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Technologie und Gesellschaft

"Nach Babel" Jonathan Haidts radikale Kritik an Social Media

Maximilian Rosch

Seit März 2017 bei piqd in der Redaktion. Seit Herbst 2021 als Chefredakteur. Wöchentlicher Newsletter über alle Video- und Podcastempfehlungen auf piqd über den untenstehenden Link.

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Maximilian RoschDienstag, 14.06.2022

Schon vor ein paar Wochen hat René Walter einen Text des Sozialpsychologen Jonathan Haidt für The Atlantic im englischen Original gepiqd und vor wenigen Tagen ein langes Podcast-Interview mit Jonathan Haidt nachgelegt. Wir halten Haidts Text für essentiell für das Verständnis der aktuellen US-amerikanischen Situation und für die genaue Betrachtung der gesellschaftlich toxischen Wirkungen von Social Media. Deshalb haben wir dem Atlantic die Übersetzungsrechte abgekauft und ihn in der Redaktion übersetzt. Der Text ist lang und er ist genau richtig lang, weil komplett wichtig. Teilt ihn, schickt ihn gerade auch jungen Menschen. Wir bitten darum, uns eventuell enthaltene Übersetzungsfehler nachzusehen und freuen uns über Hinweise an [email protected].


WARUM DIE LETZTEN 10 JAHRE AMERIKANISCHEN LEBENS SO EINZIGARTIG DUMM WAREN

Es ist nicht nur eine Phase.

Von Jonathan Haidt

Wie wäre es gewesen, in Babel nach dessen Zerstörung zu leben? Im Buch Genesis heißt es, dass die Nachkommen Noahs eine große Stadt im Land Schinar errichteten. Sie bauten einen Turm "mit seiner Spitze in den Himmel", um sich "einen Namen zu machen". Gott war beleidigt von der Hybris der Menschheit und sagte:

Sieh, sie sind ein Volk, und sie haben alle eine Sprache; und dies ist nur der Anfang dessen, was sie tun werden; nichts, was sie vorhaben, wird ihnen jetzt unmöglich sein. Komm, lass uns hinuntergehen und dort ihre Sprache verwirren, damit sie die Sprache des anderen nicht verstehen.

Der Text sagt nicht, dass Gott den Turm zerstört hat, aber in vielen populären Darstellungen der Geschichte tut er es, also also sollte man sich dieses dramatische Bild vor Augen halten: Menschen, die zwischen den Ruinen umherirren, unfähig zu kommunizieren, zu gegenseitigem Unverständnis verurteilt.

Die Geschichte von Babel ist die beste Metapher, die ich für das gefunden habe, was in den 2010er Jahren mit Amerika passiert ist, und für das zerbrochene Land, in dem wir jetzt leben. Irgendetwas ging ganz plötzlich schief. Wir sind desorientiert, unfähig, dieselbe Sprache zu sprechen oder dieselbe Wahrheit zu erkennen. Wir sind voneinander und von der Vergangenheit abgeschnitten.

Es ist seit geraumer Zeit klar, dass das rote Amerika [Farbe der Republikaner] und das blaue Amerika [Farbe der Demokraten] sich in zwei verschiedene Länder entwickeln werden, die dasselbe Territorium beanspruchen, mit zwei verschiedenen Versionen der Verfassung, der Vorstellung von Wirtschaft und der amerikanischen Geschichte. Aber Babel ist keine Geschichte über Tribalismus [hier so viel wie Stammesbildung, im Sinne der totalen Abgrenzung des einen Stammes vom anderen]; es ist eine Geschichte über die Fragmentierung von allem. Es geht um die Zertrümmerung von allem, was solide schien, die Zerstreuung von Menschen, die eine Gemeinschaft gewesen waren. Es ist eine Metapher für das, was nicht nur zwischen Rot und Blau passiert, sondern auch zwischen der Linken und der Rechten sowie innerhalb von Universitäten, Unternehmen, Berufsverbänden, Museen und sogar Familien.

Babel ist eine Metapher dafür, was einige Formen der sozialen Medien fast allen Gruppen und Institutionen angetan haben, die für die Zukunft des Landes am wichtigsten sind – und für uns als Volk. Wie ist das passiert? Und was bedeutet es für das Amerikanische Leben?

Der Aufstieg des "modernen Turms"

Es gibt eine Bewegung in der Geschichte, und zwar immer in Richtung Zusammenarbeit in größerem Maßstab. Wir sehen diesen Trend in der biologischen Evolution in einer Reihe von "großen Übergängen", in denen zuerst vielzellige Organismen auftauchten und dann neue symbiotische Beziehungen entwickelten. Wir sehen es auch in der kulturellen Evolution, wie Robert Wright 1999 in seinem Buch Nonzero: The Logic of Human Destiny erklärte. Wright zeigte, dass es in der Geschichte eine Reihe von Übergängen gibt, die von der steigenden Bevölkerungsdichte und neuen Technologien (Schreiben, Straßen, Druckerpresse) angetrieben wurden und die neue Möglichkeiten für gegenseitig vorteilhaften Handel und Lernen geschaffen haben. Nullsummenkonflikte – wie die Religionskriege, die entstanden, als die Druckerpresse häretische Ideen in ganz Europa verbreitete – wurden lieber als vorübergehende Rückschläge betrachtet und manchmal sogar als integraler Bestandteil des Fortschritts. (Diese Religionskriege, argumentierte er, ermöglichten den Übergang zu modernen Nationalstaaten mit besser informierten Bürgern.) Präsident Bill Clinton lobte Nonzeros optimistische Darstellung einer kooperativeren Zukunft dank anhaltendem technologischem Fortschritt.

Das frühe Internet der 1990er Jahre mit seinen Chatrooms, Message Boards und E-Mails war ein Beispiel für die Nonzero-These, ebenso wie die erste Welle von Social-Media-Plattformen, die um 2003 auf den Markt kamen. Myspace, Friendster und Facebook machten es einfach, sich zu verbinden mit Freunden und Fremden, um kostenlos und in einem nie zuvor vorstellbaren Umfang über gemeinsame Interessen zu sprechen. Bis 2008 hatte sich Facebook zur dominierenden Plattform entwickelt – aus damals mehr als 100 Millionen monatlichen Nutzern sind bis heute rund 3 Milliarden geworden. Im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts galten die sozialen Medien weithin als Segen für die Demokratie. Welcher Diktator könnte einer vernetzten Bürgerschaft seinen Willen aufzwingen? Welches Regime könnte eine Mauer errichten, um das Internet fernzuhalten?

Der Höhepunkt des technodemokratischen Optimismus war wohl 2011, ein Jahr, das mit dem Arabischen Frühling begann und mit der globalen Occupy-Bewegung endete. Zu diesem Zeitpunkt wurde auch Google Translate auf praktisch allen Smartphones verfügbar, so dass man sagen könnte, dass 2011 das Jahr war, in dem die Menschheit den Turm zu Babel wieder aufgebaut hatte. Wir waren näher als je zuvor daran, "ein Volk" zu sein, und wir hatten den Fluch der Trennung durch Sprache effektiv überwunden. Für technodemokratische Optimisten schien dies nur der Anfang dessen zu sein, was die Menschheit erreichen könnte.

Im Februar 2012, als er sich darauf vorbereitete, Facebook an die Börse zu bringen, dachte Mark Zuckerberg über diese außergewöhnlichen Zeiten nach und legte seine Pläne dar. "Heute hat unsere Gesellschaft einen weiteren Wendepunkt erreicht", schrieb er in einem Brief an Investoren. Facebook hoffte, "die Art und Weise, wie Menschen Informationen verbreiten und konsumieren, neu zu verdrahten". Indem es ihnen "die Macht zum Teilen" gebe, würde es ihnen helfen, "viele unserer Kerninstitutionen und -industrien erneut zu transformieren".

In den zehn Jahren seitdem hat Zuckerberg genau das getan, was er versprochen hatte. Er hat die Art und Weise, wie wir Informationen verbreiten und konsumieren, neu verkabelt; er hat unsere Institutionen transformiert und über den Kipppunkt hinausgeschoben. Es ist nicht so gelaufen, wie er es erwartet hatte.

Die Dinge fallen auseinander

Historisch gesehen haben sich Zivilisationen auf gemeinsames Blut, gemeinsame Götter und gemeinsame Feinde verlassen, um der Tendenz entgegenzuwirken, sich auseinander zu entwickeln, wenn sie wachsen. Aber was hält große und vielfältige, säkulare Demokratien wie die Vereinigten Staaten und Indien oder auch das moderne Großbritannien und Frankreich zusammen?

Sozialwissenschaftler haben mindestens drei Hauptkräfte identifiziert, die erfolgreiche Demokratien kollektiv zusammenhalten:

Sozialkapital (ausgedehnte soziale Netzwerke mit hohem gegenseitigem Vertrauen), starke Institutionen und gemeinsame Geschichten. Die sozialen Medien haben alle drei geschwächt. Um zu sehen, wie das passiert ist, müssen wir verstehen, wie sich die sozialen Medien im Laufe der Zeit verändert haben – und zwar insbesondere in den Jahren nach 2009.

In ihren frühen Inkarnationen [hier: Erscheinungsformen] waren Plattformen wie Myspace und Facebook relativ harmlos. Sie erlaubten es Benutzern, Seiten zu erstellen, auf denen sie Fotos, Familien-Updates und Links zu den meist statischen Seiten ihrer Freunde und Lieblingsbands posten konnten. Insofern können die frühen sozialen Medien nur als ein weiterer Schritt in der langen Entwicklung technologischer Verbesserungen angesehen werden – von der Post über das Telefon bis hin zu E-Mail und SMS – die den Menschen halfen, das ewige Ziel zu erreichen, ihre sozialen Bindungen aufrechtzuerhalten.

Aber nach und nach fühlten sich die Nutzer sozialer Medien wohler damit, intime Details ihres Lebens mit Fremden und Unternehmen zu teilen. Wie ich 2019 in einem Atlantic-Artikel mit Tobias Rose-Stockwell schrieb, wurden sie geschickter darin, sich darzustellen und ihre persönliche Marke zu pflegen – Aktivitäten, die andere beeindrucken könnten, aber die Freundschaften nicht so vertiefen, wie es ein privates Telefongespräch tun würde.

Nachdem die Social-Media-Plattformen die Benutzer darauf trainiert hatten, mehr Zeit darauf zu verwenden sich darzustellen und weniger Zeit mit Kontakt zu verbringen, war die Bühne für die große Transformation bereitet, die 2009 begann: die Intensivierung der viralen Dynamik.

Babel is not a story about tribalism. It’s a story about the fragmentation of everything.

Vor 2009 hatte Facebook den Nutzern eine einfache Zeitleiste zur Verfügung gestellt – einen endlosen Strom von Inhalten, von ihren Freunden und Verbindungen generiert, mit den neuesten Beiträgen oben und den ältesten unten. Dies war oft in der Menge überwältigend, aber es war eine genaue Widerspiegelung dessen, was andere gepostet hatten. Das änderte sich 2009, als Facebook seinen Nutzern die Möglichkeit bot, Posts mit einem Klick öffentlich zu "liken". Im selben Jahr führte Twitter etwas noch Mächtigeres ein: den "Retweet"-Button, der es Benutzern ermöglichte, einen Beitrag öffentlich zu unterstützen und ihn gleichzeitig mit all ihren Followern zu teilen. Facebook kopierte diese Innovation bald mit einem eigenen "Teilen"-Button, der 2012 für Smartphone-Nutzer verfügbar wurde. "Gefällt mir"- und "Teilen"-Buttons wurden schnell zu Standardfunktionen der meisten anderen Plattformen.

Kurz nachdem der "Gefällt mir"-Button begann, Daten darüber zu produzieren, was seine Nutzer am besten dazu bringt zu interagieren, entwickelte Facebook Algorithmen, um jedem Nutzer die Inhalte zu liefern, die am wahrscheinlichsten ein "Like" oder eine andere Interaktion erzeugen, einschließlich des "Teilens". Spätere Untersuchungen zeigten, dass Beiträge, die Emotionen auslösen – insbesondere Wut auf Fremdgruppen – am wahrscheinlichsten geteilt werden.

2013 waren die sozialen Medien zu einem neuen Spiel geworden, mit einer Dynamik, die sich von derjenigen des Jahres 2008 unterschied. Wenn man geschickt war oder Glück hatte, konnte man einen Beitrag verfassen, der "viral" ging und einen für ein paar Tage "internetberühmt" machte. Wenn Sie aber einen Fehler machten, konnten Sie sich unter Hasskommentaren begraben sehen. Der Ruhm oder die Schmach Ihrer Beiträge hing von den Klicks Tausender Fremder ab, und Sie wiederum trugen Tausende von Klicks zu diesem Spiel bei.

Dieses neue Spiel förderte Unehrlichkeit und Mob-Dynamik: Die Nutzer ließen sich nicht nur von ihren wahren Vorlieben leiten, sondern auch von ihren früheren Erfahrungen mit Belohnung und Bestrafung sowie von ihrer Vorhersage, wie andere auf jede neue Aktion reagieren würden. Einer der Twitter-Ingenieure, der an der "Retweet"-Schaltfläche gearbeitet hatte, sagte später, dass er seinen Beitrag bedauerte, weil er Twitter zu einem noch unangenehmeren Ort gemacht hatte. Als er beobachtete, wie sich durch die Verwendung des neuen Tools Twitter-Mobs bildeten, dachte er bei sich: "Wir haben vielleicht gerade einem Vierjährigen eine geladene Waffe in die Hand gedrückt."

Als Sozialpsychologe, der sich mit Emotionen, Moral und Politik beschäftigt, habe ich das auch gesehen. Die neu gestalteten Plattformen waren nahezu perfekt darauf ausgelegt, die moralischsten und unreflektiertesten Seiten zum Vorschein zu bringen. Das Ausmaß der Empörung war schockierend.

Es war genau diese Art von zuckendem und explosivem Wutausbruch, vor dem James Madison bei der Ausarbeitung der US-Verfassung zu schützen versucht hatte. Die Schöpfer der Verfassung waren hervorragende Sozialpsychologen. Sie wussten, dass die Demokratie eine Achillesferse hat, weil sie vom kollektiven Urteil des Volkes abhängt und demokratische Gemeinschaften "den Turbulenzen und der Schwäche unbändiger Leidenschaften" ausgesetzt sind. Der Schlüssel zu einer nachhaltigen Republik bestand daher darin, Mechanismen einzubauen, die die Dinge verlangsamen, die Leidenschaften abkühlen, Kompromisse erfordern und die Regierenden von der Manie des Augenblicks abschirmen, sie aber dennoch in regelmäßigen Abständen, am Wahltag, vor dem Volk zur Rechenschaft ziehen.

Die Tech-Unternehmen, die von 2009 bis 2012 die Viralität gesteigert haben, haben uns tief in Madisons Albtraum gebracht. Viele Autoren zitieren seine Bemerkungen in "Federalist No. 10" über die angeborene menschliche Neigung zur "Fraktionierung", womit er die Tendenz meinte, uns in Teams oder Parteien aufzuteilen, die so sehr von "gegenseitiger Feindseligkeit" entflammt sind, dass sie "viel eher geneigt sind, sich gegenseitig zu ärgern und zu unterdrücken, als für ihr gemeinsames Wohl zusammenzuarbeiten."

Der Aufsatz geht aber noch weiter zu einer weniger zitierten, aber ebenso wichtigen Erkenntnis über die Anfälligkeit der Demokratie für Trivialitäten. Madison stellt fest, dass die Menschen so anfällig für Fraktionszwang sind, dass dort,

wo sich kein wesentlicher Anlass bietet, die frivolsten und fantasievollsten Unterscheidungen ausreichen, um ihre unfreundlichen Leidenschaften zu entfachen und ihre heftigsten Konflikte zu entfachen.

Die sozialen Medien haben das Frivole sowohl vergrößert als auch zur Waffe gemacht. Ist unsere Demokratie jetzt gesünder, nachdem wir uns auf Twitter über das "Tax the Rich"-Kleid der Abgeordneten Alexandria Ocasio-Cortez bei der jährlichen Met Gala und über Melania Trumps Kleid bei einer Veranstaltung zum Gedenken an den 11. September 2001 stritten, dessen Nähte irgendwie wie ein Wolkenkratzer aussahen? Wie wäre es mit dem Tweet von Senator Ted Cruz, in dem er Big Bird dafür kritisiert, dass er über seine COVID-Impfung getwittert hat?

Es geht nicht nur um die Verschwendung von Zeit und Aufmerksamkeit, sondern auch um den kontinuierlichen Abbau von Vertrauen. Eine Autokratie kann Propaganda betreiben oder Angst einsetzen, um die gewünschten Verhaltensweisen zu motivieren, aber eine Demokratie hängt von der weithin verinnerlichten Akzeptanz der Legitimität von Regeln, Normen und Institutionen ab. Blindes und unwiderrufliches Vertrauen in eine bestimmte Person oder Organisation ist niemals garantiert. Wenn die Bürger jedoch das Vertrauen in gewählte Führungspersönlichkeiten, Gesundheitsbehörden, Gerichte, die Polizei, Universitäten und die Integrität von Wahlen verlieren, dann wird jede Entscheidung angefochten; jede Wahl wird zu einem Kampf auf Leben und Tod, um das Land vor der anderen Seite zu retten. Das jüngste "Edelman Trust Barometer" (ein internationales Maß für das Vertrauen der Bürger in Regierungen, Unternehmen, Medien und Nichtregierungsorganisationen) zeigt, dass stabile und kompetente Autokratien (China und die Vereinigten Arabischen Emirate) an der Spitze der Liste stehen, während umstrittene Demokratien wie die Vereinigten Staaten, das Vereinigte Königreich, Spanien und Südkorea am Ende der Liste zu finden sind (wenn auch vor Russland).

Jüngste akademische Studien legen nahe, dass die sozialen Medien tatsächlich das Vertrauen in Regierungen, Nachrichtenmedien sowie Menschen und Institutionen im Allgemeinen beeinträchtigen. Ein Arbeitspapier der Sozialwissenschaftler Philipp Lorenz-Spreen und Lisa Oswald, das den umfassendsten Überblick über die Forschung bietet, kommt zu dem Schluss, dass "die große Mehrheit der berichteten Zusammenhänge zwischen der Nutzung digitaler Medien und dem Vertrauen für die Demokratie schädlich zu sein scheint". Die Literatur ist komplex – einige Studien zeigen Vorteile, insbesondere in weniger entwickelten Demokratien – aber die Untersuchung ergab, dass soziale Medien insgesamt die politische Polarisierung verstärken, Populismus, insbesondere Rechtspopulismus, schüren und mit der Verbreitung von Fehlinformationen in Verbindung gebracht werden.

Wenn die Menschen das Vertrauen in Institutionen verlieren, verlieren sie auch das Vertrauen in die Geschichten, die von diesen Institutionen erzählt werden. Das gilt besonders für die Institutionen, die mit der Erziehung von Kindern betraut sind. Geschichtslehrpläne haben schon oft politische Kontroversen ausgelöst, aber Facebook und Twitter machen es möglich, dass sich Eltern jeden Tag über einen neuen Ausschnitt aus dem Geschichtsunterricht ihrer Kinder empören – und auch über den Mathematikunterricht, die Literaturauswahl und jede neue pädagogische Veränderung irgendwo im Land. Die Motive von Lehrern und Verwaltungsangestellten werden in Frage gestellt, und manchmal folgen überzogene Gesetze oder Lehrplanreformen, die das Bildungswesen verdummen und das Vertrauen in es weiter schwinden lassen. Eine Folge davon ist, dass junge Menschen, die in der Zeit nach Babel erzogen wurden, seltener zu einer kohärenten Geschichte darüber gelangen, wer man als Volk ist, und dass sie eine solche Geschichte seltener mit denen teilen, die andere Schulen besucht haben oder in einem anderen Jahrzehnt erzogen wurden.

Der frühere CIA-Analyst Martin Gurri sagte in seinem 2014 erschienenen Buch The Revolt of the Public (Die Revolte der Öffentlichkeit) diese Zersetzungseffekte voraus. Gurris Analyse konzentrierte sich auf die die Autorität untergrabenden Auswirkungen des exponentiellen Wachstums von Informationen, das mit dem Internet in den 1990er Jahren begann. Als er [das Buch] vor fast einem Jahrzehnt schrieb, konnte Gurri bereits die Macht der sozialen Medien als universelles Lösungsmittel erkennen, das Bindungen aufbricht und Institutionen schwächt, wo immer es sie erreicht. Er stellte fest, dass verteilte Netzwerke "protestieren und umstürzen, aber niemals regieren können". Er beschrieb den Nihilismus der vielen Protestbewegungen des Jahres 2011, die sich hauptsächlich online organisierten und die, wie Occupy Wall Street, die Zerstörung bestehender Institutionen forderten, ohne eine alternative Zukunftsvision oder eine Organisation anzubieten, die diese verwirklichen könnte.

Gurri ist kein Fan von Eliten oder zentralisierter Autorität, aber er stellt ein konstruktives Merkmal der vordigitalen Ära fest: ein einziges "Massenpublikum", bei dem alle dieselben Inhalte konsumieren, als ob sie alle in denselben gigantischen Spiegel auf das Spiegelbild ihrer eigenen Gesellschaft blicken würden. In einem Kommentar bei Vox, der an die erste Diaspora nach Babel erinnert, sagte er:

Die digitale Revolution hat diesen Spiegel zerbrochen, und jetzt lebt die Öffentlichkeit in diesen Scherben. Die Öffentlichkeit ist also nicht einheitlich, sondern stark zersplittert und steht sich im Grunde genommen gegenseitig feindlich gegenüber. Die meisten Menschen schreien sich gegenseitig an und leben in Blasen der einen oder anderen Art.

Mark Zuckerberg mag sich das alles nicht gewünscht haben. Aber indem er in einem überstürzten Wachstumsrausch alles neu verdrahtete - mit einer naiven Vorstellung von menschlicher Psychologie, wenig Verständnis für die Komplexität von Institutionen und ohne Rücksicht auf die externen Kosten, die der Gesellschaft auferlegt wurden – haben Facebook, Twitter, YouTube und einige andere große Plattformen unwissentlich den Mörtel des Vertrauens, des Glaubens an Institutionen und gemeinsame Geschichten aufgelöst, der eine große und vielfältige säkulare Demokratie zusammengehalten hatte.

Ich denke, man kann den Fall des Turms auf die Jahre zwischen 2011 (Gurris Schwerpunktjahr der "nihilistischen" Proteste) und 2015 datieren, ein Jahr, das durch das "große Erwachen" auf der Linken und den Aufstieg von Donald Trump auf der Rechten gekennzeichnet war. Trump hat den Turm nicht zerstört, er hat lediglich seinen Sturz ausgenutzt. Er war der erste Politiker, der die neue Dynamik der Post-Babel-Ära beherrschte, in der die Empörung der Schlüssel zur Viralität ist, die Inszenierung die Kompetenz erdrückt, Twitter alle Zeitungen des Landes überwältigen kann und Geschichten nicht über mehr als ein paar benachbarte Fragmente hinweg geteilt werden können (oder zumindest vertrauenswürdig sind) – so dass die Wahrheit keine weitreichende Beachtung finden kann.

Die vielen Analysten, mich eingeschlossen, die der Meinung waren, dass Trump die Parlamentswahlen nicht gewinnen könne, stützten sich auf Intuitionen aus der Zeit vor Babel, die besagten, dass Skandale wie das Access Hollywood-Tape (in dem Trump damit prahlte, sexuelle Übergriffe begangen zu haben) für einen Präsidentschaftswahlkampf fatal sind. Aber nach Babel bedeutet nichts mehr wirklich etwas – zumindest nicht auf eine Weise, die dauerhaft ist und über die sich die Menschen weitgehend einig sind.

Politik nach Babel

"Politik ist die Kunst des Möglichen", sagte der deutsche Staatsmann Otto von Bismarck 1867. In einer Demokratie nach Babel ist vielleicht nicht mehr viel möglich.

Der amerikanische Kulturkampf und der Niedergang der parteiübergreifenden Zusammenarbeit war natürlich schon vor der Einführung der sozialen Medien zu beobachten. Mitte des 20. Jahrhunderts war die Polarisierung im Kongress ungewöhnlich gering, und in den 1970er und 80er Jahren kehrte sie auf ein historisches Niveau zurück. Die ideologische Distanz zwischen den beiden Parteien begann in den 1990er Jahren schneller zu wachsen. Fox News und die "republikanische Revolution" von 1994 verwandelten die GOP in eine kämpferischere Partei. So riet beispielsweise der Sprecher des Repräsentantenhauses, Newt Gingrich, neuen republikanischen Kongressmitgliedern davon ab, mit ihren Familien nach Washington, D.C., zu ziehen, wo sie wahrscheinlich soziale Bindungen mit Demokraten und deren Familien eingehen würden.

Die parteiübergreifenden Beziehungen waren also schon vor 2009 angespannt. Doch mit der zunehmenden Verbreitung sozialer Medien wurde es immer gefährlicher, sich mit dem Feind zu verbrüdern oder den Feind nicht energisch genug anzugreifen. Auf der rechten Seite wurde der Begriff RINO (Republican in Name Only) 2015 durch den verächtlicheren Begriff cuckservative ersetzt, der auf Twitter von Trump-Anhängern verbreitet wurde. Auf der linken Seite führten die sozialen Medien in den Jahren nach 2012 die "Callout-Kultur" ein, die das Universitätsleben und später die Politik und Kultur in der gesamten englischsprachigen Welt verändert hat.

Was hat sich in den 2010er Jahren geändert? Man erinnere sich an die Metapher des Twitter-Ingenieurs, einem Vierjährigen eine geladene Pistole in die Hand zu drücken. Ein gemeiner Tweet tötet niemanden; er ist ein Versuch, jemanden öffentlich zu beschämen oder zu bestrafen und gleichzeitig die eigene Tugend, Brillanz oder Stammeszugehörigkeit zu zeigen. Es ist eher ein Dartpfeil als eine Kugel, der Schmerzen verursacht, aber nicht tödlich ist. Trotzdem verteilten Facebook und Twitter zwischen 2009 und 2012 weltweit etwa 1 Milliarde "Dartpistolen". Seitdem schießt man sich gegenseitig ab.

Die sozialen Medien haben einigen Menschen eine Stimme gegeben, die zuvor kaum eine hatten, und sie haben es einfacher gemacht, mächtige Menschen für ihre Missetaten zur Verantwortung zu ziehen, nicht nur in der Politik, sondern auch in der Wirtschaft, in der Kunst, in der Wissenschaft und anderswo. Sexuelle Belästiger konnten vor Twitter in anonymen Blogbeiträgen angeprangert werden, aber es ist schwer vorstellbar, dass die #MeToo-Bewegung ohne die virale Verstärkung durch die großen Plattformen auch nur annähernd so erfolgreich gewesen wäre. Die verzerrte "Rechenschaftspflicht" der sozialen Medien hat jedoch auch zu Ungerechtigkeit und politischer Dysfunktion geführt, und zwar in dreifacher Hinsicht.

Erstens verleihen die "Dartpistolen" der sozialen Medien Trollen und Provokateuren mehr Macht, während gute Bürger zum Schweigen gebracht werden. Untersuchungen der Politikwissenschaftler Alexander Bor und Michael Bang Petersen haben ergeben, dass eine kleine Gruppe von Menschen auf Social-Media-Plattformen sehr darauf bedacht ist, Status zu erlangen, und bereit ist, dafür Aggressionen einzusetzen. Sie geben zu, dass sie in ihren Online-Diskussionen häufig fluchen, sich über ihre Gegner lustig machen und von anderen Nutzern blockiert oder wegen unangemessener Kommentare gemeldet werden. In acht Studien fanden Bor und Petersen heraus, dass das Internet die meisten Menschen nicht aggressiver oder feindseliger macht, sondern es vielmehr einer kleinen Anzahl aggressiver Menschen ermöglicht, eine viel größere Anzahl von Opfern anzugreifen. Bor und Petersen fanden heraus, dass selbst eine kleine Anzahl von Idioten in der Lage war, Diskussionsforen zu dominieren, weil Nicht-Idioten sich leicht von Online-Diskussionen über Politik abwenden. Weitere Untersuchungen haben ergeben, dass Frauen und Schwarze überproportional häufig belästigt werden, so dass ihre Stimmen in der digitalen Öffentlichkeit weniger gut zu hören sind.

Zweitens verleihen die Pfeilgeschosse der sozialen Medien den politischen Extremen mehr Macht und Stimme, während sie die Macht und Stimme der gemäßigten Mehrheit schwächen. Die Studie "Hidden Tribes" der pro-demokratischen Gruppe More in Common befragte 2017 und 2018 8.000 Amerikaner und identifizierte sieben Gruppen, die gemeinsame Überzeugungen und Verhaltensweisen haben. Die am weitesten rechts stehende Gruppe, die als "überzeugte Konservative" bekannt ist, macht 6 Prozent der US-Bevölkerung aus. Die am weitesten links stehende Gruppe, die "progressiven Aktivisten", machte 8 Prozent der Bevölkerung aus. Die progressiven Aktivisten waren bei weitem die produktivste Gruppe in den sozialen Medien: 70 Prozent hatten im vergangenen Jahr politische Inhalte geteilt. Es folgten die überzeugten Konservativen mit 56 Prozent.

Diese beiden extremen Gruppen sind sich auf überraschende Weise ähnlich. Sie sind die weißesten und reichsten der sieben Gruppen, was darauf hindeutet, dass Amerika von einem Kampf zwischen zwei Teilgruppen der Elite zerrissen wird, die nicht repräsentativ für die breitere Gesellschaft sind. Darüber hinaus sind das die beiden Gruppen, die die größte Homogenität in ihren moralischen und politischen Einstellungen aufweisen. Diese einheitliche Meinung, so vermuten die Autoren der Studie, ist wahrscheinlich ein Ergebnis der Gedankenpolizei in den sozialen Medien:

"Diejenigen, die ihre Sympathie für die Ansichten gegnerischer Gruppen zum Ausdruck bringen, müssen mit Gegenreaktionen aus ihrer eigenen Gruppe rechnen."

Mit anderen Worten: Politische Extremisten schießen nicht nur Pfeile auf ihre Feinde, sondern sie verwenden einen Großteil ihrer Munition auch auf Andersdenkende oder differenzierte Denker in ihrem eigenen Team. Auf diese Weise bringen die sozialen Medien ein politisches System, das auf Kompromissen beruht, zum Stillstand.

Indem sie jedem einen Dartpfeil in die Hand geben, ernennen die sozialen Medien schließlich jeden zum Stellvertreter der Justiz, ohne dass es dafür ein ordentliches Verfahren gibt. Plattformen wie Twitter verwandeln sich in den Wilden Westen, in dem Selbstjustizler nicht zur Rechenschaft gezogen werden können. Ein erfolgreicher Angriff zieht eine Flut von Likes und Folgeschlägen nach sich. Plattformen mit erhöhter Viralität ermöglichen so eine massive kollektive Bestrafung für kleine oder eingebildete Vergehen, mit realen Konsequenzen, darunter unschuldige Menschen, die ihren Arbeitsplatz verlieren und bis zum Selbstmord geschmäht werden. Wenn das öffentliche Leben von der Dynamik des Pöbels bestimmt wird, der nicht durch ein ordentliches Verfahren gezügelt wird, bekommen man keine Gerechtigkeit und Integration, sondern eine Gesellschaft, die Kontext, Verhältnismäßigkeit, Barmherzigkeit und Wahrheit ignoriert.

Strukturelle Dummheit

Seit dem Fall des Turms sind die Debatten aller Art immer verworrener geworden. Das allgegenwärtigste Hindernis für gutes Denken ist der "Confirmation Bias" [Bestätigungsfehler], der sich auf die menschliche Tendenz bezieht, nur nach Beweisen zu suchen, die die bevorzugten Überzeugungen bestätigen. Schon vor dem Aufkommen der sozialen Medien verstärkten Suchmaschinen diese Tendenz, so dass es für die Menschen viel einfacher war, Beweise für absurde Überzeugungen und Verschwörungstheorien zu finden, z. B. dass die Erde flach sei und dass die US-Regierung die Anschläge vom 11. September inszeniert habe. Aber die sozialen Medien haben die Dinge noch viel schlimmer gemacht.

Das zuverlässigste Mittel gegen "Confirmation Bias" ist die Interaktion mit Menschen, die die eigenen Überzeugungen nicht teilen. Sie konfrontieren uns mit Gegenbeweisen und Gegenargumenten. John Stuart Mill sagte: "Wer nur seine eigene Seite des Falles kennt, weiß wenig davon", und er forderte dazu auf, widersprüchliche Ansichten "von Personen zu erfahren, die sie tatsächlich glauben". Menschen, die anders denken und bereit sind, ihre Meinung zu äußern, wenn sie nicht zustimmen, machen schlauer, fast so, als wären sie eine Erweiterung des eigenen Gehirns. Menschen, die versuchen, ihre Kritiker zum Schweigen zu bringen oder einzuschüchtern, machen sich selbst dümmer, fast so, als ob sie Pfeile in ihr eigenes Gehirn schießen würden.

Im 20. Jahrhundert hat Amerika die fähigsten wissensproduzierenden Institutionen der Menschheitsgeschichte aufgebaut. Im letzten Jahrzehnt wurden sie massenhaft dümmer.

In seinem Buch The Constitution of Knowledge [Die Verfassung des Wissens] beschreibt Jonathan Rauch den historischen Durchbruch, bei dem westliche Gesellschaften ein "epistemisches Betriebssystem" entwickelten – also eine Reihe von Institutionen, die Wissen aus den Interaktionen voreingenommener und kognitiv fehlerhafter Individuen erzeugen. Das englische Recht entwickelte das kontradiktorische System, so dass voreingenommene Anwälte beide Seiten eines Falles vor einer unparteiischen Jury darlegen konnten. Zeitungen voller Lügen entwickelten sich zu professionellen journalistischen Unternehmen mit Normen, die es erforderlich machten, mehrere Seiten einer Geschichte ausfindig zu machen, gefolgt von einer redaktionellen Prüfung und einer Überprüfung der Fakten. Universitäten entwickelten sich von abgeschotteten mittelalterlichen Einrichtungen zu Forschungszentren, die eine Struktur schufen, in der Gelehrte mit Beweisen untermauerte Behauptungen aufstellten, wohl wissend, dass andere Gelehrte auf der ganzen Welt motiviert sein würden, durch das Auffinden gegenteiliger Beweise an Ansehen zu gewinnen.

Ein Teil von Amerikas Größe im 20. Jahrhundert ist darauf zurückzuführen, dass es das fähigste, dynamischste und produktivste Netzwerk von wissensproduzierenden Institutionen in der gesamten Menschheitsgeschichte aufgebaut hat, das die besten Universitäten der Welt, Privatunternehmen, die wissenschaftliche Fortschritte in lebensverändernde Konsumgüter umwandelten, und Regierungsbehörden, die wissenschaftliche Forschung unterstützten und die Zusammenarbeit anführten, die Menschen auf den Mond brachte, miteinander verband.

Aber dieses Arrangement, so Rauch, "erhält sich nicht von selbst; es beruht auf einer Reihe von manchmal heiklen sozialen Einstellungen und Übereinkünften, und diese müssen verstanden, bestätigt und geschützt werden". Was passiert also, wenn eine Institution nicht gut gewartet wird und interne Meinungsverschiedenheiten aufhören, entweder weil die Menschen ideologisch einheitlich geworden sind oder weil sie Angst haben, anderer Meinung zu sein?

Ich glaube, das ist es, was Mitte bis Ende der 2010er Jahre mit vielen der wichtigsten Institutionen Amerikas passiert ist. Sie wurden massenhaft dümmer, weil die sozialen Medien ihren Mitgliedern eine chronische Angst einflößten, [mit Dartpfeilen] abgeworfen zu werden. Am stärksten ausgeprägt war dieser Wandel an Universitäten, in wissenschaftlichen Vereinigungen, in der Kreativwirtschaft und in politischen Organisationen auf allen Ebenen (auf nationaler, bundesstaatlicher und lokaler Ebene), und er war so allgegenwärtig, dass er scheinbar über Nacht neue Verhaltensnormen etablierte, die durch neue Richtlinien unterstützt wurden. Die neue Omnipräsenz sozialer Medien mit erhöhter Viralität bedeutete, dass ein einziges Wort eines Professors, einer Führungskraft oder eines Journalisten, selbst wenn es in positiver Absicht geäußert wurde, zu einem Feuersturm in den sozialen Medien führen konnte, der eine sofortige Entlassung oder eine langwierige Untersuchung durch die Institution zur Folge hatte. Die Teilnehmer an den wichtigsten Institutionen begannen, sich in einem ungesunden Ausmaß selbst zu zensieren, indem sie Kritik an politischen Maßnahmen und Ideen zurückhielten – sogar an solchen, die von ihren Studenten im Unterricht vorgetragen wurden – die sie für schlecht begründet oder falsch hielten.

Aber wenn eine Institution internen Dissens bestraft, schießt sie Pfeile in ihr eigenes Gehirn.

Die inhaltliche Kompromittierung spielt sich auf der Rechten und der Linken unterschiedlich ab, weil ihre aktivistischen Flügel unterschiedliche Narrative mit unterschiedlichen heiligen Werten vertreten. Aus der Studie "Hidden Tribes" geht hervor, dass die "hingebungsvollen Konservativen" die höchsten Werte im Zusammenhang mit autoritären Überzeugungen aufweisen. Sie teilen ein Narrativ, nach dem Amerika ständig von äußeren Feinden und inneren Umstürzlern bedroht ist; sie sehen das Leben als einen Kampf zwischen Patrioten und Verrätern. Laut der Politikwissenschaftlerin Karen Stenner, auf deren Arbeit die Studie "Hidden Tribes" zurückgeht, unterscheiden sie sich psychologisch von der größeren Gruppe der "traditionellen Konservativen" (19 Prozent der Bevölkerung), die eher Ordnung, Anstand und eher langsamen als radikalen Wandel betonen.

Nur innerhalb des Narrativs der engagierten Konservativen ergeben Donald Trumps Reden einen Sinn, von der ominösen Eröffnungsrede seiner Kampagne über mexikanische "Vergewaltiger" bis zu seiner Warnung am 6. Januar 2021: "Wenn ihr nicht wie die Hölle kämpft, werdet ihr kein Land mehr haben."

Die traditionelle Strafe für Hochverrat ist der Tod, daher der Schlachtruf am 6. Januar: "Hang Mike Pence" [Hängt Mike Pence]. Die Todesdrohungen der Rechten, von denen viele von anonymen Absendern stammen, erweisen sich als wirkungsvoll, um die traditionellen Konservativen einzuschüchtern, zum Beispiel bei der Vertreibung lokaler Wahlbeamter, die es nicht geschafft haben, den Diebstahl zu stoppen („stop the steal!“). Die Welle von Drohungen gegen abweichende republikanische Kongressmitglieder hat viele der verbliebenen Gemäßigten dazu gebracht, zu kündigen oder zu schweigen, so dass wir eine Partei haben, die sich immer weiter von der konservativen Tradition, der verfassungsmäßigen Verantwortung und der Realität entfernt. Wir haben jetzt eine republikanische Partei, die einen gewaltsamen Angriff auf das U.S. Kapitol als "legitimen politischen Diskurs" bezeichnet, unterstützt – oder zumindest nicht widersprochen – von einer Reihe rechter Denkfabriken und Medienorganisationen.

Die Dummheit der Rechten zeigt sich am deutlichsten in den vielen Verschwörungstheorien, die sich in den rechten Medien und jetzt auch im Kongress verbreiten. "Pizzagate", QAnon, der Glaube, dass Impfstoffe Mikrochips enthalten, die Überzeugung, dass Donald Trump die Wiederwahl gewonnen hat – es ist schwer vorstellbar, dass eine dieser Ideen oder Glaubenssysteme ohne Facebook und Twitter ein solches Ausmaß erreicht hätte.

Auch die Demokraten sind von struktureller Dummheit stark betroffen, wenn auch auf andere Art und Weise. In der Demokratischen Partei ist der Kampf zwischen dem progressiven Flügel und den eher gemäßigten Fraktionen offen und andauernd, und oft gewinnen die Gemäßigten. Das Problem besteht darin, dass die Linke die Führungspositionen in der Kultur kontrolliert: Universitäten, Nachrichtenorganisationen, Hollywood, Kunstmuseen, Werbung, große Teile des Silicon Valley sowie die Lehrergewerkschaften und die pädagogischen Hochschulen, die die "K-12-Ausbildung" prägen. Und in vielen dieser Institutionen wurden abweichende Meinungen im Keim erstickt: Als Anfang der 2010er Jahre jeder seine "Social Media-Dartpfeile" erhielt, begannen viele linksgerichtete Institutionen, sich selber ins Gehirn zu schießen. Und unglücklicherweise waren das die Gehirne, die den größten Teil des Landes informieren, lehren und unterhalten.

Die Liberalen des späten 20. Jahrhunderts teilten eine Überzeugung, die der Soziologe Christian Smith als "liberale Fortschrittserzählung" bezeichnete, nach der Amerika früher schrecklich ungerecht und repressiv war, aber dank der Kämpfe von Aktivisten und Helden, Fortschritte bei der Verwirklichung des edlen Versprechens seiner Gründung gemacht hat (und weiterhin macht). Diese Geschichte lässt sich leicht mit dem liberalen Patriotismus in Einklang bringen, und sie war das belebende Narrativ der Präsidentschaft von Barack Obama. Das ist ebenfalls die Betrachtung der "traditionellen Liberalen" in der "Hidden Tribes"-Studie (11 Prozent der Bevölkerung), die starke humanitäre Werte haben, älter als der Durchschnitt sind und größtenteils die kulturellen und intellektuellen Institutionen Amerikas leiten.

Aber als die neuen viralen Social-Media-Plattformen jedem eine Dartpistole in die Hand gaben, waren es die jüngeren progressiven Aktivisten, die am meisten schossen, und sie zielten mit einer unverhältnismäßig großen Anzahl ihrer Pfeile auf diese älteren liberalen Führer. Verwirrt und ängstlich, stellten sich diese Führer kaum gegen die Aktivisten oder ihre nicht-liberale Erzählung, in der das Leben in jeder Institution ein ewiger Kampf zwischen Identitätsgruppen um einen Nullsummenkuchen ist, und die Leute an der Spitze es dorthin immer nur durch die Unterdrückung der Leute an der Basis geschafft haben. Diese neue Sichtweise ist streng egalitär – sie konzentriert sich auf die Gleichheit der Ergebnisse, nicht der Rechte oder Möglichkeiten. Sie kümmert sich nicht um die Rechte des Einzelnen.

Der universelle Vorwurf gegen Menschen, die mit diesem Narrativ nicht einverstanden sind, lautet nicht "Verräter"; sondern "Rassist", "Transphobiker", "Karen" oder eine ähnliche Brandmarkung, die den Täter als jemanden kennzeichnet, der eine Randgruppe hasst oder ihr schadet. Die sich richtig anfühlende Strafe für solche Verbrechen ist nicht die Hinrichtung, sondern die öffentliche Schande und der soziale Tod.

Der Verblödungsprozess lässt sich am deutlichsten beobachten, wenn eine Person aus der Linken lediglich auf Forschungsergebnisse hinweist, die eine von progressiven Aktivisten bevorzugte Überzeugung in Frage stellt oder ihr widerspricht. Jemand auf Twitter wird einen Weg finden, den Andersdenkenden mit Rassismus in Verbindung zu bringen und andere werden sich darauf stürzen. In der ersten Woche der Proteste nach der Ermordung von George Floyd, bei denen es teilweise auch zu Gewalt kam, twitterte beispielsweise der progressive Politikanalyst David Shor, der damals bei "Civis Analytics" beschäftigt war, einen Link zu einer Studie, aus der hervorging, dass gewalttätige Proteste in den 1960er Jahren zu Wahlverlusten für die Demokraten in den umliegenden Bezirken führten. Shor wollte eindeutig helfen, aber in der darauf folgenden Empörung wurde er der "Anti-Blackness" beschuldigt und bald darauf entlassen. (Civis Analytics hat bestritten, dass der Tweet zu Shors Entlassung geführt hat.)

Der Fall Shor wurde berühmt, aber jeder, der auf Twitter unterwegs war, hatte bereits Dutzende von Beispielen gesehen, die die grundlegende Lektion lehrten: Hinterfrage nicht die Überzeugungen, die Politik oder die Aktionen deiner eigenen Seite. Und wenn traditionelle Liberale schweigen, wie es so viele im Sommer 2020 taten, übernimmt das radikalere Narrativ der progressiven Aktivisten die Führung in einer Organisation. Aus diesem Grund schienen in diesem und im nächsten Jahr so viele epistemische Institutionen in rascher Folge "woke" zu werden, angefangen bei einer Welle von Kontroversen und Rücktritten bei der New York Times und anderen Zeitungen bis hin zu Erklärungen zur sozialen Gerechtigkeit von Ärztegruppen und medizinischen Verbänden (eine Veröffentlichung der American Medical Association und der Association of American Medical Colleges, riet Medizinern beispielsweise, Stadtteile und Gemeinden als "unterdrückt" oder "systematisch enteignet" zu bezeichnen, anstatt als "gefährdet" oder "arm") und die überstürzte Umgestaltung der Lehrpläne an den teuersten Privatschulen in New York City.

Tragischerweise ist die Verblödung in den COVID-Kriegen auf beiden Seiten zu beobachten. Die Rechte hat sich so sehr der Minimierung der COVID-Risiken verschrieben, dass sie die Krankheit zu einer Krankheit gemacht hat, die vorzugsweise Republikaner tötet. Die fortschrittliche Linke hat sich so sehr der Maximierung der Gefahren von COVID verschrieben, dass sie oft eine ebenso maximalistische, einheitliche Strategie für Impfstoffe, Masken und soziale Distanzierung verfolgt – selbst wenn es um Kinder geht. Solche Maßnahmen sind zwar nicht so tödlich wie die Verbreitung von Ängsten und Lügen über Impfstoffe, aber viele von ihnen haben verheerende Auswirkungen auf die psychische Gesundheit und die Bildung von Kindern, die unbedingt miteinander spielen und zur Schule gehen müssen; es gibt kaum eindeutige Beweise dafür, dass Schulschließungen und Masken für Kleinkinder die Todesfälle durch COVID verringern. Für die Geschichte, die ich hier erzähle, ist besonders bemerkenswert, dass progressive Eltern, die sich gegen Schulschließungen aussprachen, in den sozialen Medien häufig mit den allgegenwärtigen linken Vorwürfen des Rassismus und der weißen Vorherrschaft konfrontiert wurden. Andere in "blauen" Städten haben gelernt, zu schweigen.

Die amerikanische Politik wird immer lächerlicher und dysfunktionaler, nicht weil die Amerikaner weniger intelligent werden. Das Problem ist strukturell bedingt. Dank der verbesserten Viralität der sozialen Medien wird Dissens in vielen unserer Institutionen bestraft, was bedeutet, dass schlechte Ideen in die offizielle Politik aufgenommen werden.

Es wird noch viel schlimmer werden

In einem Interview aus dem Jahr 2018 sagte Steve Bannon, der ehemalige Berater von Donald Trump, dass der richtige Weg, mit den Medien umzugehen, darin bestehe, "die Zone mit Scheiße zu überfluten". Er beschrieb damit die Taktik des "Feuerwehrschlauchs der Unwahrheit", wie sie von russischen Desinformationsprogrammen entwickelt wurde, um die Amerikaner zu verwirren, zu verunsichern und zu verärgern. Aber damals, im Jahr 2018, gab es eine Obergrenze für die Menge an verfügbarem Scheiß, denn alles musste von einem Menschen erstellt werden (abgesehen von einigen minderwertigen Sachen, die von Bots produziert wurden).

Nun aber steht die künstliche Intelligenz kurz davor, die grenzenlose Verbreitung höchst glaubwürdiger Desinformationen zu ermöglichen. Das KI-Programm GPT-3 ist bereits so gut, dass man ihm ein Thema und einen Ton vorgeben kann, und es wird so viele Aufsätze ausspucken, wie man will, in der Regel mit perfekter Grammatik und einem überraschenden Maß an Kohärenz. In ein oder zwei Jahren, wenn das Programm zu GPT-4 aufgerüstet wurde, wird es noch viel leistungsfähiger sein. In einem Aufsatz aus dem Jahr 2020 mit dem Titel "The Supply of Disinformation Will Soon Be Infinite" [Der Vorrat an Desinformation wird bald unendlich sein] erklärt Renée DiResta, die Forschungsleiterin des Stanford Internet Observatory, dass die Verbreitung von Unwahrheiten – sei es durch Text, Bilder oder gefälschte Videos – schnell unvorstellbar einfach werden wird (sie hat den Aufsatz zusammen mit GPT-3 verfasst).

Die Amerikaner werden nicht die einzigen sein, die KI und soziale Medien nutzen, um "Angriffsinhalte" zu generieren; ihre Gegner werden es ebenfalls tun. In einem eindringlichen Essay aus dem Jahr 2018 mit dem Titel "The Digital Maginot Line" beschrieb DiResta den Stand der Dinge unverblümt.

"Wir befinden uns in einem ausufernden, andauernden Konflikt: einem Informationsweltkrieg, in dem staatliche Akteure, Terroristen und ideologische Extremisten die soziale Infrastruktur, die dem täglichen Leben zugrunde liegt, nutzen, um Zwietracht zu säen und die gemeinsame Realität zu untergraben," schrieb sie.

Früher mussten die Sowjets Agenten schicken oder Amerikaner instrumentalisieren, die bereit waren, ihre Aufträge zu erfüllen. Aber die sozialen Medien machten es für die Russische Internet-Forschungsagentur billig und einfach, gefälschte Ereignisse zu erfinden oder reale Ereignisse zu verzerren, um die Wut sowohl auf der linken als auch auf der rechten Seite zu schüren, oft über Rassenfragen. Spätere Nachforschungen ergaben, dass eine intensive Kampagne 2013 auf Twitter begann, sich aber bald auf Facebook, Instagram und YouTube und andere Plattformen ausbreitete. Eines der Hauptziele war es, die amerikanische Öffentlichkeit zu polarisieren und Misstrauen zu verbreiten – und sie genau an der Schwachstelle zu spalten, die Madison ausgemacht hatte.

Wenn wir nicht bald grundlegende Änderungen vornehmen, könnten unsere Institutionen, unser politisches System und unsere Gesellschaft zusammenbrechen.

Wir wissen jetzt, dass es nicht nur die Russen sind, die die amerikanische Demokratie angreifen. Vor den Protesten 2019 in Hongkong hatte sich China hauptsächlich auf inländische Plattformen wie WeChat konzentriert. Aber jetzt entdeckt China, wie viel es mit Twitter und Facebook für so wenig Geld in seinem eskalierenden Konflikt mit den USA tun kann. Angesichts der eigenen Fortschritte Chinas in der KI können wir erwarten, dass es in den nächsten Jahren immer geschickter darin wird, Amerika weiter zu spalten und China weiter zu vereinen.

Im 20. Jahrhundert war es die gemeinsame Identität Amerikas das Land zu sein, das den Kampf anführte, die Welt für Demokratie sicher zu machen, eine starke Kraft, die dazu beitrug, die Kultur und das Gemeinwesen zusammenzuhalten. Im 21. Jahrhundert haben Amerikas Technologieunternehmen die Welt neu verdrahtet und Produkte geschaffen, die sich nun als schädlich für die Demokratie, als Hindernisse für die gemeinsame Verständigung und als Zerstörer des "modernen Turms" erweisen.

Demokratie nach Babel

Wir können nie wieder in den Zustand des vor-digitalen Zeitalters zurückkehren. Die Normen, Institutionen und Formen der politischen Partizipation, die sich in der langen Ära der Massenkommunikation entwickelt haben, werden nicht mehr gut funktionieren, da die Technologie alles so viel schneller und multidirektionaler gemacht hat und es so einfach ist, die professionellen Gatekeeper zu umgehen. Und dennoch arbeitet die amerikanische Demokratie heute außerhalb der Grenzen der Nachhaltigkeit. Wenn wir nicht bald grundlegende Änderungen vornehmen, könnten unsere Institutionen, unser politisches System und unsere Gesellschaft beim nächsten großen Krieg, einer Pandemie, einem finanziellen Zusammenbruch oder einer Verfassungskrise zusammenbrechen.

Welche Änderungen sind erforderlich? Die Neugestaltung der Demokratie für das digitale Zeitalter übersteigt bei weitem meine Fähigkeiten, aber ich kann drei Kategorien von Reformen vorschlagen – drei Ziele, die erreicht werden müssen, wenn die Demokratie in der Zeit nach Babel lebensfähig bleiben soll. Wir müssen die demokratischen Institutionen stärken, damit sie chronischem Ärger und Misstrauen standhalten können, die sozialen Medien reformieren, damit sie weniger sozial korrosiv wirken, und die nächste Generation besser auf die Rolle des demokratischen Bürgers in diesem neuen Zeitalter vorbereiten.

Demokratische Institutionen festigen

Die politische Polarisierung wird in absehbarer Zukunft wahrscheinlich zunehmen. Daher müssen wir, was auch immer wir sonst tun, die wichtigsten Institutionen so reformieren, dass sie auch dann noch funktionieren können, wenn das Ausmaß an Wut, Fehlinformationen und Gewalt weit über das heutige Maß hinausgeht.

Die Legislative etwa wurde so gestaltet, dass sie Kompromisse voraussetzte, der Kongress, die sozialen Medien und die parteiischen Kabelnachrichtenkanäle haben sich jedoch so entwickelt, dass jeder Abgeordnete, der einen Kompromiss eingeht, innerhalb weniger Stunden mit der Empörung des extremen Flügels seiner Partei konfrontiert wird, was seine Aussichten auf Spendengelder schmälert und sein Risiko erhöht, bei der nächsten Wahl in die Vorwahlen zu müssen.

Reformen sollten den übergroßen Einfluss wütender Extremisten verringern und dafür sorgen, dass die Abgeordneten stärker auf den durchschnittlichen Wähler in ihrem Bezirk eingehen. Ein Beispiel für eine solche Reform ist die Abschaffung geschlossener Vorwahlen und ihre Ersetzung durch eine einzige, überparteiliche, offene Vorwahl, aus der die besten Kandidaten in die allgemeinen Wahlen einziehen, bei denen ebenfalls nach Rangfolge gewählt wird. Eine Version dieses Wahlsystems wurde bereits in Alaska eingeführt, und es scheint Senatorin Lisa Murkowski mehr Spielraum gegeben zu haben, um sich dem ehemaligen Präsidenten Trump entgegenzustellen, dessen favorisierter Kandidat in einer geschlossenen republikanischen Vorwahl eine Bedrohung für Murkowski darstellen würde, in einer offenen aber nicht.

Eine zweite Möglichkeit, die demokratischen Institutionen zu stärken, besteht darin, die Macht der politischen Parteien zu beschneiden, das System zu ihren Gunsten zu beeinflussen, indem sie beispielsweise die Wahlbezirke festlegen oder die Beamten auswählen, die die Wahlen überwachen. All diese Aufgaben sollten überparteilich erledigt werden. Untersuchungen zur Verfahrensgerechtigkeit zeigen, dass Menschen, die ein Verfahren als fair empfinden, eher bereit sind, eine Entscheidung zu akzeptieren, die ihren Interessen zuwiderläuft. Denken Sie nur an den Schaden, den die republikanische Führung des Senats bereits der Legitimität des Obersten Gerichtshofs zugefügt hat, als sie die Prüfung von Merrick Garland für einen neun Monate vor der Wahl 2016 frei gewordenen Sitz blockierte und dann die Ernennung von Amy Coney Barrett im Jahr 2020 im Eiltempo durchsetzte. Eine weithin diskutierte Reform würde diese politischen Spielchen beenden, indem die Amtszeiten der Richter auf 18 Jahre gestaffelt werden, so dass jeder Präsident alle zwei Jahre eine Ernennung vornimmt.

Soziale Medien reformieren

Eine Demokratie kann nicht überleben, wenn ihre öffentlichen Plätze Orte sind, an denen die Menschen Angst haben, ihre Meinung zu sagen, und an denen kein stabiler Konsens erzielt werden kann. Die Ermächtigung der extremen Linken, der extremen Rechten, inländischer Trolle und ausländischer Agenten durch die sozialen Medien führt zu einem System, das weniger nach Demokratie als vielmehr nach der Herrschaft der Aggressivsten aussieht.

Aber es liegt in unserer Macht, die Fähigkeit der sozialen Medien zu verringern, Vertrauen zu zerstören und strukturelle Dummheit zu schüren. Reformen sollten die Verstärkung der aggressiven Ränder durch die Plattformen einschränken und gleichzeitig dem, was More in Common "die erschöpfte Mehrheit" nennt, mehr Gehör verschaffen.

Diejenigen, die sich gegen eine Regulierung der sozialen Medien aussprechen, konzentrieren sich in der Regel auf die berechtigte Sorge, dass staatlich verordnete Inhaltsbeschränkungen in der Praxis zu einer Zensur führen. Das Hauptproblem bei den sozialen Medien ist jedoch nicht, dass manche Leute gefälschte oder toxische Inhalte posten, sondern dass gefälschte und empörende Inhalte heute eine Reichweite und einen Einfluss erlangen können, die vor 2009 nicht möglich waren. Die Facebook-Whistleblowerin Frances Haugen plädiert für einfache Änderungen an der Architektur der Plattformen und nicht für massive und letztlich vergebliche Bemühungen, alle Inhalte zu kontrollieren. Sie hat zum Beispiel vorgeschlagen, die "Teilen"-Funktion auf Facebook so zu ändern, dass die dritte Person in der Kette, nachdem ein Inhalt zweimal geteilt wurde, sich die Zeit nehmen muss, den Inhalt zu kopieren und in einen neuen Beitrag einzufügen. Reformen wie diese sind keine Zensur; sie sind blickwinkel- und inhaltsneutral und funktionieren in allen Sprachen gleich gut. Sie halten niemanden davon ab, etwas zu sagen; sie verlangsamen nur die Verbreitung von Inhalten, die im Durchschnitt weniger wahrscheinlich wahr sind.

Die vielleicht größte Veränderung, die die Toxizität bestehender Plattformen verringern würde, wäre die Überprüfung durch die Nutzer als Voraussetzung für die algorithmische Verstärkung, die soziale Medien bieten.

Banken und andere Wirtschaftszweige haben "Know your customer"-Regeln, damit sie keine Geschäfte mit anonymen Kunden machen können, die Geld von kriminellen Unternehmen waschen. Große Social-Media-Plattformen sollten dazu verpflichtet werden, dasselbe zu tun. Das bedeutet nicht, dass die Nutzer unter ihrem echten Namen posten müssten; sie könnten immer noch ein Pseudonym verwenden. Es bedeutet nur, dass eine Plattform, bevor sie Worte an Millionen von Menschen weitergibt, verpflichtet ist, zu überprüfen (vielleicht durch eine dritte Partei oder eine gemeinnützige Organisation), ob man ein echter Mensch in einem bestimmten Land und alt genug ist, um die Plattform zu nutzen. Diese eine Änderung würde die meisten der Hunderten von Millionen von Bots und gefälschten Konten auslöschen, die derzeit die großen Plattformen verunreinigen. Sie würde wahrscheinlich auch die Häufigkeit von Todesdrohungen, Vergewaltigungsdrohungen, rassistischen Abscheulichkeiten und Trolling im Allgemeinen verringern. Untersuchungen zeigen, dass antisoziales Verhalten im Internet häufiger vorkommt, wenn Menschen das Gefühl haben, dass ihre Identität unbekannt und nicht verfolgbar ist.

Auf jeden Fall gibt es immer mehr Beweise dafür, dass die sozialen Medien der Demokratie schaden, so dass eine stärkere Aufsicht durch eine Regulierungsbehörde, wie die Federal Communications Commission oder die Federal Trade Commission, gerechtfertigt ist. Eine der ersten Aufgaben sollte darin bestehen, die Plattformen zu zwingen, ihre Daten und Algorithmen mit akademischen Forschern zu teilen.

Die nächste Generation vorbereiten

Die Mitglieder der Generation Z – die 1997 und später Geborenen – tragen keine Schuld an dem Schlamassel, in dem wir stecken, aber sie werden ihn erben, und die ersten Anzeichen deuten darauf hin, dass die älteren Generationen sie daran gehindert haben zu lernen, wie man damit umgeht.

Die Kindheit ist in den letzten Generationen stärker eingegrenzt worden – es gibt weniger Möglichkeiten für freies, unstrukturiertes Spiel, weniger unbeaufsichtigte Zeit im Freien und mehr Zeit im Internet. Was auch immer die Auswirkungen dieser Veränderungen sind, sie haben wahrscheinlich die Entwicklung von Fähigkeiten behindert, die viele junge Erwachsene für eine effektive Selbstverwaltung benötigen. Unbeaufsichtigtes freies Spiel ist die Art und Weise, wie die Natur jungen Säugetieren die Fähigkeiten beibringt, die sie als Erwachsene brauchen werden. In einem brillanten Aufsatz des Wirtschaftswissenschaftlers Steven Horwitz aus dem Jahr 2015 wird argumentiert, dass das freie Spiel Kinder auf die "Kunst der Assoziation" vorbereitet, von der Alexis de Tocqueville sagte, sie sei der Schlüssel zur Lebendigkeit der amerikanischen Demokratie; er argumentiert auch, dass ihr Verlust "eine ernsthafte Bedrohung für liberale Gesellschaften" darstelle. Eine Generation, die daran gehindert werde, diese sozialen Fähigkeiten zu erlernen, warnte Horwitz, würde sich gewohnheitsmäßig an Autoritäten wenden, um Streitigkeiten zu lösen, und würde unter einer "Verrohung der sozialen Interaktion" leiden, die "eine Welt mit mehr Konflikten und Gewalt schaffen würde".

Und während die sozialen Medien die Kunst des Miteinanders in der gesamten Gesellschaft ausgehöhlt haben, hinterlassen sie bei Jugendlichen möglicherweise die tiefsten und dauerhaftesten Spuren. Anfang der 2010er-Jahre kam es zu einem plötzlichen Anstieg von Angstzuständen, Depressionen und Selbstverletzungen unter amerikanischen Jugendlichen. (Das selbe geschah zur gleichen Zeit mit kanadischen und britischen Jugendlichen.) Die Ursache ist nicht bekannt, aber der Zeitpunkt deutet darauf hin, dass die sozialen Medien einen wesentlichen Beitrag dazu leisten – der Anstieg begann genau zu dem Zeitpunkt, als die große Mehrheit der amerikanischen Teenager zu täglichen Nutzern der großen Plattformen wurde. Korrelations- und experimentelle Studien belegen den Zusammenhang mit Depressionen und Angstzuständen, ebenso wie Berichte von jungen Menschen selbst und eigene Untersuchungen von Facebook, wie das Wall Street Journal berichtet.

Bei Depressionen ist die Wahrscheinlichkeit geringer, dass man sich auf neue Menschen, Ideen und Erfahrungen einlässt. Ängste lassen neue Dinge bedrohlicher erscheinen. In dem Maße, in dem diese Bedingungen zugenommen haben und die Lektionen über differenziertes soziales Verhalten, die durch freies Spiel erlernt wurden, verzögert wurden, haben die Toleranz für unterschiedliche Standpunkte und die Fähigkeit, Streitigkeiten zu lösen, bei vielen jungen Menschen abgenommen. So haben beispielsweise Universitätsgemeinschaften, die noch 2010 eine Bandbreite von Rednern tolerieren konnten, diese Fähigkeit in den Folgejahren verloren, als die Generation Z auf dem Campus ankam. Die Versuche, Gastredner auszuladen, nahmen zu. Die Studierenden sagten nicht nur, dass sie mit Gastrednern nicht einverstanden seien, sondern einige sagten auch, dass diese Vorträge gefährlich, emotional verheerend und eine Form der Gewalt seien. Da die Zahl der Depressionen und Ängste bei Jugendlichen bis in die 2020er Jahre weiter gestiegen ist, sollten wir davon ausgehen, dass sich diese Ansichten in den nachfolgenden Generationen fortsetzen und sogar noch verschärfen werden.

Die wichtigste Änderung, die wir vornehmen können, um die schädlichen Auswirkungen sozialer Medien auf Kinder zu verringern, ist der Aufschub des Zugangs, bis sie die Pubertät durchlaufen haben. Der Kongress sollte das Gesetz zum Schutz der Privatsphäre von Kindern im Internet (Children's Online Privacy Protection Act) aktualisieren, das 1998 unklugerweise das Alter für das so genannte Internet-Adoleszenzalter [das Alter, ab dem Unternehmen persönliche Daten von Kindern ohne elterliche Zustimmung sammeln dürfen] auf 13 Jahre festlegte, ohne jedoch wirksame Durchsetzungsmaßnahmen vorzusehen. Dieses Alter sollte auf mindestens 16 Jahre angehoben werden und die Unternehmen sollten für die Durchsetzung dieses Alters verantwortlich gemacht werden.

Generell ist es vielleicht das wichtigste, dass wir die Kinder zum Spielen rauslassen, um die nächste Generation auf die Demokratie nach Babel vorzubereiten. Hören Sie auf, Kindern die Erfahrungen vorzuenthalten, die sie am meisten brauchen, um gute Bürger zu werden: freies Spiel in altersgemischten Kindergruppen mit minimaler Aufsicht durch Erwachsene. Jeder Bundesstaat sollte dem Beispiel von Utah, Oklahoma und Texas folgen und eine Version des Free-Range-Parenting-Gesetzes verabschieden, das Eltern die Gewissheit gibt, dass gegen sie nicht wegen Vernachlässigung ermittelt wird, wenn ihre 8- oder 9-jährigen Kinder beim Spielen im Park beobachtet werden. Wenn solche Gesetze in Kraft sind, sollten Schulen, Pädagogen und Gesundheitsbehörden die Eltern dazu ermutigen, ihre Kinder zu Fuß zur Schule gehen und in Gruppen draußen spielen zu lassen, so wie es früher mehr Kinder getan haben.

Hoffnung nach Babel

Die Geschichte, die ich erzählt habe, ist düster, und es gibt kaum Anzeichen dafür, dass Amerika in den nächsten fünf oder zehn Jahren zu einem gewissen Grad an Normalität und Stabilität zurückkehren wird. Welche Seite wird sich versöhnlich zeigen? Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Kongress wichtige Reformen zur Stärkung der demokratischen Institutionen oder zur Entgiftung der sozialen Medien beschließen wird?

Doch wenn wir den Blick von der dysfunktionalen Bundesregierung abwenden, uns von den sozialen Medien abkoppeln und direkt mit unseren Nachbarn sprechen, sieht die Lage hoffnungsvoller aus. Die meisten Amerikaner in dem Bericht More in Common gehören zur „erschöpften Mehrheit“, die der Streitereien überdrüssig ist und bereit ist, der anderen Seite zuzuhören und Kompromisse einzugehen. Die meisten Amerikaner erkennen jetzt, dass die sozialen Medien negative Auswirkungen auf das Land haben, und werden sich ihrer schädlichen Auswirkungen auf Kinder immer bewusster.

Werden wir etwas dagegen tun?

Als Tocqueville in den 1830er Jahren die Vereinigten Staaten bereiste, war er beeindruckt von der Gewohnheit der Amerikaner, freiwillige Vereinigungen zu bilden, um lokale Probleme zu lösen, anstatt auf das Handeln von Königen oder Adligen zu warten, wie es die Europäer tun würden. Diese Gewohnheit hat sich bis heute gehalten. In den letzten Jahren haben die Amerikaner Hunderte von Gruppen und Organisationen gegründet, die sich dem Aufbau von Vertrauen und Freundschaft über die politische Kluft hinweg verschrieben haben, darunter BridgeUSA, Braver Angels (in dessen Vorstand ich mitarbeite) und viele andere, die unter BridgeAlliance.us aufgelistet sind. Wir können nicht erwarten, dass der Kongress und die Technologieunternehmen uns retten. Wir müssen uns selbst und unsere Gemeinschaften ändern.

Wie würde es sein, in den Tagen nach der Zerstörung von Babel zu leben? Wir wissen es. Es ist eine Zeit der Verwirrung und des Verlusts. Aber es ist auch eine Zeit zum Nachdenken, zum Zuhören und zum Aufbauen.

"Nach Babel" Jonathan Haidts radikale Kritik an Social Media

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Kommentare 23
  1. Thomas Wahl
    Thomas Wahl · vor mehr als ein Jahr

    Nun gibt es wohl auch differenziertere Studien, die über dieses "eine Ursache"- Narrativ hinausgehen
    :
    "Soziale Netzwerke sind zu einem politisch verrufenen Ort geworden: Sie gelten vielen als Radikalisierungsmaschinen, die Falschinformationen und Hassbotschaften in die Welt blasen, Uninformierten die Köpfe verdrehen und mitverantwortlich dafür sind, dass die westliche Öffentlichkeit, allen voran die amerikanische, so polarisiert ist und nach rechts driftet.

    Doch stimmt diese Sicht? Eine neue Studie weist in eine andere Richtung. Vergangene Woche legten Forscher in Science Advance die Ergebnisse ihrer Untersuchung vor: Danach sieht nur eine kleine Minderheit auf YouTube überhaupt Videos mit extremistischen Inhalten. Die große Mehrheit der YouTube-Nutzer kommt hingegen mit diesen Inhalten gar nicht in Kontakt, kann also von ihnen auch nicht politisch beeinflusst werden.

    Die Studie steht in einer Reihe mit gleich mehreren Untersuchungen, die in den vergangenen Monaten veröffentlicht wurden. Gemeinsam zeichnen sie ein neues Bild davon, wie soziale Medien politische Extreme befördern – und wo solche Ängste übertrieben sind. …..

    Das Internet hat also einen Anteil an der Radikalisierung vieler Wähler, er könnte jedoch geringer sein als bislang vermutet. Deshalb fordert der Rechtswissenschaftler Yochai Benkler von der Harvard University, über das Netz hinaus nach Erklärungen für die Polarisierung zu suchen. In einer Studie wertete er im Herbst 2020 mit Kollegen vom Berkman Klein Center for Internet and Society die Desinformationskampagne zum Vorwurf aus, die damalige Präsidentschaftswahl sei Donald Trump gestohlen worden.

    Dabei handelte es sich, so das Ergebnis der Studie, "um einen von den Eliten und den Massenmedien gesteuerten Prozess. Soziale Medien spielten nur eine untergeordnete und unterstützende Rolle." Zuvor hatte Benkler das politische Medienökosystem in den Jahren 2015 bis 2018 untersucht und gezeigt, dass "Fox News und Donald Trumps eigene Kampagne bei der Verbreitung falscher Meinungen weitaus einflussreicher waren als russische Trolle oder Facebook-Clickbait-Künstler". …."

    https://www.zeit.de/20...

  2. Martin M
    Martin M · vor mehr als ein Jahr

    9. Medienschaffende sind in sehr hohem Maß vom Urteil der Beschäftigten ihrer Branche abhängig. Sie sind in hohem Maße „fragil“, anders als z.B. ein Koch. Einem Koch sind die Urteile anderer Köche egal, er braucht nur den Erfolg beim Gast. Er ist antifragil. Das führt bei den Köchen zu einer sehr diversen Gastronomie in jeder größeren Stadt, wobei sich die einzelnen Restaurants stark voneinander abheben / differenzieren. Bei Medien / Journalisten führt die Fragilität zu einer Monokultur von Meinung und Artikeln, weil ein „ausscheren“ (oder differenzieren wie bei den Köchen) zur Ächtung / Verlust von Glaubwürdigkeit führt. (Nassim Nicholas Taleb – „Skin in the Game“)

  3. Martin M
    Martin M · vor mehr als ein Jahr

    Erst jetzt über die gelungene Übersetzung gestolpert, Danke dafür. Haidt ist da imho ganz nah dran, das Puzzle zu vervollständigen, so nah wie kein anderer den ich kenne.

    Ich versuche hier mal meine Gedanken zu dem Thema zu ordnen und beizusteuern:

    1. Heute arbeiten vermutlich 10x soviele Menschen im Mediensektor und/oder Marketing. D.h. wir werden auch mit 10x soviel Content „überschwemmt“, wofür wir Menschen nicht gemacht sind.
    2. Die Welt ist kleiner geworden, d.h. wir bekommen Informationen / Content zu allen möglichen Problemen weltweit (die gleichzeitig völlig irrelevant für unser Leben sind). Früher nicht.
    3. Die Welt ist gleichzeitig viel komplexer geworden, d.h. wir können die einzelnen Informationen eigentlich gar nicht mehr bewerten / einordnen. Wir bräuchten für jedes einzelne Thema mehrere Wochen Zeit. Wir bekommen also immer mehr Informationen zu immer mehr (und auch weiter entfernten) Problemen, haben aber keine Chance, die eigentlichen Zusammenhänge zu verstehen. 1.-3. führt zu Überforderung
    4. „Always trust your Feelings“ – dies ist das Ideal und die Leitschnur für den modernen Menschen. Erst seit ca. den 90ern? Ergibt mit 1.-3. einen Drang, zu all diesen Dingen Stellung zu beziehen
    5. „The Righeous Mind“ (auch von Jonathan Haidt, absolut lesenswertes Buch) – wir neigen evolutionsbiologisch dazu, immer(!) erst eine emotionale Entscheidung zu jedem Thema zu treffen (in weniger als einer Sekunde), basierend auf unseren Moralvorstellungen. Danach konstruieren wir dazu eine passende Logik / Geschichte. Ist aber keinem bewusst, und beschleunigt bzw. verschlimmert 4. Und führt so zu Polarisierung, weil schwarz/weiß-Denken die permanent auf uns einströmenden komplexen Probleme und unsere daraus entstehende Überforderung scheinbar beherrschbar machen.
    6. Wir werden in unserer Arbeit, unser Kommunikation und unserem Leben in rasantem Tempo immer „virtueller“. D.h. wir entfernen uns immer mehr von konkreten Aufgaben und deren Auswirkungen, von körperlichen Tätigkeiten etc.. Wir werden immer mehr von direkten, archaischen „Ursache-Wirkungszusammenhängen“ entkoppelt („Jagderfolg = satt“). Das macht uns immer neurotischer. (Michael Easter – „The comfort crisis“)
    7. Die aus all dem entstehende gefühlte Machtlosigkeit des Einzelnen gepaart mit unserer Programmierung, immer eine konsistente Geschichte der Welt und auch unseres Lebens zu erzählen führt dazu, dass wir die Welt und „Gut“ und „Böse“ einteilen müssen, um sie beherrschbar zu machen. Und so sehen wir die Geschichte als immer mehr als einen ewig währenden Kampf zwischen Unterdrücker und Unterdrückten, Gewinnern und Verlierern, Ausbeutern und Ausgebeuteten. Als ein ewig weiterlaufendes „Zero-sum-Game“
    8. Dabei liegt nichts weiter von der Realität entfernt. Von den 5% Soziopathen / Psychopathen abgesehen, tut kaum ein Mensch absichtlich Böses. Sondern er versucht Gutes zu erreichen, basierend auf seinem Weltbild und seiner Lebenseinstellung. Und diese sind leider genauso durch die o.g. Punkte verzerrt wie unsere Wahrnehmung seiner Taten durch die o.g. Punkte (Ich finde die exakte Stelle dazu nicht mehr in den Büchern von Ichiro Kishimi/Fumitake Koga über die individualpsychologie von Alfred Adler).

  4. Cornelia Gliem
    Cornelia Gliem · vor mehr als 2 Jahre

    recht interessant und mal im großen aufgespannt. Natürlich merkt man den US-Amerikanischen Hintergrund - und ja dadurch ein wenig einseitig. (Kleines nebenbei Beispiel: die zwei voreingenommenen gegnerischen Anwälte die im Kampf die Wahrheit erzeugen - sehr amerikanisch. und gar nicht zu vergleichen mit kontinentalEuropa.)

    Europa ist nicht US und der Rest der Welt schon gar nicht.
    Nicht immer jedenfalls.

    Aber ja auch bei uns lassen sich Aspekte feststellen die der Text nennt.

    bissl stört mich sein Hang zu Hufeisentheorie. Dabei sagt er selbst dass die radikale Linke (die natürlich auch anders ist als unsere) bestraft durch soziale Ächtung - und die radikale Rechte durch Hinrichtung.. .

    Dem Text entnehme ich als Hilfreich für unseren Diskurs:
    die genannten Vorschläge... Die Verlangsamung, die anders gestaffelte Kindheit vorallem.

  5. Raphael Bolius
    Raphael Bolius · vor mehr als 2 Jahre · bearbeitet vor mehr als 2 Jahre

    Der Text ist natürlich sehr interessant. Es kann aber gut sein, dass Social Media nur ein Mosaikstein in einem größeren Gesamtkonzept sind. Bereits in den 70er/80er Jahren hat Neil Postman in seinem Klassiker "Wir amüsieren uns zu Tode" vor einer Aushölung der Demokratie (damals z. B. durch kommerzielles Fernsehen) gewarnt. https://www.fischerver... Posman kannte natürlich weder das Web noch Social Media. Trotzdem hat er bereits damals die Entwicklung, wie wir sie heute erleben, prognostiziert.

    SM wäre dem zufolge lediglich die Konsequenz einer bereits existierenden Dynamik. Und das grundsätzliche Problem wäre dann eher, dass wir keine Zeit mehr haben, weil wir unsere Kapazitäten mit oberflächlichen Inhalten zumüllen.

    1. Marcus von Jordan
      Marcus von Jordan · vor mehr als 2 Jahre

      Ja...interessanter Weise hat schon Goethe über den "Velocifer" gesprochen und darüber dass wir zu schnell für uns selber werden.

      https://yourbook.shop/...

  6. Dominik Lenné
    Dominik Lenné · vor mehr als 2 Jahre · bearbeitet vor mehr als 2 Jahre

    Der Text ist lang und intelligent. Die zentrale These scheint mir die Selbstverdummung sozialer (Teil-) Systeme durch die Unfähigkeit, Widersprüche produktiv auszuhalten und Argumente auf einzelne ihrer Aspekte (Patriotismus, totale Gerechtigkeit) zu reduzieren.
    Er ist schon sehr auf die USA zugeschnitten. Ich bin darüber immer etwas verstimmt - dass die Amerikaner über Probleme in ihrem Land schreiben und sich dabei auch darauf beschränken ist nur natürlich, aber dass wir das hier wie eine Arte absolute Aussage rezipieren, d.h. halbbewusst USA = Welt setzen, nervt mich schon.
    Die Frage ist, wieviel davon auf Europa und Deutschland übertragbar ist. Ich sehe z.B. nicht, dass wir hier moralisierende Angriffe in dem Ausmaß haben, wie die USA sie kennen. Was wir auch kennen ist Abneigung und Hass, der sich in dummen, verkürzenden und verächtlichen Lügen und Halbwahrheiten äußert und unsere Twitter-Blocklisten füttert.
    Auch dass Leute sich in ihren Halbwahrheiten und Aberglauben gegenseitig bestätigen, um sich ihrer autonomen Weltsicht zu versichern, kennen wir hier auch. Die Tendenz von Menschen, sich um den größten Quark als gemeinsamem Nenner zu scharen, weil ihnen das kollektive "gerechte Erregung" liefert (das scheint wirklich eine Quelle der Wohlbefindens zu sein, ich kenne das kaum) gab es schon immer, ist nun aber viel leichter.
    Auch das Gefühl der Notwendigkeit von Verlangsamung, Abkühlung und Ausgleich in der Politik teile ich. Es ist übrigens gar nichts Neues. Tacitus schrieb über die alten Germanen lobend, dass sie des Abends besoffen über Stammesdinge diskutierten, wo jeder offen und unverblümt sich ausspräche, die Beschlüsse aber am nächsten Tag nüchtern fassten, wo sie bei klarem Verstand seien. Das scheint mir ein guter Ansatz zu sein.

    1. Marcus von Jordan
      Marcus von Jordan · vor mehr als 2 Jahre

      :D
      Dem Vernehmen nach hat ja Willy Brandt dann ziemlich nach Tacitus bzw den Germanen agiert. Schöner Gedanke jedenfalls, dass sich Scholz und Merz einmal die Woche zum Trink-Komiss im Bundeskanzleramt treffen.

    2. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor mehr als 2 Jahre

      Ich fand den Artikel interessant. Aber insgesamt zu sehr auf "social media" als Ursache "aller" Probleme focusiert.

    3. Marcus von Jordan
      Marcus von Jordan · vor mehr als 2 Jahre

      @Thomas Wahl nun, ich denke er fokussiert auf die "erstaunlich plötzliche" Skalierung bestimmter problematischer Dynamiken...nicht das Feuer, aber der Brandbeschleuniger also und ich meine, dass das bis jetzt er unterbelichtet war öffentlich.

    4. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor mehr als 2 Jahre · bearbeitet vor mehr als 2 Jahre

      @Marcus von Jordan Ich denke, diese Dynamiken sind weder besonders plötzlich noch historisch besonders herausragend. (Das 20. Jh. war voll davon) Der Westen (aber nicht nur der) schiebt (gerade mal wieder) verschiedene Problemlagen seit Jahrzehnten vor sich her. Nicht nur was Rußland oder Fehlentwicklungen der Globalisierung betrifft. Und das die intellektuelle Aneignung unserer Welt schief läuft, das kann man auch schon länger ahnen. Soziale Medien wirken dabei nicht einseitig. Sie werden gebraucht und mißbraucht. Wie das mit Medien immer schon war. Mit dem Buchdruck konnte man den Hexenhammer verbreiten und die Ltherbibel. Oder Marx und „Mein Kampf". Mit dem Radio hat Hitler die Massen verführt und seine Gegner haben darüber aufgeklärt.

      Es ist klar, "dass die sozialen Medien der Demokratie schaden" können und auch schaden. Aber eben auch nutzen. Und dass sie, wie alles in Gesellschaften, Regeln gehorchen müssen. Aber wenn etwas der Demokratie wirklich schadet, dann sind es die Demokratien selber. In dem sie u.a. ihre eigenen Unzulänglichkeiten dem Medium in die Schuhe schieben ….. 😏

      Trotzdem ein sehr lesenswertes Narrativ mit vielen für mich nachvollziehbaren Gedanken. Man lernt ….

    5. Marcus von Jordan
      Marcus von Jordan · vor mehr als 2 Jahre

      @Thomas Wahl kann mich nur wiederholen eigentlich - nicht Brand, sondern Brandbeschleuniger. Das aber schon in unbekanntem Maße und Haidts Ausführungen sind mir da überzeugender als dein heiliger Relativitäts-Hammer :)

      Sowieso wäre es unproblematisch, wenn die Rezipienten "feuerfest" wären, also mündig oder so. Warum sie das in so erschreckendem Maße nicht sind nach Jahrzehnten von Frieden und Wohlstand ist dann die nächste Frage.

    6. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor mehr als 2 Jahre

      @Marcus von Jordan Ich will da auch gar nicht mit dir streiten. Nur etwas Skepsis in die Soße gießen. Ich glaub sofort, dass dich das Narrativ eher überzeugt. Ist ja auch gut geschrieben und analysiert. Es ist das dominierende, an das viele glauben. Und es ist ja auch was dran. Aber es ist andererseits oft recht simpel. Einfache Ursache/Wirkungs-Zusammenhänge, die zeitliche Koinzidenz wird immer wieder einseitig als Verursachung interpretiert, man arbeitet eher mit Metaphern und Behauptungen als mit überzeugender Empirie. Die typische postmoderne soziologische Erzählung - von der besseren Art - halt. Mir sind es nur zu viele, die das ziemlich unskeptisch aufnehmen. Sicher gilt es "die Fähigkeit der sozialen Medien zu verringern, Vertrauen zu zerstören und strukturelle Dummheit zu schüren". Gilt für all unsere Institutionen. Viele vorgeschlagene Maßnahmen im Artikel sind da durchaus richtig. Aber sind es wirklich die sozialen Medien, die hauptsächlich Vertrauen verringern und nicht die zunehmend dysfunktionalen Bürokratien, Institutionen und Politiken selbst? Unsere mehr oder weniger stagnierenden Wirtschaften? Die wachsenden Zukunftsängste vor der (Klima)Apokalypse?

      Es stimmt, die eigentliche Frage wäre, warum die "Rezipienten" oder besser die Akteure so anfällig für den ganzen Blödsinn sind. Was sich ja nicht auf die sozialen Medien beschränkt. Wenn die "seriösen" Medien nicht jeden Quatsch bei Twitter & Co. aufnehmen und aufblasen würden, wenn die Menschen in der realen Welt ihren Verstand gebrauchen würden, wäre auch unsere Gesellschaft rationaler. Das Gezeter der sozialen Medien (die wohl so sozial nicht immer sind) würde verpuffen. Ich bekomme die Erregungswellen jedenfalls nicht über Twitter oder Facebook mit, sondern über FAZ, WELT oder Zeit. Von ARD und ZDF ganz zu schweigen. Demokratien existieren offensichtlich in Umständen, die sie schlecht beeinflussen können - eben mit nicht wirklich rationalen Bürgern. Es bleibt/wird dadurch schwierig unsere demokratischen Institutionen wirklich krisenfest zu machen. Die Selbstverdummung sozialer Systeme/Teilsysteme, von der Dominik Lenné oben spricht, scheint mir in den Menschen angelegt. Mir und anderen helfen die sozialen Medien dagegen zu arbeiten. Andere verirren sich eher darin. Schwierig.

      Da helfen auch Jahrzehnte in Frieden und Wohlstand nicht. Vielleicht sogar im Gegenteil. Man war im Westen zu lange von den existentiellen Herausforderungen abgeschirmt. Und nun kommt die Angst, dass es so nicht weitergehen wird/kann?

      Mir geht es eigentlich überhaupt nicht um Relativierung. Die Situation ist verflucht gefährlich und so ist es auch gefährlich einen "Brandbeschleuniger" (schöne Metapher) so herauszustellen. Man reduziert zwar die Komplexität der Theorie, aber nicht die der Wirklichkeit.

    7. Marcus von Jordan
      Marcus von Jordan · vor mehr als 2 Jahre

      @Thomas Wahl ich habe den Text ja jetzt ziemlich studiert, weil ich ihn übersetzt habe und denke, Haidt würde dir kaum widersprechen, dass die eigentlichen Probleme tiefer liegen. Sie sind aber auch schon älter und neu erscheint der Grad der Unfähigkeit damit umzugehen, sie zu bearbeiten. Ich glaube das ist die These: diese Dynamiken innerhalb social media (nicht unbedingt sm insgesamt)nehmen uns die Handlungsmöglichkeiten um unsere komplexe Welt auf Kurs zu halten und liefern denen das Werkzeug, die von Destabilisierung profitieren.

      Ich widerspreche bezüglich, dass das was hier im Aufsatz steht Mainstream wäre. das scheint mir gar nicht so. Fast im Gegenteil. Ab und an thematisiert sich das, dann auch gerne mal laut und empört und passieren tut: nichts. Europa gibt sich bis jetzt nahezu kampflos einer externen Kontrolle und Demontage seiner Öffentlichkeit hin, genauso wie den digitalen Handelsmonopolen. Das Brett scheint allen in der Politik zu dick und unappetitlich.

      Und ich geb dir recht: es gibt das Risiko, dass sich echte, ursächliche Probleme dahinter verstecken und sagen würden "liegt alles nur an social media". Ich wundere mich schon fast, wie wenig ich das beobachten könnte bis jetzt.

    8. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor mehr als 2 Jahre

      @Marcus von Jordan Mit dominierendem Narrativ meinte ich, es ist das bestimmende Narrativ bei der kritischen Analyse der sozialen Medien und der daran interessierten Intellektuellen. In der allgemeinen Lebenswelt der meisten Menschen spielt das Thema nach meinen Eindrücken eh kaum eine große Rolle. Was wohl für viele mediale Erregungswellen gilt.

      Das Europa sich eine "externen Kontrolle und Demontage seiner Öffentlichkeit" hingibt, sehe ich eigentlich nicht. Der Kontrollbegriff passt m.E. nicht. Wer soll da konkret was oder wen kontrollieren? Zuckerberg? Sicher, er hat die Art und Weise, wie wir Informationen verbreiten und konsumieren, neu verkabelt". Aber er hat doch nicht "unsere Institutionen transformierr". Das haben die schon selbst besorgt. Und, "Es ist nicht so gelaufen, wie er es erwartet hatte." Gleichzeitig entspricht das Ergebnis wohl auch nicht den Absichten der Institutionen und anderer Akteure. Was eigentlich das Gegenteil von Kontrolle ist. Es ist wie immer, das Ergebnis gesellschaftlicher Entwicklung ist ein völlig anderes als von den Akteuren geplant. Gesellschaften sind nichtlineare Systeme mit offener Zukunft. Keiner hat die Kontrolle. Es sind immer sich wechselseitig verstärkende und/oder konterkarierende Einflüsse. Die muß man sicher beobachten. Mitmachen tun wir sowie so dabei. Man kann ja "nicht nicht kommunizieren".

      Zuckerberg hat die Rahmenbedingungen verschoben, in denen sich Institutionen, Gruppierungen und Bürger kommunikativ selbst organisieren - das ja. Das ganze ist eingebettet in den immer stattfindenden Transformationsprozess den wir Geschichte nennen. Kontrolle hat da m.E. keiner wirklich - wie Haidt letztendlich implizit zeigt. Auch wenn einige glauben / geglaubt haben, kontrollieren zu können

    9. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor mehr als 2 Jahre · bearbeitet vor mehr als 2 Jahre

      @Marcus von Jordan Das ist ein interessanter Gedanke:
      "Und wenn heute in der Philosophie über Fortschritt nachgedacht wird, dann meistens nur über moralischen Fortschritt. Da werden die Wandlungsprozesse separiert und gar nicht mehr aufeinander bezogen. Aus der Ablehnung eines unplausiblen Determinismus, der den moralischen Fortschritten gar kein eigenes Recht zugesteht, ist die umgekehrte Position geworden, die die Verbindung von materiellen und nicht-materiellen, normativen sozialen Dynamiken gar nicht mehr in den Blick nimmt. Genau diese Verschränkung aber ist eigentlich interessant. Und damit der Umstand, dass moralischer Fortschritt nicht alleine steht, sondern in soziale Kontexte und deren Veränderung eingebettet ist. Weder das Bestehen von Praktiken und Institutionen wie der Sklaverei oder die rechtliche Akzeptanz von Vergewaltigung in der Ehe noch ihre (zumindest legale) Abschaffung lassen sich aber ohne solche Kontexte und die Wechselwirkung zwischen ihnen verstehen.

      Wie genau ist dieses Verhältnis zwischen den verschiedenen Wandlungsprozessen zu verstehen?

      Jeder dieser Prozesse hat eine eigene Logik und ein eigenes Recht, steht aber gleichzeitig auch in vielfältigen und wechselseitigen Bedingungsverhältnissen. Meine Formulierung „Wandel im Wandel“ und die Vorstellung, dass Wandel durch Krisen und Mismatches zwischen Praxisgefügen ausgelöst wird, ist eine sehr vorsichtige (Wieder-)Annäherung an solche Zusammenhänge, die man dann weiter verstehen und ausbuchstabieren muss. Das lässt sich an der Serie Downton Abbey gut sehen. Hier zeigt sich, wie das Zusammenspiel von technischem Fortschritt, adliger Misswirtschaft, dem Auftreten von Emanzipationsbewegungen sowie des Kriegs eine Art Sog erzeugen, in dem sich die verschiedenen eingelebten Praktiken und Institutionen nicht mehr halten können. Die einzelnen Dynamiken wirken dabei unabhängig und stehen doch in einem Interdependenzverhältnis zueinander. In einem eher unübersichtlichen Gemisch ermöglicht, bewirkt und erfordert das eine das andere. Sozialphilosophisch ist es wichtig, sich vor Augen zu führen, wie verschiedene Dynamiken des Wandels zusammenwirken. Zur Befreiung der Frau beispielsweise haben die Erfindung der Pille oder der Schreibmaschine genauso viel beigetragen wie die Akteure und Akteurinnen, die dann die Emanzipationsbestrebungen formuliert haben. Die Schreibmaschine ist ein klassisches Beispiel, weil es für eine Entwicklung in den 20er Jahren steht, in der Frauen eine akzeptierte Berufstätigkeit außerhalb von häuslichen Dienstverhältnissen und der Fabrik aufnehmen konnten. Für unverheiratete Frauen bestand damit die Möglichkeit einen unabhängigen Job zu haben und sich selbst zu versorgen. Das hat eine ganze Kultur der Emanzipation erzeugt ….."

      https://www.philomag.d...

    10. Raphael Bolius
      Raphael Bolius · vor mehr als 2 Jahre

      @Thomas Wahl @Thomas Wahl ...Die Selbstverdummung sozialer Systeme/Teilsysteme, von der Dominik Lenné oben spricht, scheint mir in den Menschen angelegt. Mir und anderen helfen die sozialen Medien dagegen zu arbeiten. Andere verirren sich eher darin. Schwierig...

      Ja schon. Aber grundsätzlich ist eines der Probleme ja auch, dass Soziale Medien nicht dazu altruisitisch geschaffen wurden, um die Kommunikation zu verbessern, sondern um möglichst viel Geld zu verdienen. Letzters wäre ja soweit OK, würde man nicht unlautere Mittel einsetzen um noch mehr Geld verdienen zu können. Dass der "Like-Button" von Facebook durchaus so konzipiert wurde, dass er in gewisser Weise süchrig macht und dass Facebook gezielt polarisierende Posts über den Algo ausspielt um noch mehr Emotionen zu "erzeugen", das ist ja bekannt.

      Darin unterschedien sich Soziale Medien doch grundsätzlich von Verlegern vergangener Zeiten, bei denen der Gewinn nicht im Vordergrund stand, sondern ein Mittel war um ihre Ideen zu verbreiten.

      Was sind aber z. B. die Ideen von Zuckerberg? Er will die Welt von Krankheit befreien? Mit einer Investition, die ihm nicht unerhebliche Steuervorteile bringt, aber (soviel ich weiß) ca. dem jährlichen (?) Etat Deutschlands für Forschungszwecke entspricht.

      Google hingegen (einer der größten Datenschnüffler auf diesem Planeten) will die Welt besser machen oder zumindest "nicht Böse sein", wie der Claim bis 2015 lautete. Heute ist Alphabet schon bescheidener und will nur "das Richtige tun". Was ja auch nett klingt, aber wer weiß schon, was "das Richtige" sein mag.

      OK, langer Rede kurzer Sinn: Soziale Medien und große Teile der Tech-Industrie basieren grundsätzlich auf Gier, Profitmaximierung und Aushöhlung unserer Grundrechte. Interessanter Weise interessiert das aber niemanden. Sorry, ich arbeite in der Branche, und wenn man Kunden auf bedenkliche Prozesse anspricht, heisst es meistens: "Ist mir egal".

      Das Problem ist also an allen Ecken und Enden zu finden, nicht auf Social Media beschränkt, aber SM haben schon einen ordentlichen Anteil. Es wäre halt erfreulich, wenn man irgendwie kleinere, aber realistische Brötchen backen würde. Aber das würde natürlich einen Aufschrei erzeugen, vergleichbar mit dem Aufschrei, der entsteht, wenn man einem Junkie sein Heroin wegnimmt.

    11. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor mehr als 2 Jahre · bearbeitet vor mehr als 2 Jahre

      @Raphael Bolius "Soziale Medien und große Teile der Tech-Industrie basieren grundsätzlich auf Gier, Profitmaximierung und Aushöhlung unserer Grundrechte." Kann man das irgendwie beweisen? Und warum soll das bei früheren Verlegern anders gewesen sein? Welches Medium hat denn jemals überlebt, in dem es die Teilnehmer mit abstoßenden Inhalten versorgte? Also diese Reduktion sozialen Handelns auf Gier ist m.E. wirklich eine enorme Reduzierung realer Komplexität. Menschen - und das sind auch die Tech-Kapitalisten - sind doch keine Abziehbilder. Ich glaube Marx würde sich im Grabe umdrehen, wenn er diese einseitigen Abstraktionen lesen würde. Obwohl er selbst in seinen Modellen mit Abstraktionen gearbeitet hat. Nur ist es aus der Welt der Abstraktionen in die wirkliche Welt zurück ein weiter Weg. Deshalb ist auch seine Geschichte ziemlich anders verlaufen als er dachte.

      Leider kommt bei menschlichem Handeln meist nicht das heraus, was beabsichtgt war. Weder bei den Linken noch bei den Gläubigen und auch nicht bei den Konservativen hat sich jemals die ideale Welt eingestellt, die sie in ihren Gedanken schaffen wollten. Daraus zu schließen all ihr Handeln sei aus Gier nach Geld oder Macht geleitet worden, liegt vielleicht auf der ersten intuitiven Ebene nahe. Ist aber oft ein Trugschluß.

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