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Zeit und Geschichte

Gestern & Heute: Die feine Linie zwischen Wahrheit und Lüge

Achim Engelberg
schreibt, kuratiert, gibt heraus
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Achim EngelbergMontag, 21.10.2024

Zum Abschluss der Frankfurter Buchmesse erhielt Anne Applebaum den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels - ein gesellschaftliches Ereignis, das die ARD überträgt und nun in der Mediathek zu finden ist.

Zum Nachlesen gibt es die Reden. So hielt die im deutschen Exil lebende Irina Scherbakowa, Gründungsmitglied der mit dem Friedensnobelpreis 2022 ausgezeichneten Menschenrechtsorganisation Memorial, die Laudatio.

Hier ein älterer Pick mit einem prägnanten Essay. In ihrer Rede "Die feine Linie" sagt sie anerkennend:

Aber heute sehe ich Anne Applebaums Rolle als Historikerin und öffentliche Intellektuelle darin, sicherzustellen, dass die feine Linie, die die Wahrheit von der Lüge in der Vergangenheit und in der Gegenwart trennt, bestehen bleibt!

Wie zu erwarten trug Anne Applebaum ein flammendes Plädoyer für die Unterstützung der Ukraine vor und forderte zu einem entschiedenen Kampf gegen Diktaturen auf. 

Und das steht im Schlussabsatz:

Im Kampf gegen die hässliche, aggressive Diktatur auf unserem Kontinent sind unsere stärksten Waffen unsere Grundsätze, unsere Ideale und die Bündnisse, die wir um sie herum aufgebaut haben. Gegen das Wiedererstarken des Autoritarismus sind wir in der demokratischen Welt natürliche Verbündete. Daher müssen wir heute für unsere gemeinsame Überzeugung einstehen, dass die Zukunft besser sein kann, dass wir diesen Krieg gewinnen können, und dass wir die Diktatur einmal mehr überwinden können; unsere gemeinsame Überzeugung, dass Freiheit möglich ist, und dass wahrer Frieden möglich ist, auf diesem Kontinent und überall auf der Welt.

Das ist eine entschiedene Haltung, eine Aufforderung zum Handeln. Allerdings ist hier mit breitem Pinsel in Schwarz-Weiß gemalt.

Hier müssen einige Grautöne eingefügt werden.

In der ersten Reihe in der Paulskirche saß der polnische Außenminister Radoslaw Sikorski, der mit Anne Applebaum verheiratet ist. Über ihn gibt es immer wieder Vorwürfe über krumme Geschäfte. Da er nicht rechtskräftig verurteilt ist und es bekanntlich keine Sippenhaft gibt, kann man das ignorieren, obwohl es ein Geschmäckle hat. Schwieriger wird die Einschätzung von Anne Applebaum bei einem Blick auf ihre Webseite. Es gibt dort Beiträge beispielsweise aus dem Jahr 2000, aber ihre Artikel fehlen, in denen sie für die Kriege in Afghanistan und dem Irak warb. Deshalb schreibt Jan Feddersen in seinem Würdigungsartikel in der taz diese berechtigte Kritik:

Es hätte womöglich für eine gewisse Unruhe im Auditorium gesorgt, wäre die US-amerikanische Polin Applebaum zu den eigenen Fehlern vorgedrungen, etwa zum Fantasma, per Krieg, beispielsweise in Irak und Afghanistan, Demokratie implantieren zu können. Applebaum plädierte einmal sehr für den Irakkrieg, brillante Neocon-Fellow – und sie irrte sich. Da hätte das Publikum vielleicht erfahren: Wie lernt es sich, als Anti-Totalitäre, aus Fehlern?
Gestern & Heute: Die feine Linie zwischen Wahrheit und Lüge

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Kommentare 8
  1. Curti derson
    Curti derson · vor 12 Tagen

    I found your piece not just informative but also incredibly enjoyable; your voice brings the content to life. @Snow Road game

  2. Achim Engelberg
    Achim Engelberg · vor einem Monat

    Noch eine Ergänzung: Licht und Schatten liegen bei Anne Applebaum dicht nebeneinander. In der Zeit, wo das mit dem Pulitzer-Preis gekrönte Gulag-Buch erschien (2003), was auch nach Irina Scherbakowa ihr wichtigstes Buch bis heute ist, agitierte sie für den Irakkrieg. Das Gulag-Buch ist keine wissenschaftliche Glanzleistung, aber eine brauchbare Einführung. Als ich ab 2005 bei einem Dokumentarfilm über das KARLAG (das Lagersystem um Karaganda) beteiligt war, musste ich einigen Fernsehleuten erklären, was der Gulag war. Applebaum verstanden sie.

    Hier noch ein Facebook-Post von Danilo Scholz, Publizist, Ideenhistoriker und Übersetzer:

    Man bekommt einen steifen Hals vor lauter Kopfschütteln über die Art und Weise, in der das deutsche Feuilleton Anne Applebaum derzeit hofiert. Das sind teilweise keine Rezensionen mehr, das sind Ergebenheitsadressen.

    Den Vogel abgeschossen hat Julia Encke letzte Woche in der "FAS". Kognitives Runterdimmen ist erforderlich, um manchen dieser Sätze Schlüssigkeit abzugewinnen. So beginne Applebaums jüngstes Werk "mit etwas, das hierzulande wie eine Art Nationalheiligtum gehandelt wird: mit der Ostpolitik, die unter Willy Brandt zur tragenden Säule der Außenpolitik wurde".
    Warum wird mir hier abverlangt, dass ich vergesse, was ich in den FAZ-Nachbarressorts seit mehr als zwei Jahren in größter Ausführlichkeit, etwa in den Texten von Markus Wehner, lese? Mehr noch: Jeder Depp im deutschen Journalismus hat seit dem Februar 2022 mindestens einen Artikel zu Papier gebracht, in dem der Ostpolitik der Prozess gemacht wird. Gut möglich, dass Bahrs "Wandel durch Annäherung" mal als friedenswahrendes "Nationalheiligtum" durchging, aber inzwischen ist dieses Monument hundert-, wenn nicht tausendfach vom Sockel gestoßen worden.
    Encke weiter: "Selten liest man Bücher, die alles auf einmal sind: investigative Recherche, historische Forschung, politischer Appell und atemberaubend gut geschriebene Essayistik. „Die Achse der Autokraten“ der diesjährigen Friedenspreisträgerin ist so ein Buch. Ein Glücksfall."
    Das unter Encke zielstrebig zum NATO-Wehrertüchtigungsbulletin umgebaute FAS-Kulturressort mag vieles zu bieten haben, ein geschichtliches Gedächtnis hat dieses politische Feuilleton nicht.

    Anne Applebaum, "Washington Post", 30. August 2010: "I supported the invasion of Iraq, I think the surge was a success and I believe that an Iraqi democracy could be a revolutionary force for good in the Middle East."
    Man muss wohl so falsch liegen, das Blut von Tausenden an der schreibenden Hand kleben und sich ungewollt als publizistische Geburtshelferin des IS hervorgetan haben, um mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet zu werden. Gab es auch nur einen Artikel über Applebaum im deutschen Feuilleton des letzten Monats, der auf ihren Neocon-Irrsinn auch nur eingegangen wäre? Diese Lust auf historische Demenz verstört - und sie ist verdammt gefährlich.

    Oder wie Encke schreibt: "'Wir wachen sehr spät auf', heißt es an einer Stelle in 'Die Achse der Autokraten'. Viele scheinen jedoch noch längst nicht aufgewacht zu sein. Dass viele Europäer und Amerikaner bei dem Versuch, die Welt zu verstehen, nur von ihrer eigenen Erfahrung ausgehen, stellt dabei eines der großen Probleme dar."

    Indeed.

    1. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor einem Monat · bearbeitet vor einem Monat

      Zur Unterstützung des Irak-Krieges: ich finde es immer wieder erschreckend, dass die vielen Toten nach dem Sturz des Tyrannen und Kriegstreibers Saddam Hussein umstandslos den Amerikanern inklusive Anne Applebaum (an deren Feder Blut klebt) zugeschrieben werden. Ja, der Export von Demokratie hat nicht funktioniert. Auch wegen der Dummheit und Ignoranz der Amerikaner. Aber doch vor allem wegen der Unfähigkeit der Iraker miteinander eine vernünftige Friedensordnung zu gestalten. Das müßte in eine Analyse mindestens einbezogen werden. Waren die Stämme und Religionen des Landes unmündig, dass sie nur durch Diktaturen wie Saddam in einer Friedhofsruhe "friedlich" existieren konnten? Sollte man also diese Typen (von Maduro, Saddam, Gaddafi, Assad und wie sie alle heißen - bis hin zu Putin?) einfach an der Macht lassen, sie ihre Kriege gegen eigene und fremde Völker führen lassen? Das Embargo und die Flugverbotszone, wie vor dem Einmarsch, einfach fortführen? Das Volk dadurch einfach weiter hungern etc. lassen? Was also tun? Man kann solche Fragen natürlich einfach mit der moralischen Schuldzuweisung an "die Amerikaner" und den Westen erschlagen. Lernen wird man nichts dabei ….

      Ich hab nun gelernt, die FAS sei das NATO-Wehrertüchtigungsbulletin. Der kalte Krieg geht also weiter. Schade.

    2. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor einem Monat

      @Thomas Wahl Während Powell sich entschuldigte, nahm Anne Applebaum nur ihre Artikel von ihrer Webseite und schwieg.

      Als Mitglied der Chefredaktion der Washington Post setzte sie sich lautstark für die Invasion im Irak ein. Ein Auszug aus ihrem Leitartikel "Unwiderlegbar" vom 6. Februar 2003:

      "Nach der gestrigen Präsentation von Aussenminister Colin L. Powell vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ist es schwer vorstellbar, dass irgendjemand daran zweifeln könnte, dass der Irak Massenvernichtungswaffen besitzt. Powell liess keinen Raum für die ernsthafte Behauptung, dass der Irak das Angebot des Sicherheitsrates, eine ‹letzte Gelegenheit› zur Abrüstung zu geben, angenommen hat. Und er lieferte ein schlagkräftiges neues Argument dafür, dass das Regime von Saddam Hussein mit einem Zweig der Al-Qaida-Organisation zusammenarbeitet, der versucht, chemische Waffen zu erwerben und Anschläge in Europa zu verüben."

      In der oben zitierten Kritik an Applebaum geht es nicht um eine Analyse des Iraks, sondern darum, dass sie stets für Militäreinsätze plädierte, die schief gingen. Zuletzt bei der Flucht aus Afghanistan nach 20 Jahren. Wenige Monate später erweiterte der Gewaltherrscher im Kreml den Krieg in der Ukraine.

      Beim Gesamtbild einer Friedenspreisträgerin gehört das dazu.

      Zeitgleich neben ihrer Agitation und Propaganda schrieb sie die beste Einführung zum Gulag, die ich kenne.

    3. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor einem Monat · bearbeitet vor einem Monat

      @Achim Engelberg Man kann und muß natürlich die Fehler bei den den militärischen Interventionen kritisieren. Aber dann auch das Nichts-Tun der anderen Mitglieder im Sicherheitsrat. Wie lange wollte man denn dem Treiben des Saddam noch zusehen?

    4. Dominik Lenné
      Dominik Lenné · vor einem Monat · bearbeitet vor einem Monat

      @Thomas Wahl Hm. Der Kernpunkt beim Irakkrieg ist mMn nicht, ob die Installierung von Demokratie funktioniert hat oder nicht, sondern dass er völkerrechtswidrig war, wenn ich nicht irre.
      Das hat auch die Erbitterung der nichtwestlichen Welt gegen die westliche - berechtigt oder nicht - erhöht.

    5. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor einem Monat · bearbeitet vor einem Monat

      @Dominik Lenné Was heißt in dem Zusammenhang völkerrechtlich? Das im UN-Sicherheitsrat Rußland nicht zugestimmt hat. Und damit den Diktator Saddam Hussein schützte? Und damit das völkerrechtliche Gebot oder zumindest die völkerrechtlich gegebene Möglichkeit zur humanitären Intervention aushebelte? Das war doch der eigentliche Skandal. Man ließ lieber die irakischen Menschen/Völker unter dem UN-Embargo und dem Völkermörder Saddam darben ….. Und schreit jetzt Bruch des Völkerrechts. Das ist doch scheinheilige Doppelmoral.

  3. Nutzer gelöscht
    Nutzer gelöscht · vor einem Monat

    Vielen Dank für die hilfreichen Informationen, die Sie mitbringen. Ich hoffe, Sie werden in Zukunft allen so viele tolle Beiträge wie möglich liefern.
    @io games

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