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Literatur

Kinderbücher 7: Die großen Abenteuer des kleinen Ferdinand

Kinderbücher 7: Die großen Abenteuer des kleinen Ferdinand

Jochen Schmidt
Schriftsteller und Übersetzer
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Jochen SchmidtSamstag, 12.08.2017

Vor Wiederbegegnungen mit Kinderbuchillustrationen, die ich in einer Zeit betrachtet habe, als ich noch gar nicht lesen konnte, habe ich immer eine gewisse Scheu, als würde ich etwas Heiliges profanieren. Denn es öffnet sich sozusagen ein Tunnel durch die Zeit zu frühen Empfindungen, wenn sich nämlich zeigt, wie präsent die Bilder und Details noch sind, die man doch eigentlich vergessen hatte. Und man möchte nicht, daß dieser Zugang zur eigenen Kindheit sich sofort wieder schließt, weil der Effekt sich verbraucht. Es ist geradezu verblüffend, wie tief sich einem in diesem Alter Bilder einprägen. Jeder wird andere Bücher haben, bei denen er das erlebt, bei mir waren es zuletzt "Die großen Abenteuer des kleinen Ferdinand" von Ondřej Sekora. Ich hatte mir das Buch wiederbesorgt, interessanterweise in einer Ausgabe von 1966 aus dem Franz-Schneider-Verlag in München, eine Lizenz der Originalausgabe von 1965, aus dem tschechischen staatlichen Kinderbuchverlag. Die Ausgabe aus meiner Kindheit stammte aus der gleichen Zeit, aber aus dem Prager Albatros-Verlag, der deutschsprachige Ausgaben für die DDR druckte. Obwohl das Buch also im Osten und im Westen erschienen ist, dürfte sein Autor und Illustrator Ondřej Sekora bei uns relativ unbekannt sein, in Tschechien ist das ganz anders. Für mich ist er ein Genie, mit einer für seine Zeit bemerkenswert klaren Linie, Sinn für Humor und für slapstickhafte Details (besonders schön im bei Leiv nachgedruckten Käferband "Auf dem Rummelplatz ist was los", den man sich immer wieder ansehen kann). Die Ferdinand-Trilogie handelt von einer besonderen Ameise mit rotem, schwarzgepunkteten Halstuch, die ein Junge aus einem Ameisenhaufen fischt. Ferdinand kann aus der Schachtel entwischen, muß jetzt aber wieder nachhause finden, was ihm lange nicht gelingt. Er versucht, im Regen in einem Schneckenhaus unterzukommen, was ihm einigen Ärger bringt, er wirbt um Fräulein Siebenpunkt, ein arrogantes Marienkäferfräulein, rote Ameisen nehmen ihn gefangen, nacheinander muß er verschiedenen Insekten dienen, die ihn immer weiterverkaufen. Im dritten Band ist er endlich zurück in seinem Ameisenhaufen, erfindet einen Fahrstuhl, fängt mit einem Lasso Blattlauskühe, läßt einen Tausendfüßler den Ameisenhaufen zu putzen, befaßt sich mit der Versorgung der Larven und verhilft einem benachbarten, sterbenden Ameisenvolk zu neuem Nachwuchs.

Beim Wiederlesen habe ich gestaunt wieviele entomologisch korrekte Beobachtungen hier erzählerisch umgesetzt wurden. Eine Grille, die aus einem Erdloch schaut, die Feuerwanze Frau Rotwange, die so viele Kinder hat, daß Ferdinand ihnen Spielzeug bauen muß, das Umsortieren der Larven im Ameisennest (je nach Temperatur), der Bombardierkäfer, der ein Sekret aus seinem Hinterleib blasen kann, die einschläfernde Wirkung von Thymian, mit dem der Tausendfüßler betäubt wird, Schwimmkäfer, die tatsächlich unter Wasser tauchen und dort Nahrung suchen, sie können sogar Wochen dort unten bleiben und finden an Pflanzen genug Sauerstoff (im Buch ist es Ferdinand, der den Schwimmkäfer über eine Pumpe mit Luftbläschen versorgt, die er sich unter seinen "Rock" steckt). Es kommen aber auch Wasserreiter, Ohrenkneifer, Goldkäfer, Hirschkäfer, Rüsselkäfer, Schmiede, Mücken, Nachtfalter, Libellen, Glühwürmchen, Blindwanzen und viele andere Insekten vor. Die Ruderwanze mit Dolchen unter einer Bauchbinde, hat mich als Kind beeindruckt, sie packt Ferdinands Schiff mit ihren starken Zähnen und zieht es an den Grund des Flusses. Die prägendste Episode war für mich aber die Begegnung mit dem Ameisenlöwen, der Larve der Ameisenjungfer, die selbst einer Libelle ähnelt. Die Ameisenjungfer führt ihren Sprössling, der riesige Beißwerkzeuge hat, an einer Halskette herum, damit er Ferdinand nicht verspeist, der für ihn Ameisen anlocken soll. Der Ameisenlöwe gräbt im Sandboden Trichter, in denen er lauert, um seine Opfer, wenn sie in den Trichter geraten, mit Sand zu bewerfen, so daß sie zu ihm abrutschen und er sie verspeisen kann. Hier kann man das im Film sehen. Die Szene findet sich aber auch im Buch, und es war für mich als Kind eine Horrorvorstellung, immer tiefer in solch einen Sandtrichter zu rutschen, an dessen Grund ein Monster wartete. Zum Glück kann sich Ferdinand retten und vor dem Ameisenlöwen fliehen.

Ich frage mich, ob ich das Buch überhaupt jemals im ganzen gelesen habe, an die Geschichte erinnere ich mich nämlich kaum. Aber die vielen Illustrationen waren bei der Wiederbegegnung verblüffend präsent, bis in kleinste Details. Die Ritterrüstung aus Honig, die Ferdinand sich baut. Die Schlammkügelchen, mit denen die Mücken das arrogante und verlogene Fräulein Siebenpunkt bewerfen. Die Röhren aus Steinchen, Sand, Holzstücken und Muscheln, die sich die Wasserfliegenlarven bauen, um sich darin unter Wasser zu verstecken. Der riesige Regentropfen, der Ferdinand auf den Rücken fällt. Inzwischen weiß ich, daß die Reihe viel älter ist, als ich dachte, sie stammt nämlich schon aus den 30er Jahren, und daß Ondřej Sekora, der den Rugby-Sport in Tschechien eingeführt hat, später ein deutsches KZ überlebt hat. Es ist schade, daß von ihm so wenig auf Deutsch erschienen ist.

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