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Literatur

Mein kleiner Buchladen – fiktive Künstlerbiografien: Die gleissende Welt

Mein kleiner Buchladen – fiktive Künstlerbiografien: Die gleissende Welt

Anne Hahn
Autorin und Subkulturforscherin
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Anne HahnSonntag, 03.11.2019

„Ich wollte fliegen, wissen Sie, und auch Feuer speien. Das waren meine innigsten Wünsche, aber es war verboten, oder ich hatte das Gefühl, es wäre verboten. Es hat sehr, sehr lange gedauert, bis ich mir selbst die Erlaubnis erteilte, zu fliegen und Feuer zu speien.“

Dieses Buch ist wie ein Haus. Ich bin hineingeklettert und habe noch lange nicht wieder herausgefunden. Vor einigen Wochen lag der fette Brocken mit seinem roten Cover aus abgerissenen Tapetenstücken in einer Bücherkiste. Siri Hustvedts „Die gleissende Welt“ erschien 2015 bei Rowohlt, wieder sprachgewaltig aus dem Englischen von Uli Aumüller übertragen. Es ist eine bezaubernde Konstruktion auf mannigfachen Ebenen, ein Spiel mit Identitäten und Geschlechtern, ein Blick auf New York, die amerikanische Kunstszene und in die Kunst-, Geistes- und Kulturgeschichte der letzten Jahrhunderte. Die vordergründige Rahmenhandlung erzählt die fiktive Biografie der Künstlerin Harriet Harry Burden, welche nach dem traumatischen Verlust ihres Mannes drei jüngeren Kollegen ihre Kunstwerke „unterschiebt“. Über Jahre hinweg stellen diese nacheinander ihre Werke aus und haben Erfolg damit, bis der dritte und berühmteste unter ihnen den Spieß umdreht und anfängt, mit Harry zu spielen.

In völlig verschiedenen Textsorten: als Tagebuchnotizen, in Interviewform, als schriftliche Erklärung, Gedicht oder Brief verfasst, äußern sich zu diesem Geschehen und ihrem Leben – Harry selbst, ihre Tochter, ihr Sohn, ihr Liebhaber, ihre beste Freundin, ihre „Masken“-Künstler, Kunstkritiker, Galeristinnen, ein wetterfühliger Mitbewohner und eine zauberhaft esoterische Wegbegleiterin.

„Ich lernte Harry in einem vollgesudelten, an den Ecken umgeknickten, an den Rändern bekritzelten, fleckigen und eingerissenen Kapitel meines Lebens kennen.“ – der Liebhaber und Lebensgefährte ihrer letzten Jahre

„Jeden Tag arbeitete sie lange in ihrem Atelier, und danach las sie noch zwei, drei Stunden, ein Buch nach dem anderen, Romane, Philosophie, Kunst und Wissenschaft. Sie führte Tagebuch und Notizbücher. Sie kaufte sich einen dieser großen, schweren Boxsäcke und engagierte eine Frau namens Wanda, ihr Boxunterricht zu geben. Manchmal fühlte ich mich schon schlaff, wenn ich sie bloß ansah.“ – die Tochter Maisie

„Sie sah aus wie eine Comicfigur, dicke Brüste und Hüften, gigantisch – 1,95 vielleicht –, eine stampfende Braut von der Größe eines Basketballspielers mit langen, muskulösen Armen und Riesenhänden…“ – der Kunstkritiker

„… Frankenstein wurde Harriets ureigenes Buch, eine Fabel über das Selbst, ein Manuskript für Harry Burdens Realität … Die Person, die sie interessierte, war das Monster, und sie pflegte lange Passagen aus seinen Kapiteln auswendig zu zitieren …“ – die Freundin

„Bis zuletzt hast du dich nie gelangweilt, außer wenn du am Flughafen auf Koffer warten musstest.“ – der Sohn

Ein Wissenschaftler fungiert als Herausgeber der ganzen Sammlung zu Harrys Leben und Werk, ohne Wertungen vorzunehmen. Wir kreieren mittels des Leseprozesses ein Bild, eine Vorstellung von Harriet Burden. Ihre Notizbücher, verschiedenen Buchstaben zugeordnet, enthalten die eigentliche Erzählung der Künstlerin. Die Lektüren, Fragen, Zweifel und Freuden. Bei aller Tiefenschärfe der angerissenen philosophischen und neurowissenschaftlichen Diskurse und mit Anmerkungen angereicherten Verweise springt die genial konstruierte Handlung unvermittelt ins Zwischenmenschliche. Da sitzt die erwachsene Tochter in Harrys Küche und beklagt sich, dass die Mutter den Bruder ihr vorgezogen hätte, damals, festgemacht an einem Erlebnis der Kindheit. Harry breitet ihre Riesenarme aus, nimmt die Tochter auf den Schoß, schaukelt und drückt sie wie ein Kind, flüstert in ihr Haar: "Mein Gott, wie ich dich liebe!"

Die Kunstwerke Harriet Burdens sind temperierte Figuren, Räume, Schachteln und Häuser. Statuen, Skulpturen und Puppen, durch Elektroden erwärmte und bekleidete Tonkörper, Penisse, Masken. Sie alle verkörpern für mich die Balance zwischen Verführen und Verglühen – eine postfeministische, feuerspeiende Trauerarbeit am Menschen, die ich als Burdens Hauptthema ausmachte. Ihre Erfinderin Hustvedt liefert uns die Kunst Burdens, ihre Rezeption und Hintergründe häppchenweise und mittels verschiedener Erzählstimmen – spielerisch bis in die Fußnoten hinein. Die Bezüge und Vorbilder Burdens reichen von Margaret Cavendish, einer Naturphilosophin und erster Sciene-Fiction-Autorin aus dem 17. Jahrhundert, bis zu "Siri Hustvedt, einer obskuren Schriftstellerin und Essayistin, deren Position Burden mit einem 'beweglichen Ziel' vergleicht."

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