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Klima und Wandel

Die Bilanz des arktischen Sommers (und antarktischen Winters)

Nick Reimer
diplomierter Energie- und Umweltverfahrenstechniker, Wirtschaftsjournalist und Bücherschreiber
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Nick ReimerDienstag, 19.09.2023

Das ist seit vielen Tausend Jahren der sich stets wiederholende Kreislauf: Am Nordpol scheint im Sommer 24 Stunden lang die Sonne, viel Energie trifft auf den Arktischen Ozean – das Meereis, das hier schwimmt, taut langsam ab. Am Südpol geht die Sonne dann dagegen gar nicht mehr auf, es ist 24 Stunden dunkel und bitterkalt, weshalb der Ozean zufriert. Mitte September ändert sich das, der Zug der Sonne sorgt dafür, dass es im Winter am Nordpol 24 Stunden dunkel ist und das Eis am Südpol wieder schmilzt.

Allerdings ist dieses jahrtausendealte Wechselspiel zwischen Tauen und Schmelzen durch den Klimawandel gehörig durcheinandergeraten: Neuen Untersuchungen zufolge hat der menschengemachte Treibhauseffekt die Arktis in den vergangenen 50 Jahren fast viermal so stark erwärmt wie die Welt im globalen Durchschnitt, wie For­sche­r:in­nen aus Norwegen und Finnland belegen. Sie werteten Temperaturdatensätze aus, nach denen sich die Arktis in den vergangenen vier Jahrzehnten durchschnittlich um 0,75 Grad erwärmte, seit 1980 also insgesamt ein Plus von drei Grad.

Ein Grund für die überdurchschnittliche Erhitzung ist der sogenannte Albedo-Effekt: Wie ein Spiegel reflektiert die helle Eisoberfläche das Sonnenlicht – und damit auch die Strahlungsenergie. Dort aber, wo das Eis wegtaut, kommt die dunklere Wasseroberfläche zum Vorschein. Diese absorbiert die Strahlungsenergie stärker. Sehr helles Eis weist einen Albedo-Wert von 0,8 auf; es werden also 80 Prozent Strahlungsenergie ins Weltall zurückgestrahlt. Wasser besitzt dagegen nur den Albedo-Wert von 0,1. Bedeutet: 90 Prozent der Energie gehen in den Ozean. Je wärmer das Wasser wird, umso mehr Eis taut, was wiederum den Ozean anheizt. Ein Teufelskreis.

Am Sonntag, 17. September, betrug die Fläche des arktischen Meereises nach Erhebung des Norwegian Meteorological Institute 3,3 Millionen Quadratkilometer. Das sind 37,3 Prozent weniger als im Durchschnitt des Zeitraums 1981 bis 2010. Nach den Messungen des Alfred-Wegener-Institutes waren es 4,4 Millionen Quadratkilometer, der US-amerikanische Sea-Ice-Extent registrierte 4,234 Millionen. Die Unterschiede ergeben sich aus verschiedenen Messmethoden, aber sie beschreiben alle den gleichen Trend: Im Jahr 2023 wird es zwar keinen neuen Negativrekord geben, aber die Eisfläche geht insgesamt weiter zurück. In einer Studie des Fachmagazins "Nature Communications" kamen Meeresforscher:innen gerade zu dem Schluss, dass die Arktis in den kommenden Jahrzehnten den ersten eisfreien Sommer erleben wird – selbst dann, wenn ab sofort konsequenter Klimaschutz betrieben würde.

Während die Forscher am Nordpol schon lange Alarm schlagen, galt der Eisbildungsprozess in der Antarktis lange Zeit als stabil. Doch in diesem Jahr scheint am Südpol alles anders. Das ging schon mit dem Ende des antarktischen Sommers 2023 (in unserem Winter): Nie war mehr Eis rund um die Antarktis geschmolzen, im Februar waren lediglich noch 1,8 Millionen Quadratkilometer eisbedeckt, ein Zehntel der über die Jahre 1981 bis 2010 gemittelten Messwerte zu dieser Jahreszeit. Der winterliche Eisbildungsprozess ist in diesem Jahr regelrecht zusammengebrochen: Aktuell sind mehr als eine Million Quadratkilometer weniger eisbedeckt als im bisherigen Rekord-Minusjahr 2022. Olaf Eisen, Professor für Glaziologie am Bremerhavener Alfred-Wegener-Institut (AWI), urteilt:

„Das, was wir derzeit in der Antarktis sehen, wäre ohne den Klimawandel nur einmal in fünf Millionen Jahren denkbar.“

Warum uns die Eismassen an Nord- und Südpol interessieren sollten? Zunächst: Weil sie unser Wetter bestimmen – über den Jetstream, einen Höhenwind, der Hoch- und Tiefdruckgebiete von West nach Ost über die Nord- beziehungsweise ein anderer über die Südhalbkugel bläst. Angetrieben werden diese Winde von der Temperaturdifferenz der Pole zu den Tropen. Weil es am Nordpol aber immer wärmer wird, verliert dieser Jetstream seine Kraft und bewegt sich nicht mehr in den gewohnten Wellenbewegungen über die Nordhalbkugel. Meteorologen schreiben die Trockenheit im Frühjahr 2018, die Hitze im Sommer 2019 oder das Hochwasser an Ahr und Erft 2021 dem lahmenden Jetstream zu.

Zweitens leben unter dem Meereis zahlreiche Arten, die direkt vom Eis abhängen, verschiedene Einzeller, Schnecken, kleine Krebse oder die Larven des Krills: Diese garnelenförmigen Krebstierchen sind unerlässlich für das Nahrungsnetz der Ozeane. Weniger Eis bedeutet weniger Krill, bedeutet weniger Nahrung für andere Organismen: Die Organisation „SOS Rescate Fauna Marina“ betrauerte in sozialen Medien geschätzt mehr als 5.000 verendete Magellan-Pinguine, die an die Küste in Uruguay angespült worden waren. Die Tiere hätten wegen Fischmangels im Meer nicht genug Nahrung gehabt und seien wegen fehlender Fettreserven unterkühlt gewesen.

Drittens treibt der jährliche Zyklus von Schmelzen und Gefrieren wichtige Meeresströmungen an und versorgt so die Ökosysteme der Ozeane auf der ganzen Welt mit Nährstoffen und Energie – im Norden ist es etwa der Golfstrom, im Süden die Antarktische Umwälzzirkulation. Eine Studie der University of Southampton legt nun nahe, dass die Antarktische Umwälzzirkulation bereits jetzt schwächelt, bis Mitte des Jahrhunderts könnte sie 40 Prozent ihrer Kraft einbüßen. Solche Warnungen gibt es auch für den Golfstrom, der wie ein Wärmeband Europa mit Energie versorgt.

Und dann ist da noch die Büchse der Pandora, vor der die Wissenschaft eindringlich warnt: Das antarktische Festland ist von Gletschern bedeckt, die zum Wasser hin von einem Schelfeis-Gürtel festgehalten werden. „Dieses Schelfeis verhindert, dass die Gletscher in die Ozeane fließen“, sagt Glaziologe Eisen. Wenn die Ozeane aber zu warm sind und sich nicht mehr genügend schwimmendes Meereis bilden kann: Was wird dann aus den Gletschern der Antarktis? Olaf Eisen: 

„Allein wenn der Westantarktische Eisschild schmilzt, steigt der Meeresspiegel um drei bis fünf Meter“.

Emden liegt ein Meter hoch.

Die Bilanz des arktischen Sommers (und antarktischen Winters)

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