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Kurator'in für: Zeit und Geschichte Fundstücke
Michaela Müller, in Dachau geboren, studierte Politikwissenschaften, Zeitgeschichte und Geschichte Asiens in Berlin. Sie schreibt über Menschenrechte, Migration und Ostafrika. Aufenthalte in Kenia, New York, Paris, Somalia und Somaliland. Bücher/Essays: Vor Lampedusa (2015), Auf See. Die Geschichte von Ayan und Samir (2016). Für piqd wählt sie Texte über die Geschichte des Holocaust, Arbeitergeschichte, Migration und Mentalitätsgeschichte aus.
Nachdem der Bundestag 2002 das Ghettorentengesetz verabschiedet hatte, gingen 88.000 Anträge bei den deutschen Rentenkassen ein. Grundlage war ein Fragebogen. Die Betroffenen und Überlebenden, die damals Kinder waren, mussten über Arbeitgeber und Dauer der Beschäftigung Auskunft erteilen. Aber viele Betroffene sprachen überhaupt kein Deutsch oder hatten im Laufe der Jahre die Sprache verlernt.
93 Prozent der Anträge wurden abgelehnt, auch deshalb weil formal ein Rentenanspruch nur dann bestand, wenn die Arbeit freiwillig und gegen Entgelt geleistet wurde. Die Überlebenden seien bereits aus Mitteln der Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft entschädigt worden.
Der Sozialrichter Jan-Robert Renesse wählte einen anderen Weg. Er suchte das direkte Gespräch. Acht Mal fuhr er in Begleitung von Historikern nach Israel und traf 120 Überlebende. Auch für die historische Forschung ergaben sich neue Erkenntnisse: Aus den Gesprächen ging hervor, dass es mehr Ghettos gab, als bislang bekannt, und es wurde deutlich, dass es im Ghetto Arbeit gegen Entgelt gab – und dazu zählten auch Brot und Suppe.
Anhand der Gespräche ergaben sich Indizien, die einen Rentenanspruch begründen. In 60 Prozent der Fälle sah Renesse einen Anspruch begründet. Damit scherte er aber aus der Spruchpraxis seiner nordrhein-westfälischen Richterkollegen aus.
Das Bundessozialgericht bestätigte jedoch seine Ansicht. Er trat 2016 auch an den Bundestag mit einer Petition heran, in der er forderte, dass Ghettorenten längerfristig rückwirkend bezahlt werden sollen und beklagte die Umstände in Nordrhein-Westfalen. Seine Petition war erfolgreich, aber wegen der Anschuldigungen wurde in Nordrhein-Westfalen ein Disziplinarverfahren gegen ihn eröffnet.
Nun wird Jan-Robert Renesse mit dem Dachau-Preis für Zivilcourage 2017 ausgezeichnet.
Quelle: Julia Smilga Bild: picture-alliance/... br.de
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