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Jochen Schmidt zählte 1999 zu den Mitbegründern der Berliner Lesebühne "Chaussee der Enthusiasten", bei der er bis 2017 wöchentlich auftrat und neue Texte las. Er veröffentlichte Erzählungen ("Triumphgemüse", "Seine großen Erfolge", "Meine wichtigsten Körperfunktionen", "Weltall. Erde. Mensch", "Der Wächter von Pankow"), Romane ("Müller haut uns raus", "Schneckenmühle", "Zuckersand"), Reiseliteratur ("Gebrauchsanweisung für die Bretagne", "Gebrauchsanweisung für Rumänien", "Gebrauchsanweisung für Ostdeutschland"), eine "Gebrauchsanweisung fürs Laufen" und "Schmidt liest Proust", das Tagebuch eines Lektürejahrs. Mit der Künstlerin Line Hoven arbeitete er für "Dudenbrooks", "Schmythologie" und "Paargespräche" zusammen. Gemeinsam mit David Wagner schrieb er die deutsch-deutsche Kindheitserkundung "Drüben und drüben". Zuletzt erschien der Roman "Ein Auftrag für Otto Kwant".
Mit einer Rezension zu Platons "Apologie des Sokrates" kommt man natürlich reichlich spät. Der Text ist ja schon vor einer ganzen Weile erschienen. Als Freund der Weisheit mit leider nur unvollständiger Ausbildung will man sich auch nicht lächerlich machen, wenn man die sicher zahllosen Diskurse zum Thema nicht mitverfolgt und einfach nur über die eigene Lektüre schreibt. Aber es geht ja um Sokrates, einen sympathischen Intellektuellen, der seine Zuhörer in dieser Gerichtsrede einleitend selbst warnt, er werde sich "ohne kunstvoll gedrechselte Worte und Wendungen" ausdrücken, so wie er auch an den Wechseltischen auf dem Marktplatz zu reden pflege. Sokrates, der zwar nicht gerne trank, aber wenn, dann am meisten vertrug, der für Athen an mehreren Schlachten teilgenommen hat und dabei große Furchtlosigkeit an den Tag legte, der bewusst ärmlich gelebt hat und keine Schriften hinterließ, weil es ihm nur um das Gespräch ging — so einen Mann hat man in Athen in einem Moment der politischen Krise wegen Asebie zum Tode verurteilt. (Was nur die frappierendste vieler Parallelen zur Figur von Jesus darstellt.) Anders als bei Prozessen üblich, dachte Sokrates gar nicht daran, seine Richter zu Tränen zu rühren oder womöglich mit seinen Kindern zu erscheinen, um sie milde zu stimmen. Gegen die Anschuldigungen verteidigt er sich gar nicht wirklich. Der Hochmut, der ihm nachgesagt wird, weil er sich angeblich als weisesten Mann von Athen bezeichnet habe, sei keiner, denn das habe das Orakel von Delphi über ihn gesagt und er musste diesen göttlichen Spruch ja respektieren. Also zog er planmäßig herum und unterhielt sich mit Menschen, die sich für weise hielten: Politiker, Dichter, Handwerker, um immer wieder festzustellen, dass sie nicht so weise waren, wie sie dachten. ("Ich nahm mir ihre Dichtungen vor, und zwar die, mit denen sie sich meiner Meinung nach besonders viel Mühe gegeben hatten, und fragte sie, was sie damit sagen wollten, um zugleich noch etwas von ihnen zu lernen. Ich scheue mich jetzt, ihr Männer, euch die Wahrheit zu sagen. Trotzdem – ich muß es tun. Denn eigentlich wußten fast alle Anwesenden verständiger über die Sachen zu reden als die Verfasser selber. So stellte ich denn auch bei den Dichtern in kurzer Zeit fest, daß sie nicht aus Weisheit hervorbrachten, was sie hervorbrachten, sondern auf Grund einer besonderen Veranlagung und in göttlicher Begeisterung wie die Seher und Orakelsänger. Denn auch diese Leute sagen viele schöne Dinge, ohne zu wissen, was sie sagen. In einen solchen Zustand schienen mir auch die Dichter zu geraten, und zugleich bemerkte ich, daß sie wegen ihrer Dichtungen glaubten, sie seien auch sonst ganz besonders weise Leute – was sie nicht waren. Ich verließ sie daher mit der Überzeugung, daß ich ihnen in demselben Punkte überlegen war wie den Politikern.") Nur in dieser Beziehung hält er sich für weiser als alle anderen, dass er nämlich weiß, dass er nichts weiß. Das ist die in allen Zeiten provozierende Position des Intellektuellen, der Gewissheiten skeptisch gegenübersteht und sich deshalb mit entschlossenem Handeln schwer tut. Bewundert wird ja eher der Krisenmanager, der bei Sturmfluten die Ruhe bewahrt, der sichere Elfmeterschütze, obwohl der, der daneben schießt, viel tiefere Gefühle hat. Hat Sokrates Angst vor einem Todesurteil? Den Tod zu fürchten wäre nicht weise, da ja niemand wisse, was er bringt. Entweder ewigen Schlaf, was ja nicht unangenehm sei, oder ewiges Beisammensein mit Persönlichkeiten wie Homer oder Hesiod, was sogar wünschenswert wäre. Er weiß, dass er in seinem ganzen Leben nichts Schlechtes getan hat und nicht Macht, noch Reichtum angestrebt hat (,schließlich nimmt er für seine Gespräche, anders als die Sophisten, kein Geld), sondern allein bestrebt war, seine Seele tugendhafter und schöner zu machen (,wobei ihn sein "Daimon" leitet, eine göttliche innere Stimme, die ihn immer davon abhält, etwas Falsches zu tun, z.B. für einen Hungerlohn eine EM-Zeitungskolumne zu schreiben, oder beim Jubiläumsfest des Berliner Hauptbahnhofs vor vorbeihastenden Reisenden seine Texte zu lesen, oder im ZDF-Frühstücksfernsehen Werbung für sein neues Buch zu machen.) Er ist der Meinung, dass er nur fürchten muss, seine Seele schlechter zu machen. Von schlechten Menschen könne einem guten Menschen gar nichts Schlechtes widerfahren. Wenn ihm jemand Schlechtes schade, dann schade er nur sich selbst. Diese Position müsste man sich mal aneignen! Er erklärt auch, warum er stets nur als Privatmann aufgetreten ist und nicht als Politiker. Weil die Athener ihn sonst nämlich schon längst hingerichtet hätten und er seine Aufgabe nicht hätte erfüllen können, was niemandem genützt hätte. Natürlich ist der Text eine Komposition von Platon und in Bezug auf seine historische Wahrheit mit Vorsicht zu genießen. Es hat sich ja eine zweite Version der Verteidigungsrede des Sokrates erhalten, von Xenophon, einem anderen seiner Schüler. Interessanterweise glaubt man ihr eher, weil Xenophon als schlechterer Schriftsteller gilt und man ihm gar nicht zutraut, sich etwas ausgedacht zu haben. Wie schmeichelhaft! Man sollte den Wert der schlechten Schriftsteller für die Forschung nicht unterschätzen.
Die preiswerte, zweisprachige Reclam-Ausgabe mit Übersetzung und klugem Nachwort von Manfred Fuhrmann passt in jede Jackentasche. Es lohnt sich, vor der Lektüre ein paar Jahre Altgriechisch zu lernen, denn die Syntax ist relativ klar, der Wortschatz begrenzt, und auch wenn ich fast jeden griechischen Satz erst verstanden habe, nachdem ich die deutsche Übersetzung gelesen habe, so konnte ich dann oft nicht mehr verstehen, warum ich ihn nicht gleich verstanden hatte. Es ist ein erhebendes Gefühl nach vielen, vielen Stunden Formenpauken, so nah an der freien Lektüre eines 2400 Jahre alten Texts zu sein! Jetzt kommt die Babylonische Keilschrift dran! "Doch jetzt ist's Zeit fortzugehen: für mich, um zu sterben, für euch, um zu leben. Wer von uns dem besseren Los entgegengeht, ist uns allen unbekannt – das weiß nur Gott."
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Schöne Anregung. Lese gerade den Faust. Und danach vielleicht die Apologie. Je älter ich werde, desto mehr bleibe ich bei den Klassikern hängen. Sollte mich das beunruhigen? Liest man als ganz alter Mensch nur noch Schullektüren? Was sagt uns das über uns? Über die Texte sagt es ja nur, dass sie überzeitlich gut sind.