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Wenn man Berichte über das geplante chinesische „Social-Credit-System“, den „Bürger-Score“ liest, wird einem Angst und Bange (für die Chinesen). Infografiken und Tabellen (hier im Stern) suggerieren ein ausgefuchstes, geniales Überwachungssystem, das die chinesische Regierung sich per Dekret zum nächsten Jahr hinzaubert. Aber wie so oft ist die ganze Sache viel komplizierter als man denkt, wie Louise Matsakis hier auf wired.com schreibt.
Abgesehen davon, dass sich das für 2020 geplante System noch in einem stark fragmentierten und höchst ineffizienten Feldversuchsstadium befindet, stützen sich Berichte darüber meist auf veraltete, mittelzuverlässige Quellen.
One of the earliest Western accounts [was] a post titled “China’s Nightmarish Citizen Scores Are a Warning for Americans.” The article is representative of much of the initial wave of coverage, which was often derived from secondhand information that traveled like a game of telephone, rather than on-the-ground reporting. Stanley’s post was sourced largely from a similar story from Privacy News Online, which itself was based on an article from a Swedish website.
Obwohl es immer wieder Versuche von Journalisten und Forschern gab, die Berichte über das geplante System zu differenzieren, sorgen Sprachbarrieren, schlampige Recherche und eine gewisse Sensationsgier dafür, dass die Berichte über den chinesischen „Bürger-Score“ ein Eigenleben entwickeln, dass nicht all zu viel mit der Realität zu tun hat, die wohl noch einen ziemlich unkoordinierten und chaotischen Eindruck macht.
Die übergeigte Berichterstattung ist auch deshalb problematisch, weil die Sensationsberichterstattung das Augenmerk von den tatsächlich Problemen und kritischen Entwicklungen in China ablenke. Aber vor allem dienen die schwarzmalerischen Berichte auch dazu, die Überwachungspläne und -realitäten in anderen (unseren) Teilen der Welt zu verharmlosen und zu relativieren. Auf der Re:publica 2019 wies der Jurist Jeremy Daum darauf hin, dass wir hier auch unsere eigenen Technikängste auf China projizieren.
Wenn man sich nur einmal kurz zurücklehnt und nachdenkt, welche Bewertungs- und Scoringsysteme wir im Westen bereits nutzen, kann einem auch schnell der Projektor angehen. Schließlich müssen auch in Deutschland viele Bewerber um Jobs oder Wohnungen Führungszeugnisse vorlegen, deutsche Behörden führen Register mit Vorstrafen, die Schufa führt in einem recht intransparenten Verfahren Buch über unsere Zahlungsmoral und unseren vermeintlichen sozialen Status, es gibt No-Fly-Listen, von denen niemand so genau weiß, wie man auf sie kommt oder wieder runter. Auch neuere, wahrscheinlich gar nicht mal so unproblematische digitale Bewertungssysteme wie Ebay- oder Amazon-Verkäuferbewertungen, Likes, Retweets oder Vernetzungs- und Empfehlungsgedöns auf Netzwerken wie Xing oder Linkedin nutzen wir fröhlich, freiwillig und freizügig datenspendend. Da ist es natürlich beruhigend, wenn es (vermeintlich) anderswo noch viel schlimmer zugeht als bei uns.
Es ist als hätten viele Journalisten diesen alten Bibelspruch vergessen: Wer unter euch ohne Scoring ist, der werfe den ersten Stein auf die Chinesen!
Quelle: Louise Matsakis EN wired.com
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