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Zeit und Geschichte

Gestern & Heute: Der Proust des Katastrophenzeitalters

Achim Engelberg
schreibt, kuratiert, gibt heraus
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Achim EngelbergDienstag, 16.01.2024

Am 16. Januar 1924 ist Aleksandar Tišma geboren. Zu seinem 100. Geburtstag ist er kein vielgelesener Autor mehr - zu Unrecht.

Hat Weltliteratur ein Verfallsdatum? Eigentlich nicht – aber offenbar schon,

fragte bereits 2021 Andreas Breitenstein in seinem ganzseitigen Stück in der NZZ. Anlässlich des Erscheinens der deutschen Übersetzung der Autobiographie "Erinnere Dich ewig" musste er feststellen:

Denn nur ein Jahrzehnt war es dem jüdisch-serbischen Schriftsteller Aleksandar Tišma im deutschsprachigen Raum vergönnt, in seiner vollen Grösse und ganzen Bedeutung erkannt zu werden.

«Das Buch Blam» (1971/72, dt. 1991), «Der Gebrauch des Menschen» (1976, dt. 1991), «Die Schule der Gottlosigkeit» (1978, dt. 1993), «Treue und Verrat» (1983, dt. 1998), «Kapo» (1987, dt. 1997) waren weitum gefeierte Werke. Sie bilden das «Pentateuch» seines erzählerischen Schaffens über die hemmungslose Gewalt und die existenzielle Verzweiflung einer Welt, der die religiöse Jenseitserwartung abhandengekommen ist. Darin riss Tišma den grauen Vorhang vor jener Bühne weg, die seine nordserbische Heimatstadt Novi Sad während des Weltkriegs in der Vernichtung der jüdischen Bevölkerung, aber auch in der Zerstörung einer vitalen Kultur multipler Vielfalt abgegeben hatte.

Hier zusätzlich mein Artikel Der Proust des Katastrophenzeitalters: Aleksandar Tišma, in dem es heißt:

Die Härte und Haltbarkeit vieler Texte von Tišma ... liegt an ihrer Vereinigung lebendiger Widersprüche: Sie feiern die religiöse, ethnische Buntheit von Neusatz und verschweigen nicht die Enge und Borniertheit der Provinz. Universalität fand er im engen kleinstädtischen Milieu, in dem das Geld immer knapp ist, wo die Frauen schnell altern auf der Rutschbahn von der jungen Geliebten zur verhärmten Mutter, wo Männer zerbrechen an der Nichtigkeit ihres Status und sie ihre Erniedrigungen in der Familie entladen, in Selbstmorden und Wahnsinnstaten. Wer hieraus aufsteigt, ist die Ausnahme, die die Regel der endlosen Dumpfheit und des hoffnungslosen Elends bestätigt. Ohne Protest lebt man vor sich hin; Geschichte ist, was Unglück bringt.

Im Beitrag gibt es Ausschnitte aus einem Gespräch, das ich mit dem großen Erzähler kurz vor seinem Tod führte und das zum 100. Geburtstag nun in SINN UND FORM für wenig Geld erscheint.

Die Zeitschrift der Akademie der Künste macht auch zusammen mit dem Buchhändlerkeller eine Veranstaltung in Berlin. Sie findet am 23. Januar 2024 statt. Es lesen und diskutieren Tanja Dückers, Gernot Krämer und ich. In der Ankündigung heißt es zur Kluft zwischen Aleksandar Tišmas Ruhm in den 1990er Jahren und das ihn heute nur wenige kennen trotz unbestreitbarer Relevanz:

Er füllte Säle, war Kandidat für den Literaturnobelpreis. Viele seiner Themen sind tagesaktuell, und seine ästhetischen Positionen harren einer Neuentdeckung wie auch von ihm gestellte Fragen:

Welche Folgen haben Krieg und Vertreibung? Wann beginnt und wie wirkt Antisemitismus? Wie und warum verschwinden manche kosmopolitischen Städte plötzlich einfach von der Landkarte?

Der am Anfang zitierte Artikel von Andreas Breitenstein endet so:

Es war sein unerbittlicher Realismus, der Tišma zum Humanisten und zum Moralisten machte. Seine überragendeStärke war es, «Glut und Asche» zu zeigen, nicht, sie zu erklären. «Erinnere dich ewig» entfaltet nicht die Wucht von Tišmas Romanen, es finden sich darin unbeholfene, rührselige und privat bleibende Passagen. Und doch brennen sich einem diese Erinnerungen als Amalgam von Selbstporträt und Epochenpanorama ins Gedächtnis. Hier findet ein Bodenloser Halt im Bodenlosen und wird selbst zum Halt. Die bleibende Botschaft aus dem Herzen von Aleksandar Tišmas Einsamkeit und Leere aber ist, dass er in seiner Fähigkeit zur Empathie und Dämonie alles war: das Opfer und der Überlebende, der Frivole und der Folterer. Es stände uns verschonten Nachgeborenen an, in diesem literarischen Hohlspiegel die eigene fremde Kontur klar und deutlich zu erkennen.

Eine Wieder- und Neuentdeckung ist an der Zeit.

Gestern & Heute: Der Proust des Katastrophenzeitalters

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