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Jochen Schmidt zählte 1999 zu den Mitbegründern der Berliner Lesebühne "Chaussee der Enthusiasten", bei der er bis 2017 wöchentlich auftrat und neue Texte las. Er veröffentlichte Erzählungen ("Triumphgemüse", "Seine großen Erfolge", "Meine wichtigsten Körperfunktionen", "Weltall. Erde. Mensch", "Der Wächter von Pankow"), Romane ("Müller haut uns raus", "Schneckenmühle", "Zuckersand"), Reiseliteratur ("Gebrauchsanweisung für die Bretagne", "Gebrauchsanweisung für Rumänien", "Gebrauchsanweisung für Ostdeutschland"), eine "Gebrauchsanweisung fürs Laufen" und "Schmidt liest Proust", das Tagebuch eines Lektürejahrs. Mit der Künstlerin Line Hoven arbeitete er für "Dudenbrooks", "Schmythologie" und "Paargespräche" zusammen. Gemeinsam mit David Wagner schrieb er die deutsch-deutsche Kindheitserkundung "Drüben und drüben". Zuletzt erschien der Roman "Ein Auftrag für Otto Kwant".
Seit einem Winter-Aufenthalt in Sarajevo, mit langen Spaziergängen im Schneeregen durch Straßen, die wie Wasserläufe die Berge hinunter zur Marschall-Tito-Straße führten, lese ich alles, was ich zum Thema Jugoslawien finden (und schaffen) kann, um zu verstehen, was ich damals gesehen habe. Es ist allerdings wirklich viel, denn man muß die Literatur mehrerer Länder studieren, man müßte eigentlich mehrere Sprachen beherrschen, man muß ein Gespür für die Eigenheiten des Tito-Sozialismus bekommen, die jugoslawische Popkultur kennenlernen, die Mythen des Alltags, die kollektive Erinnerung an große Sportmomente, vieles davon verbindet die Nachfolgestaaten immer noch. Besonders gerne lese ich über Sarajevo, weil mir die Stadt gefallen hat, wie selten eine Stadt, sowohl der alte, berühmte Teil, als auch die Neubaugebiete, an denen die einzige Straßenbahnlinie in einer Endlosschleife vorbeifährt, und ich wäre gerne endlos mitgefahren. Ein kompliziertes Thema für den Außenstehenden ist die gestörte Beziehung zwischen Emir Kusturica und seiner Heimatstadt Sarajevo, zu deren bedeutendsten Künstlern er für mich mit seinen frühen, stark von Fellini inspirierten Filmen, gehört ("Erinnerst Du Dich an Dolly Bell?" und "Papa ist auf Dienstreise"). Inzwischen ist er eher für seine politischen Statements berüchtigt, was schade ist, denn er kann auch schreiben, wie seine Autobiographie zeigt, die 2010 erschienen ist (Emir Kusturica "Der Tod ist ein unbestätigtes Gerücht – Mein bisheriges Leben"). Das Buch steckt voller plastischer Details über seine Kindheit, die er als wilder Bursche auf den Straßen und Hügeln von Sarajevo verbracht hat. In der Großfamilie wird ständig politisiert, alle Haltungen zum Staat sind vertreten, und man hofft, wenn man das heute liest, immer noch, daß das Land doch nicht so blutig zerfallen möge. Über allem stand natürlich Tito. "Wenn in meiner Straße ein junger Mann die Schönheit eines Mädchens beschreiben wollte, sagte er: 'Wow, die ist Wahnsinn, schön wie Tito.' Und wenn ein Fußballtor besonders sensationell ausgefallen war, pflegte man zu sagen: 'Was für ein Tor – wie Tito!'" 1980, als Tito todkrank war, schlief der Direktor der Fernsehanstalt von Sarajevo in seinem Büro in einem Feldbett, "um zu zeigen, wie sehr ihm die Krankheit des Marschalls zu schaffen machte." Viele haben in Jugoslawien im Gefängnis gesessen, mal für ihre Treue zu Stalin, mal für das Gegenteil. Oder aus ganz anderen Gründen: "Die einen wurden aus ideologischen, die anderen aus fickologischen Gründen verfolgt." Für Kusturica sind Vater und Mutter prägende Figuren, ihre Charakterisierung macht einen der Reize des Buchs aus, Menschen, die durch ihr von Gewalt geprägtes Leben einen bei uns selten gewordenen Stoizismus und Witz entwickelt haben: "Das treffendste Urteil über meinen Vater gab meine Mutter ab: 'Mein Murat ist ein herzensguter Mann; seinen Lastern gibt er sich nur hin, um sich ein wenig von seiner Güte zu erholen.'" Während seine Mutter die Glühbirnen im Hausflur mit Dornen beklebt, damit die Nachbarn sie nicht mehr klauen, wodurch ihr Aufgang als einziger Licht im Fahrstuhl hat. Es sind zwei Geschichten, die Kusturica erzählt, seine Beziehung zu Sarajevo, sowie die komplizierten Ereignisse, die zum Krieg geführt haben, und seine Eroberung der Kinowelt. Die begann damit, daß er Kohlen in den Keller der Cinemathek schippte, um sich Eintrittskarten kaufen zu können. Seinen ersten Auftritt in einem Film hat er mit einer Replik in "Walter verteidigt Sarajevo" (ein Film von 1972, den viele Jugoslawen immer noch mitsprechen können): "Wir haben Glück, sie haben nur einen Wachposten, wir werden sie alle in die Luft jagen!" Als bärbeißige Naturgewalt, als Dickkopf und politischen Idiot, dem ein Mann wie Milosevic imponiert hat (eine Einschätzung, von der er sich aus Sturheit und Ablehnung der westlichen Politik nicht distanzieren will), inszeniert er sich. Mit einer starken romantischen Verklärung seiner Jungszeit, mit Sympathien für die "Indianer" genannten Zigeuner von Sarajevo, als Mitglied einer Gang von Jungs, die sich nach Mädchen verzehrt, die so schön sind, daß sich sogar die Stühle in den Cafés nach ihnen umdrehen. "Wir benahmen uns wie ein Rudel junger Wölfe, das durch sein Verhalten bestätigen wollte, daß es nicht so war wie die gewöhnlichen Leute, und sich niemals den üblichen Formen des Freizeitvergnügens hingab." Manche mag seine zur Schau gestellte politische Trampligkeit abstoßen (immer ein Problem von Künstlern, wenn sie in Wirklichkeit ästhetisch denken und gar nicht politisch), die Vorgeschichte davon erzählt dieses Buch voller starker Details, das es einem nebenbei ermöglicht, sich retrospektiv in eine Stadt zu verlieben, die es so nicht mehr gibt.
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