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Zeit und Geschichte

Gestern & Heute: Läßt sich Intelligenz beschreiben, gar begründen?

Achim Engelberg
schreibt, kuratiert, gibt heraus
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Achim EngelbergMontag, 13.11.2023

Heinz Schlaffer ist tot. Heinz Schlaffer ist noch nicht auf Piqd empfohlen worden. Das ändert sich nun.

Warum aber sollte man ihn erinnern und lesen? Wieso gab es so viele Nachrufe?

Aus heutiger Sicht ist es nurmehr schwer vorstellbar, dass die Veröffentlichung einer deutschen Literaturgeschichte eine monatelange Feuilletondebatte auslöste, doch so war es, anno 2002, als Heinz Schlaffer seine „Kurze Geschichte der deutschen Literatur“ publizierte. Ein Büchlein, das sich auf 150 Seiten beschränkte und in dem er als Germanist die pointierte These vertrat, dass deutsche Literatur nur zweimal 50 Jahre originell gewesen sei. Nämlich zwischen 1770 und 1820. Und zwischen 1900 und 1950.

So heißt es in Marc Reichweins Nachruf in der WELT und er erklärt diese Einteilung.

Im Gegensatz zu Dante und Petrarca hatte das deutsche Mittelalter jenseits von „Nibelungenlied“ und „Parzival“ wenig zu bieten. Erst mit Goethes „Werther“ wurden Maßstäbe gesetzt, die anderswo kopiert werden.

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Heinz Schlaffer war der Meinung, dicke wissenschaftliche Wälzer werden nicht zu Ende gelesen. Er war ein ungemein anregender Essayist, der Denkmöglichkeiten eröffnete.

Er wusste natürlich, dass es auch in anderen Epochen deutsche Schriftsteller gab, die anderswo kopiert worden sind. "Die Blechtrommel" von Günter Grass war eine Erweckung für Salman Rushdie, die er in einem späten Interview selbst erwähnte.

In einem Nachruf der Universität Stuttgart schreibt Barbara Potthast:

Schlaffers Scharfsinn war berauschend und inspirierend, sein Ideenreichtum und seine Freiheit im Denken faszinierten seine Zuhörer. Auch in seinen Schriften ist Schlaffers Darstellungsweise einzigartig: eine klare, verständliche und zugleich schöne Prosa ohne den schwafelnden Fachjargon. In seinen Seminaren und in der Betreuung von studentischen Arbeiten förderte er Meinungsstärke und Thesenfreudigkeit, unterstützte originelle und mutige Positionen, auch gegen den Tenor der germanistischen Sekundärliteratur. Selbständige, kühne Argumentationen in studentischen Arbeiten konnten ihn begeistern.

Wer diesen meisterhaften Essayisten kennenlernen will, der hat jetzt eine gute Chance. Regelmäßig publizierte er im MERKUR, der deutschen Zeitschrift für europäischen Denkens. Vier Beiträge sind jetzt für einige Zeit frei zu lesen, man kann sie sich gratis als PDF herunterladen.

Es sind "Aphorismus und Konversation" aus dem Jahr 1996, in dem es heißt:

Graci´an (einer der größten Schriftsteller der klassischen spanischen Literatur, der von 1601-58 lebte, A. E.) hat die Figur des descifrador, des Entzifferers, geschaffen, der die gesellschaftlichen Masken durchschaut, divinatorisch die eigentlichen Beweggründe des sozialen Lebens erkennt und sie in knappen Formeln benennt. Damit hat er eine Allegorie des aphoristischen Schreibens erfunden. Sie ist dem Wunschtraum des Intellektuellen entsprungen, daß sein Scharfsinn, und sei es auch nur auf dem Papier erwiesener Scharfsinn, eine Waffe sei, der weder Macht noch Reichtum standzuhalten vermöchten. »Jeder ist so viel, als er weiß, und der Weise vermag alles« − solche Allmacht spricht Graci´an in seinen Aphorismen zur Weltklugheit sich und seinesgleichen zu, um die Befürchtung zu beschwichtigen, daß niemand auf und aus dieser Welt klug wird.

"Roland Barthes' Intelligenz" aus dem Jahr 1999:

Zu Lebzeiten begleitete Roland Barthes der Verdacht, wendig den Moden seiner Zeit zu folgen. Heute gelten seine Schriften − die wissenschaftlichen wie die literarischen − als klassisch. Bücher und Aufsätze über ihn, an denen kein Mangel ist, zeichnen die großen Linien seiner Themen und seiner Methoden nach, entfalten seine Bedeutung für die Literaturwissenschaft im Besonderen, für die Kulturtheorie im allgemeinen, suchen Motive für den Übergang vom Strukturalismus zum Poststrukturalismus in seinem Werk und für die zunehmende Neigung, autobiographische Werke zu verfassen. Doch für den Rang, der Barthes zukommt, kann nicht den Ausschlag geben, ob er sich bestimmten, vor allem heute siegreichen Tendenzen zuordnen läßt. Rechtmäßige Voraussetzung für die fortdauernde Beschäftigung mit seinen Gedanken ist ihre außergewöhnliche Intelligenz. Ihre Stärke zeigt sich daran, daß sie selbst den widerstrebenden Leser zu befremdlichen neuen Einsichten in bislang vertraute Erscheinungen des Alltags und oft erprobte Wirkungen der Kunst bewegt. Läßt sich diese Intelligenz beschreiben, gar begründen?

"Der Zusammenhang des Zusammenhanglosen" aus dem Jahr 2004, hier ein Ausschnitt:

Am 3. April 1896 erschien in der Frankfurter Zeitung eine Studie Hugo von Hofmannsthals, Englischer Stil. Den größten Teil des Essays nimmt die Beschreibung einer Nummer im Variet´e ein: Fünf Mädchen, die Barrisons, tragen mit zierlichen Bewegungen kecke Lieder vor. Hofmannsthal stellt den verwirrenden Reiz dieser Erscheinung in eine würdige Tradition: Seit Shakespeare bevorzuge die englische Dichtung die Gestalt des knabenhaften Mädchens. An der Übereinstimmung zwischen erlebten und erdichteten Körperbildern zeige sich der durchgängige Stil der englischen Kultur; selbst englische Möbel seien »mädchenhafter« als etwa französische und deshalb an der »Schlankheit und Leichtigkeit der Formen« zu erkennen. Solche Ähnlichkeiten zwischen entfernten Bereichen wahrzunehmen oder zu konstruieren, gehört zu den anziehenden und doch bedenklichen Freiheiten der Form Essay.

Und - last but not least - "Betreutes Sehen" aus dem Jahr 2011:

In ´Emile Zolas Roman Der Totschläger wagt sich eine plebejische Hochzeitsgesellschaft aus Langeweile und Übermut in den Louvre. Verlegen und dennoch erheitert ziehen diese unerfahrenen Besucher an den Meisterwerken der Malerei vorüber, die ihnen, Leonardos Mona Lisa nicht ausgenommen, kurios erscheinen: »Coupeau hielt vor der Gioconda an, er fand sie einer Tante von ihm sehr ähnlich. Boche und Bibi-la-Grillade stießen sich lachend an und zeigten auf die nackten Frauen; besonders die Schenkel der Antiope verursachten ihnen Gänsehaut. Ganz am Ende das Ehepaar Gaudron, der Mann mit offenem Munde, die Frau ihre Hände auf dem Bauch gefaltet, waren erschüttert und stupide bewegt vor der Jungfrau von Murillo.«

Zu solch ungebührlichem Benehmen und ehrlichem Ausdruck des eigenen Urteils könnte es bei heutigen Museumsbesuchern nicht mehr kommen. Die Gruppe hätte sich vorher angemeldet, würdekundig geführt, müsste respektvoll vor den Bildern verharren, sich am Ende bedanken − und hätte so der Besucherstatistik geholfen, von der die finanzielle Ausstattung der Museen abhängig ist. Kunstpädagogik überzeugt, indem sie den aufwendigen Kunsteinrichtungen ein großes Publikum zuführt, staatliche Geldgeber und private Sponsoren, dass die Mittel für den Kunstbetrieb nicht verschwendet sind. Fast möchte man Zolas Hochzeitsgesellschaft um das freimütige Bekenntnis beneiden, dass sie vor den Kunstwerken nicht die vorgeschriebene Begeisterung empfindet.

Wahrlich, Heinz Schlaffers Essays sind deutsche Beiträge eines europäischen Denkens, das weit und beweglich, aber nicht beliebig ist. 

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