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Jochen Schmidt zählte 1999 zu den Mitbegründern der Berliner Lesebühne "Chaussee der Enthusiasten", bei der er bis 2017 wöchentlich auftrat und neue Texte las. Er veröffentlichte Erzählungen ("Triumphgemüse", "Seine großen Erfolge", "Meine wichtigsten Körperfunktionen", "Weltall. Erde. Mensch", "Der Wächter von Pankow"), Romane ("Müller haut uns raus", "Schneckenmühle", "Zuckersand"), Reiseliteratur ("Gebrauchsanweisung für die Bretagne", "Gebrauchsanweisung für Rumänien", "Gebrauchsanweisung für Ostdeutschland"), eine "Gebrauchsanweisung fürs Laufen" und "Schmidt liest Proust", das Tagebuch eines Lektürejahrs. Mit der Künstlerin Line Hoven arbeitete er für "Dudenbrooks", "Schmythologie" und "Paargespräche" zusammen. Gemeinsam mit David Wagner schrieb er die deutsch-deutsche Kindheitserkundung "Drüben und drüben". Zuletzt erschien der Roman "Ein Auftrag für Otto Kwant".
Es kommt selten vor, daß Architekten klug, humorvoll und angriffslustig über Architektur schreiben, wahrscheinlich, weil der Beruf besonders zeitintensiv und kräftezehrend ist und man dadurch kaum dazu kommt, sich mit dem Gegenstand auch noch theoretisch zu befassen. Ein Buch über Architektur, das so faszinierend ist, daß es einen dazu verführen könnte, die postmoderne Architektur – für mich die lästigste architektonische Erscheinung gleich nach dem Wilhelminismus-, mit anderen Augen zu sehen, ist "Lernen von Las Vegas - Zur Ikonographie und Architektursymbolik der Geschäftsstadt" von Robert Venturi und seiner Frau Denise Scott Brown. Das 1978 erschienene Buch war das Resultat eines Seminars, das Venturi 1968 an der Yale University geleitet hat, und in dessen Ankündigungstext es hieß:
"Wir sind der Meinung, daß eine sorgfältige Bestandsaufnahme und Analyse der physischen Formen des Geschäfts-Strip von Las Vegas für die Stadtplaner und Architekten heute genauso wichtig ist wie vormals das Studium der Werke des mittelalterlichen Europa, des antiken Rom und Griechenlands für die früheren Generationen."
Was heute jeder gute Feuilletonist beherrscht, alltagskulturelle Phänomene mit Begriffen und Methoden zu analysieren, die an der sogenannten Hochkultur erprobt worden sind, war damals anscheinend noch neu und so provokativ, daß Venturi viel Kritik geerntet hat (man warf ihm sogar vor, durch seine Aufgeschlossenheit für das ästhetische Mittelmaß amerikanischer Vorortsiedlungen den dort vermeintlich vorherrschenden Nixonismus zu nobilitieren.) Dabei war Las Vegas überreif für eine Analyse. Nach Jahren unregulierten Wachstums war dort eine neue Form von urbaner Struktur entstanden, der Strip, eine Nicht-Stadt für Flaneure im Auto, eine Straße mit Casinos, Hotels, Kirchen, Tankstellen, vieles davon "dekorierte Schuppen", also Gebäude, die fast vollständig hinter Werbung verschwanden. Im Zweifel wurde eher am Gebäude gespart als an den Werbeträgern, die an der Straße auf das Gebäude hinwiesen und sich ständig weiterentwickelten, weil sie in direkter Konkurrenz zueinander standen ("große Zeichen, kleine Gebäude".) Stilelemente der verschiedensten Epochen und Weltregionen wurden wild zitiert und gemischt, das Signet von "Caesar's Palace" mit Rundsäulen, Skulpturen römischer Soldaten, Leuchtkästen mit Veranstaltungshinweisen und dem Schriftzug aus einer Art von Pfadfinderbuchstaben, die wie aus Zweigen zusammengesetzt waren, hätte so kein Architekt entworfen. Manchmal wurde das Gebäude auch selbst zum Zeichen, wie beim berühmten entenförmigen Entenrestaurant. (Venturi argumentiert, daß auch die mittelalterlichen Kathedralen "Enten" waren). Die Stadt war architektonisch vermittelte Kommunikation und für Venturi eine Antithese zum seiner Meinung nach damals vorherrschenden Purismus der Architekturmoderne, der zur erstarrten Konvention geworden war, dessen programmatische Funktionalität für ihn viel weniger funktionierte als das scheinbare Chaos von Las Vegas. (Bergson: Unordnung ist Ordnung, die wir nicht sehen können.) Dabei bewundert Venturi die Phase der großen Wende in der modernen Architektur, er kritisiert aber die "unbedeutende und deformierte Fortsetzung dieser alten Tradition heute." Die Väter (Frauen konnten sich den Beruf lange nur schwer erobern) der Architekturmoderne hatten den symbolischen Gehalt von Architektur abgelehnt und die Gebäude auf Konstruktion und Raum reduzieren wollen. Venturi streitet ab, daß ihnen das gelungen sei:
"Als Romantiker, die sie immer noch waren, wollten sie eine neue Sensibilität befördern, indem sie auf das räumlich Entfernte anspielten – d.h. auf die Industriebezirke jenseits der Schienen, deren Geist sie auf die anderen Bezirke der Stadt zu übertragen suchten – , nicht aber auf das zeitlich Entfernte, wie das die früheren Romantiker getan hatten, indem sie Schmuckformen in den Stilen der Vergangenheit wiederholten."
Le Corbusier hat bekanntlich von Getreidesilos und Dampfschiffen gelernt, Gropius vom Fabrikbau, Mies von amerikanischen Stahlbauhallen. Ihre Bauten waren eine Interpretation der technologischen Dynamik der industriellen Revolution. Sie haben genau das getan, wofür sich Venturi einsetzt: "Von dem zu lernen, was uns überall umgibt, ist für den Architekten eine Form von revolutionären Avantgardismus." Aber inzwischen gab es eine andere Umwelt: Suburbs, Geschäfts-Strips wie in Las Vegas, Autobahnkreuze, auf denen man nach rechts abbog, wenn man nach links fahren wollte, Werbetafeln, burgerförmige Burgerrestaurants, Motels, Tankstellen, Malls, Suburbs, Strukturen, über die die Puristen die Nase rümpften, während bei ihren eigenen Bauten, wie Venturi feststellt, Übertreibungen im Bereich der Konstruktion zum Ersatz für das verbannte Ornament wurden. Die Besessenheit der Moderne für klar geschnittene Formen ist für Venturi ein Erbe des Ornaments. Das Ergebnis war der (heute wieder schwer angesagte) Sichtbeton-Brutalismus, der für Venturi trotz seiner demonstrativen Nüchternheit eine Form von Expressionismus war, weil die Gebäude mit ihrer Form wirken wollten, wie Monumente, und zwar meist unter völliger Ignoranz des baulichen Kontextes der Umgebung. (Außerdem war gerade der brutalistische Purismus oftmals verlogen, wie die beliebten Abdrücke der Holzmaserung in den Sichtbeton-Wänden in Hoch-Lohn-Ländern zeigen.)
Ich halte diese Kritik an der Architekturmoderne für brillant und falsch, einfach, weil ich diese Gebäude so liebe. Abgesehen davon, daß sie alleine schon durch ihre Qualität einen verschwindend geringen Anteil an der gebauten Realität unserer Städte (und vor allem Dörfer) haben dürften, tut man den Pionieren der Moderne Unrecht, wenn man ihre soziale Mission verkennt, nämlich preiswert und möglichst gut für möglichst viele Menschen zu bauen (was laut Venturi in Amerika Fertighausanbieter aber viel effektiver tun würden und ohne ideologische Programmatik). Gropius hat eine neue Form von Ausbildung angestrebt, die durch Verbindung von Theorie, Handwerk und Praxis am Bau "ganze" Menschen hervorbringen sollte, nicht nur Architekten, sondern Bürger für eine bessere Gesellschaft, im Gegensatz zum von der Industrialisierung produzierten Spezialisten. Gropius hat gegen den "Primadonnen-Architekten" polemisiert und mit kollektiven Arbeitsformen experimentiert. Sein Antrieb war, der Gesellschaft zu dienen und sie mit seinen Mitteln besser zu machen, den Architekten sollte ihre soziale Verantwortung immer bewußt sein. Wenn man ihm oder seinen Nachfolgern, wie Venturi es tut, ankreidet, daß ausgerechnet die Armen sich nicht gegen die puristischen Ideale der Architekten wehren könnten, weil diese für sie Sozialbauten errichteten, dann ist man nur einen Schritt vom scheinästhetischen Argument entfernt, das gerne dafür genutzt wird, den sozialen Wohnungsbau im Ganzen in Frage zu stellen. (Ästhetische Argumente kaschieren oft nur privatwirtschaftliche Interessen. Wenn in Zeitungen über ein Gebäude als "Schandfleck" geschrieben wird, ist immer Vorsicht geboten.)
Venturi gilt als Vater der architektonischen Postmoderne, obwohl er selbst den Begriff ablehnt. Ein erstes Beispiel dieses Stils, der eigentlich kein Stil zu sein scheint, sondern ein Festival des Grellen und Geschmacklosen, war das Vanna-Venturi-Haus, das Venturi ab 1960 für seine Mutter gebaut hat (die dann wohl aber das Nachbargebäude im traditionellen Stil vorgezogen hätte.) Als andere Geburtsstunde der postmodernen Architektur gilt seit Charles Jencks die Sprengung des Pruitt-Igoe-Stadtviertels in Saint Louis im Jahr 1972. Die Postmoderne, das Zitieren von Stilmitteln anderer Epochen, ohne funktionalen Zweck, Säulen, die nicht tragen, Sockel, die zu groß sind, Materialien von der Stange, die sich beißen, Proportionen, die nicht stimmen, grelle Farben, das Spiel mit demonstrativer Unoriginalität, die bewußte Vernachlässigung der Rückseite der Gebäude (wo in Las Vegas ein mit Bierdosen übersätes Niemandsland in die Wüste übergeht) war, wenn man Venturi folgt, ein Aufstand gegen den Purismus der Architekturmoderne der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts. Venturi wünscht sich ein Bauen mit Anspielungen und Kommentaren, Einbettung des Gebäudes in sein bauliches Umfeld, Ironie und Witz. Die Gebäude sollen nicht schön sein, sondern etwas erzählen. (Die Verwendung einfacher Fenster kann z.B. explizit symbolisch gemeint sein, denn es kann gleichzeitig vertraut und fremd wirken, daß simple Fenster verwendet werden und keine speziellere Lösung, Licht ins Gebäude zu lassen, dadurch ergebe sich ein subtiler Verfremdungseffekt.) Es gehe darum, die "tödliche Befangenheit im Ghetto des guten Geschmacks" zu verlassen und sich mit dem auseinanderzusetzen, was unsere gebaute Umgebung wirklich ist. (Das findet seine Parallelen in literarischen Versuchen, sprachliche Wirklichkeit ungefiltert abzubilden. Z.B. die Wiedergabe alltäglicher Sprechweisen im Ulysses. Auch heute sind solche "de-kreativen Impulse" in der Literatur hochaktuell.) Venturis Architektur möchte nicht heroisch und um Originalität bemüht sein, sondern alltäglich, um den Preis, daß sie dann eben häßlich ist. Sein "Guild House", ein Altenwohnhaus in Philadelphia, schmückte deshalb ursprünglich eine Fernsehantenne aus golden eloxiertem Aluminium: "Symbol für den dominierenden Lebensinhalt unserer Alten".
Wenn ich auch mit Venturis Sicht auf die Moderne nicht einverstanden bin, so begeistert mich doch die Neugier und Offenheit, mit der er sich dem Phänomen Las Vegas zugewandt hat. Mit seinen Studenten hat Venturi damals für mehrere Tage diese Stadt besucht und analysiert, reiches Material wurde zusammengetragen, das im Buch neben den brillanten Analysen präsentiert wird: historische Aufnahmen, vergleichende Fotoserien von Tankstellen, Hotelparkplätzen (die oft vor dem Gebäude liegen, weil ihre Größe Prestigecharakter hat), Eingangssituationen und Hotel-Signets, verschiedenste Grafiken (ein Nolli-Plan von Las Vegas!), Diagramme, Stadtpläne. Es war der Versuch, wieder aufnahmefähig zu werden für die Geschmacksrichtungen und Werthaltungen anderer Schichten (aus denen Architekten selten stammen), statt darüber schockiert zu sein und diese Realität zu leugnen. Warum sollte man die Architektur eines Casinos nicht genauso gewissenhaft studieren wie die einer Kathedrale? Für Menschen wie mich, die angesichts der zunehmenden Mediokrität der uns umgebenden Dingwelt immer fürchten müssen, in Kulturpessimismus zu verfallen, ist "Lernen von Las Vegas" ein erfrischendes Beispiel dafür, wieviel produktiver es sein genau hinzusehen, statt zu lamentieren.
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