapitalistischen Ökonomie und sozialpolitischen Institutionen oder Strukturen reichen die Erklärungen. Eine für mich sehr gelungene Annäherung an diese Problematik war David Landes umfassende und differenzierte Geschichte der Weltwirtschaft über die letzten sechshundert Jahre - "Wohlstand und Armut der Nationen: Warum die einen reich und die anderen arm sind". Noah Smith nähert sich der Frage von der heute in den Medien dominierenden Seite – stammt der Reichtum der modernen reichen Nationen in erster Linie wirklich aus der kolonialen und postkolonialen Plünderung? Und er bringt starke Hinweise darauf, dass dieser in den letzten anderthalb Jahrhunderten mehrheitlich durch etwas anderes erzeugt wurde – durch industrielle Produktion, gepaart mit moderner Wissenschaft.
Wir sind viel reicher als unsere Vorfahren, weil wir wissen, wie man viel mehr Dinge produziert als damals – Autos und Züge und Flugzeuge und Antibiotika und Impfstoffe und Stahlbeton und Strom und fließendes Wasser und Fernseher und Computer und so weiter. Wir wissen auch, wie man Dinge effizienter macht. Im Jahr 1810 wurden 0,4 Prozent des Einkommens der Amerikaner für Nägel ausgegeben. Ja, richtig gehört – die kleinen spitzen Metallstifte nahmen 1 Dollar von den 250 Dollar, die wir damals verdient haben. Heutzutage ist es vernachlässigbar. Im Jahr 2006 betrug der Preis für Beleuchtung in Großbritannien etwa 1/4500 des Preises für Beleuchtung im Jahr 1786.
Die Verteilung des Wohlstandes ist also kein Nullsummenspiel, in dem der Besitz der einen vom Besitz der anderen abgezogen wurde.
Die Welt enthält keinen festen Klumpen Reichtum, der unter den Menschen der Erde aufgeteilt wird. Menschlicher Einfallsreichtum und harte Arbeit erhöhen die Menge des Reichtums in der Welt.
Aber eben auch regional unterschiedlich. Betrachtet man den Anstieg des BIP pro Kopf etwa seit 1820 – der Zeitpunkt, an dem der Wohlstand der westlichen Länder abhob – dann sieht man dort den exponentiellen Anstieg. Etwas, was es in der Jahrtausende alten Geschichte des Imperialismus nicht gegeben hat. Vor 1820 lag der Reichtum aller Gesellschaften viel näher beisammen. Aber alle waren nach heutigen Maßstäben bitter arm, auch die westlichen Kolonialisatoren:
Das bedeutet, dass, was auch immer die heutigen reichen Länder getan haben, um reich zu werden, sie es bis 1820 nicht getan haben. Der Imperialismus ist sehr alt – die Römer, die Perser, die Mongolen und viele andere Reiche haben alle viel Reichtum geplündert. Aber trotz all dieser Plünderung wurde kein Land der Welt nach modernen Maßstäben bis zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts besonders reich.
Noah Smith diskutiert dann die verschiedenen Theorien und Erzählungen, über den Beitrag, den die koloniale Ausbeutung zu den exorbitanten Unterschieden der Moderne im Reichtum des Westens und des globalen Südens, geleistet hat. Ein immer wieder genannter Grund, warum die USA, Europa und Ostasien reicher sind, besteht darin, dass sie ressourcenexportierende Länder "neokolonial" ausbeuten. Etwa dadurch, dass reiche Länder Einfluss auf die Regierungen von ressourcenexportierenden Ländern haben, die es ihnen ermöglichen, künstlich niedrige Preise für die Produkte dieser Länder zu zahlen. Aber wie viel Reichtum kann das wirklich übertragen? Ein führender Befürworter solcher Hypothesen ist Jason Hickel. In einer Arbeit aus dem Jahr 2021 mit Dylan Sullivan und Huzaifa Zoomkawala schreibt er:
Dieses Papier quantifiziert den Abfluss aus dem globalen Süden durch einen ungleichen Austausch seit 1960. Nach unserer primären Methode, die auf Wechselkursdifferenzen beruht, stellen wir fest, dass im letzten Datenjahr der globale Norden ("fortgeschrittene Volkswirtschaften") Rohstoffe im Wert von 2,2 Billionen Dollar aus dem Süden angeeignet hat ... Die Aneignung durch ungleichen Austausch macht bis zu 7 % des nördlichen BIP und 9 % des südlichen BIP aus.
Klar wären diese 7 % zusätzlicher Reichtum für USA, Europa und Ostasien durchaus bemerkenswert, hätten spürbare Auswirkungen, aber sie würden das Grundmuster von Reichtum und Armut unter den Nationen der Erde nicht grundsätzlich ändern. Es gibt also Gründe zu der Annahme, dass die Methodik, die Hickel et al. verwendet, nicht richtig ist.
Sie berechnen den Nettotransfer von Ressourcen – einschließlich der Arbeit als Ressource – mit einer Methode von Dorninger et al. (2021). Diese Methode zeigt im Grunde nur, dass Entwicklungsländer A) Nettoexporteure und B) Nettoarbeitsexporteure sind. Aber das ist bereits allgemein bekannt. Arme Länder sind weniger technologisch anspruchsvoll, so dass ihre Exporte tendenziell mehr Rohstoffe umfassen und arbeitsintensiver sein werden. Reiche Länder haben bessere Technologien und mehr Kapital (Maschinen, Fahrzeuge, Strukturen usw.), so dass ihre Exporte tendenziell kapitalintensiver und technologieintensiver sein werden.
Das bedeutet nicht, dass der Austausch ungleich oder ungerecht ist. Auch stellt sich die Frage, wie genau reiche Länder diesen angeblich ungleichen Austausch erzwingen können? Sicher, im Kolonialismus konnten diese Mächte ihren Kolonien niedrige Preise für ihre Rohstoffe diktieren.
Aber jetzt werden die Rohstoffpreise im Allgemeinen auf den Weltmärkten festgelegt – es gibt ein paar Unterschiede in Bezug auf Versandkosten und Lagerkosten und dergleichen, aber im Allgemeinen wird der Preis für Kupfer, den chilenische Bergleute erhalten, ungefähr derselbe sein wie der Preis, den amerikanische oder australische Bergleute erhalten. Reiche Länder könnten schmutzige Tricks anwenden, um den globalen Preis für Rohstoffe zu senken, von denen sie Nettoimporteure sind, aber sie müssten auch bereit sein, ihren eigenen Bergleuten zu schaden.
Und es würde auch nicht erklären, wie vorrangig rohstoffexportierende Länder wie Australien oder die OPEC zu ihrem Wohlstand kommen? In Werner Plumpes "Geschichte einer andauernden Revolution", womit der Kapitalismus gemeint ist, findet man noch einen anderen Aspekt: Der Strukturwandel nach 1870 ließ die führenden europäischen Volkswirtschaften wie England zumindest relativ an Gewicht verlieren und die Abhängigkeit von kolonialen Importen sank:
Der technologische Wandel war derart stark, dass er die regionalen Strukturen deutlich veränderte. Im Kern ging es dabei um die Loslösung von älteren Mustern der weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung, die unter kolonialen Vorzeichen entstanden waren. Die Entwicklung in den USA und im deutschen Reich zeichnete sich dadurch aus, dass bislang kolonialbezogene Rohstoffe, zumindest dort, wo es technisch möglich war, durch eigene Produkte ersetzt wurden, wodurch sich die beiden Volkswirtschaften in gewisser Hinsicht von den kolonialen Bezugsquellen emanzipierten. Dieser Emanzipationsprozess volzog sich, weil der technologische Wandel ihn ermöglichte, ökonomisch schließlich geradezu erzwang. Betraf das zunächst den Zucker, dessen Herstellung vor allem in Deutschland auf Zuckerrübenbasis seit der Mitte des 19. Jahrhunderts industriell organisiert wurde, so traten später Farbstoffe und viele chemische Verbindungen hinzu. Schließlich zeichnete sich kurz vor dem ersten Weltkrieg mit der Kautschuk- und der Stickstoffanalyse im Bereich der Rohstoffversorgung nachgerade revolutionäre Umstürze ab, die das Gewicht der kolonialen Rohstofflieferanten deutlich senkten. Möglich wurde diese Importsubstitution durch die enge Verbindung von Wissenschaft und Industrie, die sich seit den 1840ger Jahren (etwa mit dem Liebig-Verfahren der Düngung) andeutete und die mit dem Aufblühen der chemischen, elektrotechnischen, feinmechanisch-optischen Industrie im großen Maßstab vollzogen wurde.
Ein treffenderes und nicht vollständig zu widerlegendes Argument für den kolonialen Anteil an unserem aktuellen Reichtum ist hingegen, dass die imperialistische Enteignungen und die Sklaverei die Industrielle Revolution auslösten, die dann die heutigen wohlhabenden Länder reich werden ließ.
Mit anderen Worten: Selbst wenn Imperialismus und Kolonialismus Europa oder die USA nach heutigen Maßstäben nicht reich gemacht haben, so haben sie doch einen Prozess in Gang gesetzt, der letztendlich zu dem geführt hat, was diese Länder schließlich reich gemacht hat.
Das läßt sich natürlich nicht wirklich beweisen, aber es ist was dran, dass der akkumulierte Reichtum auch in die westliche Industrialisierung geflossen ist. Die dann aber ebenfalls mit dazu beigetragen hat, dass fast alle Länder des heutigen Globalen Südens – Afrika, Lateinamerika, Südasien und der Nahe Osten – viel reicher sind als sie es 1820 oder zum Ende der Kolonialzeit waren. Noah Smith zeigt das am Beispiel Nigerias, ein Land mit den schlechtesten Wachstumsraten der Welt. Dennoch ist es heute pro Kopf fast fünfmal reicher als 1950, bei steigender Lebenserwartung. Und das trotz Bevölkerungsexplosion. Man kann es wohl so zusammenfassen, wie Rainer Hank jüngst in der FAZ schrieb:
Am heutigen Wohlstand des Westens klebt Blut, pathetisch gesagt. Doch die derzeit modische Kolonialismusforschung schießt weit über ihr Ziel hinaus. Auf der frechen Plattform „History Reclaimed“ macht der Historiker Lawrence Goldman auf eine Reihe von Übertreibungen aufmerksam. So kam der Beitrag der karibischen Plantagen zum britischen Sozialprodukt nie über elf Prozent hinaus. Gewiss, im frühen 19. Jahrhundert wurden über 130 Dampfmaschinen von England nach Westindien exportiert. Aber allein in Britannien waren 2500 solcher Maschinen in Gebrauch. Das relativiert den Beitrag der Sklavenarbeit dann doch. Wichtiger noch ist ein konfessioneller Unterschied: Träger der industriellen Revolution waren gerade nicht die anglikanischen Sklavenhalter, sondern Unitarier, Quäker, Presbyterianer – erklärte Gegner der Sklaverei. ... Der Kapitalismus beruht auf genialen Erfindungen und guten Rechtsinstitutionen (Eigentum, Vertragsfreiheit, Wettbewerb). Die Sklaverei hat das Wachstum und den wirtschaftlichen Fortschritt befeuert, aber sie hat den Wohlstand der Nationen nicht begründet. Das Argument entschuldigt kein einziges menschenverachtendes Verbrechen. Aber es insistiert auf einem bedeutenden Unterschied: Der Kapitalismus basiert in seinem Kern auf Kreativität und Freiheit und nicht auf Zwang und Unterdrückung.
Was können wir aus der Geschichte und den Diskussionen darüber lernen? David Landes formuliert ganz am Ende seiner Wirtschaftsgeschichte einen skeptischen Optimismus:
Die eine Lehre, die wir daraus ziehen, ist die Notwendigkeit ständigen Erprobens. Keine Wunder. Kein Perfektionismus. Keine Endzeit. Wir müssen einen skeptischen Glauben entwickeln, dass Dogma meiden, gut zuhören und beobachten, versuchen, Ziele klarzustellen und zu bestimmen. Nur so können wir die richtigen Mittel wählen.
Quelle: Noah Smith EN www.noahpinion.blog
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Es geht beim Kolonialismus doch zentral auch eher um die Landnahme, als um den Sklavenhandel? Finde es schon deutlich überspitzt/fälschlich dargestellt. Das Handeln von Europäern (auch heute) über viele Jhd. War imperialistisch und teils extrem aggressiv und brutal. Da sollte aus meiner Sicht nicht viel herunter gespielt werden, gerade in aktuellen Zeiten.
LG