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Quelle: Wolfgang Schivelbusch "Geschichte der Eisenbahnreise"
Jochen Schmidt zählte 1999 zu den Mitbegründern der Berliner Lesebühne "Chaussee der Enthusiasten", bei der er bis 2017 wöchentlich auftrat und neue Texte las. Er veröffentlichte Erzählungen ("Triumphgemüse", "Seine großen Erfolge", "Meine wichtigsten Körperfunktionen", "Weltall. Erde. Mensch", "Der Wächter von Pankow"), Romane ("Müller haut uns raus", "Schneckenmühle", "Zuckersand"), Reiseliteratur ("Gebrauchsanweisung für die Bretagne", "Gebrauchsanweisung für Rumänien", "Gebrauchsanweisung für Ostdeutschland"), eine "Gebrauchsanweisung fürs Laufen" und "Schmidt liest Proust", das Tagebuch eines Lektürejahrs. Mit der Künstlerin Line Hoven arbeitete er für "Dudenbrooks", "Schmythologie" und "Paargespräche" zusammen. Gemeinsam mit David Wagner schrieb er die deutsch-deutsche Kindheitserkundung "Drüben und drüben". Zuletzt erschien der Roman "Ein Auftrag für Otto Kwant".
Sollte man Bücher lesen, die einem vor Augen führen, daß man im Grunde nichts weiß, und dann auch noch über das nach Männerhobby klingende Thema "Eisenbahn"? Ja, denn es ist einfach faszinierend, wieviel man über unsere Welt aus einer scheinbar nur technikhistorischen Untersuchung wie Wolfgang Schivelbuschs "Geschichte der Eisenbahnreise" lernt. Schon daß die mechanische Kraft sich gegen die animalische in England nach 1815 durch künstlich hochgehaltene Getreidepreise durchgesetzt hat, weil Kohle dadurch billiger wurde. Schon damals bewirkten Politiker oftmals genau das Gegenteil von dem, was sie wollten. Das Buch strotzt vor kuriosen Erkenntnissen, die man auf Partys ins Gespräch einstreuen kann, vielleicht wenn gerade wieder jemand ein langweiliges Deutsche-Bahn-Lamento anstimmt. Dann kann man sagen, daß die frühen Bahningenieure jahrelang dachten, die Eisenräder würden auf Stahlschienen keinen Halt finden, und sich deshalb nur einen Zahnradantrieb vorstellen konnten. Und schon hat man das Thema elegant aufgewertet. Oder daß in Europa die Eisenbahnstrecken wie mit dem Lineal durch die Natur geschnitten wurden (im Tunnel wurde die Natur gleich ganz unsichtbar), während man in Amerika keinen Raummangel, sondern Arbeitskräftemangel hatte, weshalb man die Strecken um Hügel und Hindernisse herumbaute. Oder man erläutert das kulturhistorische äußerst aufschlußreiche Phänomen der Polsterung, die sich parallel zur Industrialisierung bis zum Exzeß entwickelte, weil man den industriellen Ursprung des Möbelstücks verschleiern wollte. Oder man weist darauf hin, daß die Menschen, erst seit sie in Bussen und Bahnen sitzen, in die Verlegenheit kommen (bzw. die Fähigkeit entwickeln mußten), sich stundenlang anzublicken, ohne miteinander zu sprechen. Und wenn über die zu vollen Bahnen geklagt wird, kann man sagen, daß es im 19.Jahrhundert eine weit verbreitete Angst gab, im Waggon ermordet zu werden, das leere Abteil war dem bürgerlichen Reisenden unheimlich, der Seitengang, durch den der Schaffner patrouillierte, beruhigte, genauso die Guckfenster zwischen den Abteilen. Es gab auch die ganz neue Angst, den erbarmungslos pünktlich abfahrenden Zug zu verpassen. Und schließlich kann man noch mit dem Aperçu aufwarten, daß das Publikum der Bahnhofsbuchhandlungen früher fast ausschließlich bürgerlich war, daher gab es dort (anders als heute) gerade keine minderwertige Massenliteratur. Ein beeindruckend tief recherchiertes Buch, in den Fußnoten finden sich pittoreske Verweise, wie auf eine Studie "Zur Psychologie des Sicherheitsgurtes" von 1973 (die man natürlich am liebsten auch gleich lesen würde.)
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Ich hoffe jetzt so sehr, dass jemand auf der nächsten Party von der Bahn anfängt.
wunderbar! ganz wunderbar!