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Jochen Schmidt zählte 1999 zu den Mitbegründern der Berliner Lesebühne "Chaussee der Enthusiasten", bei der er bis 2017 wöchentlich auftrat und neue Texte las. Er veröffentlichte Erzählungen ("Triumphgemüse", "Seine großen Erfolge", "Meine wichtigsten Körperfunktionen", "Weltall. Erde. Mensch", "Der Wächter von Pankow"), Romane ("Müller haut uns raus", "Schneckenmühle", "Zuckersand"), Reiseliteratur ("Gebrauchsanweisung für die Bretagne", "Gebrauchsanweisung für Rumänien", "Gebrauchsanweisung für Ostdeutschland"), eine "Gebrauchsanweisung fürs Laufen" und "Schmidt liest Proust", das Tagebuch eines Lektürejahrs. Mit der Künstlerin Line Hoven arbeitete er für "Dudenbrooks", "Schmythologie" und "Paargespräche" zusammen. Gemeinsam mit David Wagner schrieb er die deutsch-deutsche Kindheitserkundung "Drüben und drüben". Zuletzt erschien der Roman "Ein Auftrag für Otto Kwant".
Ich habe ein Problem mit geborgten Büchern, ich lese sie einfach nicht, das war schon mit Büchern aus der Uni-Bibliothek so, von denen ich noch viele Titel weiß, die ich irgendwann einmal ausgeliehen habe, um zuhause kein einziges Mal hineinzusehen, aber trotzdem im Lauf der Zeit erhebliche Mahngebühren zu bezahlen. "Der Sturm" von Yasushi Inoue ist mir von einem Freund geborgt worden, er bekam dafür von mir im Gegenzug "Solaris" von Stanisław Lem, das ich damals gerade gelesen hatte, seitdem haben wir uns aus den Augen verloren und ich hatte immer ein schlechtes Gewissen, weil ich das Buch, das er so großartig fand, noch nicht einmal angefangen hatte. Dabei interessiert mich Japan doch, und wenn ich Fußballprofi wäre, würde ich wie Ousmane Dembélé in den Trainingsstreik treten, um mich wie Lukas Podolski sofort dorthin transferieren zu lassen und in Zukunft auch noch Geld dafür bekommen, daß ich Japanisch lernen und jeden Tag so gut und gesund essen darf. Vielleicht ist es aber gut, daß ich nie dort war, so kann ich mir das Land weiter vorstellen, wie ich möchte, als Paradies für Freunde überflüssiger Gadgets und höflicher Umgangsformen. Mein Wissen über Japan ist nämlich eigentlich beschämend klein. Das meiste, wie daß früher niemand dieses Land verlassen durfte, weiß ich aus der 80er-Serie "Shogun" mit Richard Chamberlain. Und dann gibt es noch den unschlagbaren fun fact, daß Jesus in Japan begraben liegt. Damit habe ich ungefähr so viele Kenntnisse von diesem Land, wie die russische Regierung im 18. Jahrhundert, zu der Zeit, in der "Der Sturm" spielt. Aber um das zu ändern gibt es ja die Literatur.
"Der Sturm" beginnt als Robinsonade, eine Gruppe japanischer Kaufleute gerät in einen Sturm und wird auf ihrem Schiff wochenlang abgetrieben, bis nach Amtschitka, einer fernen Aleuteninsel, wo man seltsam gekleideten Eingeborenen und russischen Pelztierjägern begegnet. Mehrere Jahre verbringen sie auf dieser Insel in einer kargen, deprimierenden Landschaft. Inoue beschreibt sachlich und detailliert, als hätte er das selbst ausprobiert, wie die Japaner ihr Überleben organisieren. Er liefert sowieso viele Fakten, die für gute Recherchen sprechen. Man ißt in Wasser weich gekochte Zwiebeln der Schwarzlilie. Die Mannschaft litt auf See wegen der Unterernährung an Nachtblindheit. Das Puder des Gewürznelkenstiels bringt, auf Butter gestäubt, schnelle Linderung bei leichten Erfrierungen ... Die russischen Pelztierhändler sind Vorposten des russischen Imperiums, das sich immer weiter nach Osten ausgedehnt hat und den unterworfenen Völkern eine Pelzsteuer auferlegt. Aber auf Amtschitka sind auch die Russen eher Verbannte, die von ihrer Zentralmacht mehr oder weniger vergessen werden, deshalb baut man sich irgendwann gemeinsam ein Boot und wagt die Überfahrt nach Kamtschatka. Es beginnt eine jahrelange, vor allem im Winter lebensgefährliche Reise, Station für Station, immer tiefer nach Rußland, bis die letzten Überlebenden in Irkutsk ankommen. Inzwischen können die meisten von ihnen schon halbwegs Russisch: "'Ich habe da folgendes beobachtet', ergriff Isokichi das Wort, 'wenn die Fremden zu uns kommen, dann sagen sie manchmal doch so etwas Ähnliches wie eto tschewo, nicht? Zuerst dachte ich, es hieße 'Ich will das hier', das war es aber nicht, genauso wenig wie 'Das ist dreckig'. Auch wollten sie damit nicht fragen, ob es sich bei dem Gegenstand, auf den sie zeigten, um etwas Wertvolles oder Wertloses handelte. Nein, ich glaube, dieses eto tschewo bedeutet ganz einfach nur 'Was ist das?'" Als erster hatte allerdings der Anführer Kôdayû begonnen, die Sprache zu lernen, er ließ sich von den Fremden Wörter aufschreiben. "Während die Gefährten abends dann alle am Feuer saßen, darüber diskutierten, ob und wann sie wohl die Heimat wiedersähen, ihr eigenes Unglück beklagten oder sich die Zeit mit Wettspielen verkürzten, widmete sich Kôdayû ausschließlich jenen fremdaussehenden Zeichen und vergaß darüber alles andere um sich herum." Die tröstliche Wirkung der Philologie! Den Japanern bleibt nichts übrig, als immer weiter ins endlos große Rußland zu reisen, weil die Beamten, die für sie zuständig sind, keine Entscheidung darüber treffen können, ob man sie wieder nach Japan lassen darf. Das russische Beamtensystem ist vollkommen ineffizient und niemand will durch eigene Entscheidungen etwas riskieren. Selbst der Gouverneur des gesamten Gebiets, der in Irkutsk sitzt, muß erst bei der Zentralmacht nachfragen, was Monate dauert, da die Gesuche an die Regierung in Sankt Petersburg, so lange unterwegs sind und niemand weiß, wer sie dort bearbeiten wird und ob es überhaupt dazu kommt. Schließlich bekommen die Schiffbrüchigen lediglich die Erlaubnis, in Rußland als Kaufleute oder als Sprachlehrer zu leben. Denn es gab schon vor ihnen japanische Schiffbrüchige, die eingebürgert worden sind und den ersten japanischen Sprachunterricht an der Universität von Petersburg gegeben haben. Rußland möchte sich so auf die Aufnahme von Handelsbeziehungen zu Japan vorbereiten, das aber zu dieser Zeit eine strikte Isolationspolitik betreibt. Wieder bringt die Wissenschaft Hoffnung, in Gestalt des Naturforschers und Unternehmers Kirill Laxman, der sich ihrer Sache annimmt, gute Verbindungen hat, aber vor allem ein inspirierender Mensch ist. Laxman sammelt Pflanzen und Gesteine, er analysiert und klassifiziert, was ihm vor die Augen kommt und träumt von einer Expedition nach Japan. Die Gefährten arbeiten zum Zeitvertreib für ihn und mancher findet Gefallen an der Labor- und Archivtätigkeit. Kôdayû muß seine Gefährten immer wieder daran erinnern, daß ihr Ziel die Heimkehr ist. Mit Laxman darf er schließlich nach Petersburg reisen und bekommt nach langem Warten Audienzen bei Zarin Katharina in Zarskoje Selo, die sich wundert, warum ihre Beamten ihr nicht schon längst von dem Fall berichtet haben. Dann tut sich wieder monatelang nichts, ein quälendes Warten, bis Kôdayû die Nachricht erhält, nach Japan heimkehren zu dürfen: "Gefangen von einer unbeschreiblichen Melancholie starrte er zu Boden, unfähig, auch nur die kleinste Bewegung auszuführen." Kôdayû hatte jahrelang mit diesem Ziel gelebt und nun ist er nicht etwa euphorisch, sondern geschockt, das ist gut beobachtet. (Ansonsten verzichtet Inoue weitgehend auf psychologische Spekulationen.) Plötzlich hat Kôdayû das Gefühl, seine Zeit in Rußland nicht richtig genutzt zu haben, er intensiviert seine Aufzeichnungen über dieses beeindruckende Land, die er die ganze Zeit schon gemacht hat. Für ihn ist plötzlich fast alles in Rußland merkwürdig, z.B. daß hier im Gegensatz zu den japanischen Schauspielhäusern, der Vorhang nach oben aufgezogen wird. Wobei er sich in dunklen Momenten darüber bewußt ist, daß seine Aufzeichnungen über Rußland nur einen Wert haben werden, wenn es ihm gelingt, sie nach Japan zu bringen.
Das Buch führt einem den russischen Kolonialismus plastisch vor Augen, die langen Distanzen, die mit Schlitten überwunden werden, das mörderische Klima, die Ineffizienz des Beamtensystems, das Verbannungssystem, das dazu führt, daß sich die Wege der Japaner mit denen interessanter Intellektueller und Adliger kreuzen, die ihrerseits in Sibirien leben müssen, z.B. dem Aufklärer Radischtschew: "Über Radischtschews weiteres Schicksal heißt es daß er an seinem Verbannungsort eine recht passable Unterkunft zugewiesen bekommen habe, in der er sich ungestört seinen Arbeiten widmen konnte, nebenbei der dortigen Bevölkerung Töpferunterricht erteilte, die Kinder betreute und sogar Impfungen gegen Pocken unternommen habe." Man leidet mit den Japanern mit, die die Hoffnung, ihre Heimat wiederzusehen, nie aufgeben, aber mit dem Schicksal ganz verschieden umgehen. (Auf Amtschitka hatte Kôdayû sie eingeschworen: "Wir müssen alles vergessen, was bisher gewesen ist. Wir wissen nicht, wo wir sind, und deshalb laßt uns in dieser Insel den Boden sehen, auf dem wir groß geworden sind. Nur wenn wir so denken, werden wir überleben können. begreifen wir das nicht, dann werden wir es wohl nicht schaffen.") Zwei von ihnen treten zum orthodoxen Glauben über, werden damit Russen und bekommen russische Namen (und verspielen die theoretische Möglichkeit, nach Japan ausreisen zu dürfen, denn das ist ihnen damit gänzlich verwehrt.) Einer verliebt sich in eine russische Witwe. Einer entdeckt irgendwann, daß es in Sibirien ja eigentlich schön ist, worauf man eben erst achten kann, wenn man nicht mehr nur von der Heimkehr träumt: "Nicht jeder besaß wohl die Gabe, den Zauber der Natur während einer Frostperiode zu bewundern, von der er nicht wußte, ob er sie überleben werde oder nicht."
Wir kennen den literarischen Trick der Beschreibung der eigenen Gesellschaft durch die Augen fiktiver Fremder, Montesquieu hat dieses Mittel in den "Lettres persanes" 1721 als erster genutzt, um durch die umgekehrte Blickrichtung das eigene Weltbild in Frage zu stellen. Der ethnologische Blick der Fremden auf uns selbst hat komisches Potential, durch die Verfremdung kann unsere gewohnte Lebensweise plötzlich bizarr wirken. Da die Welt inzwischen zu klein geworden ist, um in der Fremde wirklich noch fremd zu sein, braucht man inzwischen schon außerirdische Besucher, die uns mit den Augen des Ethnologen sehen, wie in "Mork vom Ork" oder "Alf". Für Inoues Japaner, die für uns Exoten sind, ist Rußland ein exotisches Land: "Außerdem lagen auf dem Tisch einige recht merkwürdige Utensilien: kleine, bärentatzenartige Geräte, daneben etwa gleich große Dolche und Kellen, die sie offenbar anstelle der Eßstäbchen benutzen sollten, deren Gebrauchsweise ihnen aber völlig unklar war." Sie erfahren dort aber von den meisten Menschen Gastfreundschaft, wenn ihnen auch lange niemand bei den Behörden helfen kann. Gemeinsam beobachtet man das jährliche Schauspiel des Zufrierens und Auftauens der Angara. Trotzdem träumt man weiter von Japan, ohne wirklich sagen zu können, was man dort vermißt. Die Verwandten werden längst gestorben sein, die Frauen werden sich wieder verheiratet haben (vermißte Seeleute werden ja irgendwann offiziell als tot erklärt). Ist es das Essen? Ist es die Sprache? Wirklich tragisch wird es für die letzten drei, die nach Japan zurückkehren dürfen. Denn in der Heimat erwartet sie ein verknöchertes, menschlich kaltes System ausgefeilter, aber leerer Formalitäten und Rituale, das sich als abweisender erweist als Rußland. Es wird ihnen verboten, jemals in ihre Heimatdörfer zurückzukehren. Man mißtraut ihnen und verdächtigt sie insgeheim, für Rußland zu spionieren. Der Missionschef, ein Sohn von Laxman, der sich für die russische Regierung bemühen soll, Handelsbeziehungen zu Japan aufzunehmen, erfährt, daß er sein Gesuch nur im Hafen von Nagasaki übergeben darf, nur dort könne über diese Frage entschieden werden. Er kehrt unverrichteter Dinge zurück. Vor allem merken Kôdayû und Isokichi aber (Koichi ist nach der Ankunft gestorben), daß ihre Heimat nach so vielen Jahren gar nicht mehr nur Japan ist, wenn sie auch das dortige Meer, die Bäume und die Geräusche vermißt haben, aber zur Hälfte sind sie nun auch in Rußland zuhause, das sie in Zukunft vermissen werden. Und so wird gezeigt, wie den Menschen immer etwas Unerfülltes quält.
Der ganze Fall ist im übrigen authentisch, Inoue stützt sich auf eine Vielzahl von Quellen. Die auftretenden Russen sind großenteils reale Personen, bis hin zu Laxman. Es gibt sogar Querverweise, wie den Sibirien-Reisebericht des Franzosen Lesseps, in dem Kôdayû auftaucht, wovon er aber nie erfahren hat. Am bizarrsten ist allerdings die wissenschaftliche Auswertung der Informationen der Schiffbrüchigen, zu der es in Japan kommt. Dort gibt es zu dieser Zeit "rangaku", einen Wissenschaftszweig, der sich auf der Grundlage der holländischen Sprache mit europäischer Technik und Kultur befaßt. (Von oranda "Holland" und gaku "Wissenschaft"). Rangaku-Gelehrte schreiben Berichte und mehrbändige Bücher über das, was sie von den Schiffbrüchigen erfahren haben. Eine ganze Wissenschaft über einen Teil der Welt, den man nur vom Hörensagen kennt? Denn kein japanischer Wissenschaftler hat ja damals sein Land verlassen dürfen. Ein bißchen kommt mir das wie eine Metapher auf das menschliche Erkenntnisstreben vor, denn irgendwie ist doch angesichts des dunklen Universums, in dem wir leben, jede unserer Wissenschaften ein bißchen "rangaku". Ganz großartig hat das Stanisław Lem im eingangs erwähnten "Solaris" anhand der umfangreichen, global und über Generationen betriebenen, am Ende aber vollkommen ergebnislosen Wissenschaft der "Solaristik" beschrieben, die sich der Erforschung des geheimnisvollen Planeten Solaris befaßt.
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