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Medien und Gesellschaft

Keinen Bock auf Nachrichten?! Das "News-Avoidance"-Phänomen

Alexander Sängerlaub
Publizist, Journalist, Utopist

Programmleiter Zukunft des Journalismus am Bonn Institute & Direktor futur eins

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Alexander SängerlaubMittwoch, 12.08.2020

Wer manchmal auf die Startseiten der Nachrichten geht, könnte meinen, wir befinden uns täglich kurz vor der Apokalypse. Krisen, Katastrophen und Konflikte dominieren in der Regel die Berichterstattung. Das ist ein Grund, warum zunehmend Menschen versuchen, Nachrichten zu vermeiden.

"Negativismus" gilt gemeinhin in der Nachrichtenwertforschung als Nachrichtenfaktor. Heißt: Je "schlimmer" ein Ereignis, desto höher die Publikationswahrscheinlichkeit. Jetzt könnte man argumentieren, dass Nachrichten genau dafür da sind: Das Übel in der Welt zu zeigen. Das kommt aber zu einem Preis: Menschen vermeiden Nachrichten – und das zunehmend. Im Digital News Report 2019 (S. 25) waren es fast 1/3 der Befragten, die angaben Nachrichten bewusst aus dem Weg zu gehen (allein in Großbritannien im Vergleich zur Studie 2017 +11%). In Deutschland waren es 25% der Befragten.

Für Großbritannien wurde die "News Avoidance" noch mal aufgeschlüsselt: 58% gaben an, dass der negative Einfluss auf ihre Stimmung zu groß sei, 40% fühlen sich hilflos ob der Nachrichtenlage. Der Artikel des NiemanLab, der eine Studie von Benjamin Toff und Antonis Kalogeropoulos vorstellt, gibt weitere Einblicke, welchen Einfluss Pressefreiheit, Öffentlich-Rechtliche, Medienvertrauen, Alter, Geschlecht oder politische Einstellung darauf haben, ob Menschen Nachrichten versuchen aus dem Weg zu gehen.

Nun könnte man auch anders argumentieren und sagen, dass Medien im Idealfall versuchen sollten, ein realistisches Bild der Welt zu zeichnen, statt einen Zerrspiegel aus Krisen – Katastrophen – Konflikten. Der Konstruktive Journalismus (dessen Verfechter ich bin), plädiert genau dafür: Mehr Perspektive auf Themen zuzulassen. Das heißt eben nicht nur die Krisenherde zu zeigen, sondern auch stärker zu erklären, was die Hintergründe dafür sind und eben auch, ob und wie an Lösungen dafür gearbeitet wird. Das könnte nicht nur diejenigen erreichen, die Nachrichten aufgrund des negative bias versuchen zu vermeiden, sondern auch diejenigen, die sich nach der Rezeption von Nachrichten hilflos fühlen.

Dabei sind es nicht nur diejenigen, die Nachrichten bewusst vermeiden, die sich eine andere Form der Berichterstattung wünschen. Hierfür gibt es ein paar spannende neue Zahlen des Constructive Institutes aus Dänemark, dessen Gründer Ulrik Haagerup quasi ein Vorreiter des Konstruktiven Journalismus ist. Er hat versucht herauszufinden, welche Wünsche das dänische Publikum hat: Die Zahlen sind auch insofern spannend, weil Konstruktiver Journalismus in den skandinavischen Ländern bereits viel etablierter ist als hierzulande. Und dennoch: 58% der befragten Dänen, wünschen sich lösungsorientiertere Nachrichten, 68% plädieren für mehr Perspektive in der Berichterstattung.

Letztlich hat das Ganze auch eine demokratietheoretische Dimension: Demokratie funktioniert eben nur, wenn sich irgendwer auch für sie interessiert. Je weniger Menschen (qualitativ hochwertige) Nachrichten konsumieren, desto weniger informiert sind sie, wodurch sie in der Folge auch schlechtere politische Entscheidungen fällen. Insofern: Gegen "News Avoidance" anzugehen, sollte im Interesse aller sein. Oder um Peer Steinbrück zu zitieren: "Wenn Du Dich nicht um mich kümmerst, dann verlasse ich Dich ... Deine Demokratie!"

Keinen Bock auf Nachrichten?! Das "News-Avoidance"-Phänomen

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Kommentare 14
  1. Cornelia Gliem
    Cornelia Gliem · vor 4 Jahren

    ok. deskriptive oder normative NachrichtenKriterien... Aber so zu tun als würden sie nur die negative Realität ab/bilden, ist mir auch zu simpel. human interesst zb ist fast immer auch was "positives" und darüber hinaus sind diese Kriterien ja tatsächlich relevant. Ich meine wir Menschen springen darauf an. und natürlich (!) bilden wir Realität Wahrnehmung in Geschichten (ab).
    Warum dann news avoidment? weil heute viele Redaktionen oft zu hektisch und handwerklich schlecht berichten und erzählen.
    und (mir ist klar dass ich hier vereinfache und existierende unterschiede zwischen Bericht und Erzählung, zwischen Fakt und Fiktion verwische)
    zu wenig erzählen wenn sie eine (negative) Nachricht aneinander reihen... (analog des binge-watching von ein zwei Krimiserien, da hat man auch erstmal keine Lust auf noch eine Krimiserie).
    Der gefordertete konstruktive Journalismus mit Lösungsansätzen und Hintergründen - das ist eben die bessere Erzählung/sstruktur.
    NachrichtenVermeidung erfolgt übrigens auch bei banaler Übersättigung von ganz und garnicht weltbewegenden, keinerlei action-news-weise der lokalnachrichten mit ihren (hunderten) vereins-, Stadtfest-, ortsumgehung-, Windparkstreit- und firmenfest- verkündungsartikelchen...

  2. Christoph Zensen
    Christoph Zensen · vor 4 Jahren

    Mann liest brennende Zeitung :-)

    Auch hier: https://www.piqd.de/me...

  3. Christoph Zensen
    Christoph Zensen · vor 4 Jahren

    Warum werden eigentlich Nachrichtenfaktoren so häufig als Rechtfertigung für die Kriterien der Berichterstattung herangezogen? Sind die nicht eigentlich komplett deskriptiv und null normativ?

    1. Alexander Sängerlaub
      Alexander Sängerlaub · vor 4 Jahren

      Absolut korrekt. Es ist die deskriptive, wissenschaftliche Beschreibung dessen, was Journalistïnnen tun. Das heißt ja noch lange nicht, dass man es nicht auch ganz anders (z.B.: besser) machen könnte.

    2. Christoph Zensen
      Christoph Zensen · vor 4 Jahren · bearbeitet vor 4 Jahren

      @Alexander Sängerlaub Das sehen aber einige ganz anders. Ich verstehe tatsächlich überhaupt nicht wo das herkommt.

      Hier zum Beispiel die Medienseite vom MDR "Medien360G" (https://www.mdr.de/med...)

      "Sie beschreiben Eigenschaften von Ereignissen und Themen, die es für die Veröffentlichung von Nachrichten auszuwählen gilt."

      Bei der Reporterfabrik von Cord Schnippen ist es genauso: https://akademie.repor...

    3. Alexander Sängerlaub
      Alexander Sängerlaub · vor 4 Jahren

      @Christoph Zensen Im MDR-Artikel steht aber auch: "Diese Faktoren sind also lediglich als Analyse der Selektionsmechanismen zu verstehen, die sich im Laufe der Zeit herausgebildet haben – nicht als Checkliste für Redaktionen." ;-)

      Gute Redaktionen wissen das. Unabhängig davon gibt es eben im Journalismus auch "Herdeneffekte" (wie beschrieben mit den Fußballern in Thailand).

      Das Grundproblem liegt aber ganz woanders: Die Realität (und damit die Komplexität von Öffentlichkeit) fordern eigentlich systematischere Methoden der Informationsaufbereitung, die weniger von Hypes und Aufmerksamkeitsökonomie abhängig sind. Dafür müsste sich der Journalismusberuf professionalisieren und an die Wissenschaft näher heranrücken.

    4. Christoph Zensen
      Christoph Zensen · vor 4 Jahren

      @Alexander Sängerlaub Ich sehe die Lösung darin, dass sich jede Redaktion ein konkretes Wertefundament selbst erarbeiten muss, dieses auch transparent macht und regelmäßig kritisch reflektiert. Und am besten noch gemeinsam mit ihrer Leser-Community.

      Von der Basis aus kann dann Berichterstattung stattfinden. Damit wäre sie – wie du es auch willst – auch weniger von Hypes getrieben.

      Jay Rosen hat ja so ein ähnliches Konzept schon lange fertig: citizen agenda journalism.

      Der Verweis auf die Nachrichtenfaktoren als Leitlinie ist schon ein Problem, weil sich Redaktionen so leichter der Reflexion über ihre Nachrichtenauswahl entziehen können.

    5. Alexander Sängerlaub
      Alexander Sängerlaub · vor 4 Jahren

      @Christoph Zensen Machen ja einige, gibt's auch gleich nen wilden Shitstorm. Haha.
      https://www.piqd.de/me...

      Kann mir kaum vorstellen, dass es Redaktionen gibt, die sich über ihr Wertefundament keine Gedanken gemacht haben. Das Problem ist, das der Kompass des Journalismus in Teilen nicht stimmt. In der Journalistenschule lernst du, wann etwas eine "gute Geschichte" ist. Wenn aber Medien Realität angemessen beschrieben sollen, dann hat das nichts mit "guten Geschichten" zutun.

    6. Christoph Zensen
      Christoph Zensen · vor 4 Jahren

      @Alexander Sängerlaub Was die SZ (und Spiegel zuvor) gemacht hat, ist ja auch in der Praxis nicht zu gebrauchen.

      Ich stelle mir vor, dass jede veröffentlichte Geschichte auf die Grundsätze im Wertefundament verlinkt, die für die Auswahl dieser Story relevant waren.

      Glaubst du, so etwas wäre machbar?

    7. Alexander Sängerlaub
      Alexander Sängerlaub · vor 4 Jahren

      @Christoph Zensen Ich glaube das braucht es gar nicht, wenn die Redaktion ihr Wertefundament veröffentlichen würde und man einfach weiß, woran man ist.

      Haben wir mit Kater Demos z.B. gemacht und ein Redaktionsstatut auf der Webseite prominent veröffentlicht, mit zehn Punkten die uns als Redaktion wichtig sind und unser Handeln leiten. Im Idealfall ist das ja dann die DNA der Redaktion, insofern musst du es nicht für jeden Artikel neu bestimmen.

    8. Christoph Zensen
      Christoph Zensen · vor 4 Jahren · bearbeitet vor 4 Jahren

      @Alexander Sängerlaub Ich habe sie gefunden: http://katerdemos.de/u... :-)

      Ich denke, man muss da auch zwischen Magazin und Nachrichtenmedien unterscheiden. Magazine haben da eigentlich gar kein Problem, weil bei ihnen die Auswahl ja viel offener auf dem Tisch liegt. Deswegen kann man mit einem Magazin wie Katerdemos oder Perspective-Daily sich auch leicht für konstruktiven Journalismus entscheiden.

      Bei Nachrichtenmedien ist es eine andere Sache, weil die wirklich glauben, dass sie irgendwie die Realität abbilden (oder ein Best-of der Realität, wie kürzlich irgendwo treffend gelesen habe).

      Solange die Nachrichten nichts an ihrem Verständnis über Objektivität und Neutralität ändern, wird es mit dem konstruktiven Journalismus dort immer schwierig bleiben. Wer für nichts stehen will, will auch nichts fordern. (Okay, streng genommen, dürften sie dann auch keine Probleme sehen.)

    9. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 4 Jahren

      @Christoph Zensen Für mich wäre das "Interessenfundament" viel wichtiger und klarer. Werte sind meist was für Sonntagsreden ....🤔

    10. Christoph Zensen
      Christoph Zensen · vor 4 Jahren

      @Thomas Wahl Man könnte auch "Prioritäten" sagen. Jede Entscheidung *für* die eine Story ist ja gleichzeitig eine Entscheidung *gegen* tausende Andere.

      Um in diese Entscheidungen Transparenz hereinzubringen, braucht es meiner Meinung nach eine Referenz auf die gemeinsamen Grundsätze der Redaktion. (Wie das praktisch funktionieren soll, ist mir aber gar nicht klar).

      Ich weiß nur: Diese Grundsätze existieren ja irgendwie implizit in den gemeinsamen Vorstellungen des Redaktionsteams. Aber ich kenne keine Redaktion, die sich die Mühe macht, die Strukturen ihrer eigenen Entscheidungsprozesse zu reflektieren und explizit aufzuschreiben.

    11. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 4 Jahren

      @Christoph Zensen Ja, ok. Das kann ich nachvollziehen....

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