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Was soll man lesen? Eine Kritik des Literaturkanons

christina mohr
Freie Autorin

Geboren in Frankfurt, heute wieder dort lebend und arbeitend - hauptberuflich für einen Sachbuch- und Wissenschaftsverlag, daneben als freie Autorin für Magazine wie Spex, Missy Magazine, Konkret, Die Anschläge, kaput-magazine.com, melodiva.de, culturmag.de.

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christina mohrMittwoch, 12.01.2022

In ihrer heutigen Ausgabe stellt die Süddeutsche Zeitung den – noch immer überwiegend weiß und männlich dominierten – sogenannten Literaturkanon infrage: Der Beitrag "Richtig Platz schaffen im Regal" von Deniz Utlu befindet sich in der Online-Ausgabe zwar hinter der Paywall, die Lektüre (bzw. gar die Anschaffung der Papierzeitung) lohnt aber auf jeden Fall, räumt Utlu doch so versiert wie furios im tradierten "white male bookshelf" auf und macht gleichzeitig Lust auf ein anderes, neues Leseverhalten.

Im Netz und auf Papier offen zugänglich ist Marie Schmidts Text, in dem aktuelle Bücher vorgestellt werden, die eben diesen Kanon weiblicher machen wollen – und nutzlose Begriffe wie "Frauenliteratur" überflüssig. Denn eine "Männerliteratur" gibt es nicht, was unterschwellig bedeutet, dass Werke  männlicher Autoren per se als "richtige" Literatur rezipiert werden, Werke von Autorinnen dagegen als "das andere", stets erklärungsbedürftig und nur für eine bestimmte Zielgruppe (LeserINNEN) geeignet.

Schmidt geht mit den ausgewählten Büchern durchaus kritisch ins Gericht, trotz der unbestreitbar wichtigen Impulse: So stellt Schmidt zu Nicole Seiferts "Frauen. Literatur." (Kiepenheuer & Witsch) die berechtigte Frage, warum die Autorin durchgehend ein verallgemeinerndes "wir" verwendet, um auf den Missstand hinzuweisen, dass noch immer zu wenige Autorinnen, und vor allem zu wenige Autorinnen "ehemals kolonisierter Länder" kanonisierungswürdig erscheinen. Auch "100 Autorinnen in Porträts" (Hg. von Verena Auffermann, Julia Encke, Gunhild Kübler, Ursula März und Elke Schmitter; Piper Verlag) steht in der Kritik, schon wegen der plakativ gewählten Zahl 100 – die neben der bewussten Auswahl automatisch auch den Ausschluss mit sich bringt. Elke Heidenreichs autobiografischem Essay "Hier geht's lang! Mit Büchern von Frauen durchs Leben" (Eisele Verlag) attestiert Marie Schmidt Glaubwürdigkeit, da Heidenreich einräumt, dass "so ein Leseleben" ohne Gottfried Benn oder Hans Christian Andersen doch auch nicht ginge. Dennoch: Die unter der Überschrift "Und welche Frauen?" zusammengestellten Bücher machen klar, dass ein Kanon keiner ist, der die Hälfte der schreibenden Menschheit ausgrenzt (und bis hier war noch keine Rede von queeren resp. non-binären Autor*innen). Literaturkritik und -rezeption muss in Bewegung bleiben – ein Kanon lebt von Vielstimmigkeit.

Was soll man lesen? Eine Kritik des Literaturkanons

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Kommentare 4
  1. Stefan Dierkes
    Stefan Dierkes · vor fast 3 Jahre

    Vielen Dank für den Piq! Hier noch eine Lese-Empfehlung dazu: Für literaturkritik.de hat Veronika Schuchter von der Uni Innsbruck Geschlechterverhältnisse in der deutschsprachigen Literaturkritik quantitativ untersucht (https://literaturkriti...) und unterstreicht damit auch nochmal mit Zahlen, wie es zu solchen Machtgefällen kommen kann.

    1. christina mohr
      christina mohr · vor fast 3 Jahre

      Super, vielen Dank, lieber Stefan - in diesem Zusammenhang verweise ich auf diese ebenfalls recht erhellende Seite/Organisation: http://www.frauenzähle...

  2. Achim Engelberg
    Achim Engelberg · vor fast 3 Jahre

    Man kann denn Beitrag von Deniz Utlu auch über Blendle lesen.

    Allerdings schafft er im Regal nicht mehr Platz, sondern vergrößert es - zumindest tendenziell.

    Ein Beispiel:

    "Ein willkürlicher Blick in die Gegenwartsliteratur gibt zahlreiche Beispiele: Wenn Shida Bazyar ihren jüngsten Roman „Drei Kameradinnen“ nennt, schwingt „Drei Kameraden“ von Erich Maria Remarque mit. Sasha Marianna Salzmanns Romantitel „Im Menschen muss alles herrlich sein“ ist ein modifizierter Satz von Anton Tschechow aus „Onkel Wanja“. Indem die Autorin hier das Wort „herrlich“ statt „schön“ verwendet, schließt sie die Konnotation von „Herrschaft“ und „Herr sein“ nicht aus. Salzmann spielt mit der Referenz, indem diese erkennbar bleibt, aber variiert wird."

    Er räumt kein einziges Buch aus dem Regal, sondern steckt neue hinzu - zumindest tendenziell.

    Oder man könnte es auch so deuten, dass eine Autorin wie Salzmann an der Tradierung von Tschechow arbeitet. Ihr Buch wird ja nicht gleich zum Klassiker oder zum Bestandteil des Kanons.

    Oder was verstand ich nicht?

    https://blendle.com/i/...

    1. christina mohr
      christina mohr · vor fast 3 Jahre

      Danke für den Tipp mit Blendle!
      Und natürlich hast du recht, Utlu ergänzt und vergrößert den Kanon damit - aber Aufräumen bedeutet ja nicht unbedingt Ausräumen... vielen Dank fürs aufmerksame Lesen!

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